POLANYI FOR YOUTH

Warum ist die Banane krumm? [ What Do Scientists Do?] Süddeutsche Zeitung Magazin, 6 (February 9, 2001).

Ich weiß gar nicht mehr genau, weshalb ich schon als Kind so interessiert an Wissenschaft war. Vielleicht weil ich immer gern Fragen gestellt habe. Jedes kleine Kind fragt hundertmal am Tag: "Warum?" Die Neugierde ist den Menschen genauso angeboren wie den Tie-ren. Babys sind neugierig, Hunde und Katzen sind neugierig. Wir alle finden es spannend, in verschlossene Kartons oder unter Steine zu schauen, um herauszufinden, was dort verborgen ist. Es muss nur eine Tür knarren und sofort geht das Rätselraten los: Wer mag da kommen? Unsere Mutter? Unser Bruder? Jeder Mensch hat permanent den Wunsch nach Erklärungen. Wir Wissenschaftler sagen nicht Erklärung, wir sagen "Theorie".

Aber warum sind wir so? Warum wollen wir immer einen Grund wissen, warum brauchen wir für alles eine Theorie? Schon der Grieche Sokrates, ein Vorbild für jeden Wis-senschaftler, antwortete vor fast 3000 Jahren auf die Frage, warum er Philosoph geworden sei, er müsse einfach "sich selbst und alle anderen erforschen", sonst hätte sein Leben keinen Sinn.

Zunächst empfindet jeder die Wirklichkeit um sich herum als Durcheinander verschie-dener Eindrücke wie Sonnenlicht, Wärme, das Rauschen des Windes in den Bäumen. Solange wir auf der Welt sind, überlegen wir Menschen uns Geschichten, um diese Bilder und Empfindungen, die scheinbar gar nichts miteinander zu tun haben, in eine Ordnung zu bringen. Die Sorte Geschichten, die wir Naturwissenschaftler erzählen, ist nur eine von vielen - andere erzählen sie in Form von Märchen, Theaterstücken, Romanen oder Ge-dichten. In unseren Forschergeschichten geht es oft darum, wie eine Sache ganz überraschend mit einer ganz anderen zusammenhängt. Dafür ein Beispiel: Ohne die wärmenden Strahlen der Sonne würde der kühlende Wind nicht wehen. Und: Ohne Sonne und Wind hätten die grünen Blätter und die Bäume keine Kraft zum Leben.

Ist es also das, was ein Naturwissenschaftler tut? Den lieben langen Tag Geschichten erzählen und nach einem Zusammenhang für all die Dinge suchen, die wir täglich erleben? Im Grunde ja, aber mit unserer Arbeit sind noch ein paar andere Punkte verbunden, die genauso wichtig sind und die mir großen Spaß machen.

Warum genau mir meine Arbeit so viel Spaß macht? Weil magische Kräfte damit verbunden sind, die uns Forscher immer wieder anspornen, Fantastisches zu leisten. Ich will damit nicht sagen, dass wir zaubern können, denn auch unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Das erinnert mich an den Brief einer schwedischen Schulgruppe, den ich kurz nach der Verleihung des Chemie-Nobelpreises bekam: "Lieber Herr Professor, herzliche Glückwünsche zu Ihrem Preis. Wir sind Schüler eines Chemiekurses und hätten eine Bitte: Könnten Sie nicht vorbeikommen und unsere Schule in die Luft jagen?" Für diese Kinder war ich ein Zauberer geworden, der ihnen die Langeweile vertreiben sollte, indem er ihre Schule sprengt.

Aber eigentlich meine ich etwas anderes, wenn ich von der Magie der Wissenschaft spreche: die Magie der Zahlen. Wissenschaft beschäftigt sich mit Dingen, die man irgendwie zählen oder ausrechnen kann. Wenn ein Wissenschaftler zum Beispiel eine Beschreibung deiner Person abgeben sollte, würde er nicht sagen, dass du hübsch bist oder ehrlich, sondern dass du vielleicht 1,50 Meter groß bist und 45 Kilo wiegst.

Jetzt ahnst du vielleicht, warum die schwedischen Kinder unbedingt wollten, dass ich ihre Schule in die Luft sprenge: Unsere Art, einen Menschen zu beschreiben, ist furchtbar langweilig. Aber sie hat den Vorteil, dass sie bestimmte Geschichten erst möglich macht, die sonst nie erzählt werden könnten. Zum Beispiel gibt es eine Methode, die wir Arithmetik nennen, mit der wir zwar nichts über das Aussehen deiner Klassenkameraden sagen können, aber dafür wissen wir, wie groß und wie schwer ihr alle im Durchschnitt seid. Du siehst: Auf der einen Seite schränken uns die Zahlen ein - über dein ansteckendes Lachen zum Beispiel könnte ich mit noch so vielen Zahlen gar nichts sagen. Auf der anderen Seite vergrößern sie die Genauigkeit unserer Aussagen. Wir Naturwissenschaftler sagen nicht: "Mein Vater hat riesige Füße", sondern: "Mein Vater hat Schuhgröße 52."

Oder nehmen wir Albert Einstein. Wenn Einstein nur gesagt hätte, dass das, was wir Masse nennen (wie schwer etwas ist), im Zusammenhang mit etwas anderem steht, das wir Energie nennen (ein Name für Bewegung), dann hört sich das zwar ganz schön an, aber richtig viel anfangen könnte damit niemand etwas. Dadurch aber, dass Einstein uns vorgerechnet hat, dass eine ganz bestimmte kleine Masse eine ganz bestimmte irrsinnige Menge Energie produzieren kann, sagte er etwas, das wir verstehen konnten. Vielleicht hast du ja schon mal irgendwo von der berühmten Relativitätstheorie gehört? Genau von der spreche ich. Einsteins Theorie stimmte so hundertprozentig, dass in ganz kurzer Zeit viele, viele Wissenschaftler mit seiner Rechnung arbeiten konnten. Das veränderte die Welt.

Als Erstes brachte uns die Relativitätstheorie eine neue Methode, Sachen in die Luft zu jagen: Wissenschaftler entwickelten die Atombombe. Forschung kann also durchaus schlimme Folgen haben - ich komme später noch einmal darauf zurück. Derselbe Trick zeigte uns auch den Weg, mit ganz wenig Uran zu riesigen Mengen Strom zu kommen. Für unseren Alltag bedeutete das eine enorme Erleichterung. Und dann doch wieder eine Gefahr, weil auch Atomkraftwerke explodieren können, so wie das in Tschernobyl. Aber irgendwann werden wir es schaffen, aus ein paar einzelnen Wassertropfen viel größere Energiemengen zu gewinnen - mit viel weniger Gefahr. Noch arbeiten Wissenschaftler daran, eine Maschine zu entwickeln, die das kann, einen Fusionsreaktor, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie es schaffen.

Wenn wir davon sprechen, dass Wissen-schaft manchmal gefährlich sein kann, müssen wir auch darüber nachdenken, was wir gegen die Gefahr tun können, wie wir sicher- stellen, dass durch unsere Arbeit nichts Schlimmes passiert. Ich sagte ja bereits, dass wir Wissenschaftler von manchen Menschen für Zauberer gehalten werden. Und man kann sich schon vorstellen, dass wir ähnlich wie der Zauberer im Märchen unsere eigene Zauberei nicht mehr stoppen können.

Normalerweise sagt uns Wissenschaft etwas über die Natur: Warum ist der Mond mal viertel, mal halb, mal voll? Warum fallen die Einwohner Australiens, die auf der Unterseite der Erde leben, nicht runter? Warum wird niemand zehn Meter groß? Die Antworten, die wir auf solche Fragen finden, sind oft so schlau, dass sie uns zu neuen, schlaueren Fragen und noch schlaueren Antworten führen. Wenn wir also über die Kontrolle von Wissenschaft sprechen, dann geht es nicht darum, die Forschungen zu stoppen, sondern nur darum, was du und ich mit unserem neuen Wissen machen. Nutzen wir Einsteins Erkenntnis, dass man Masse in Energie umwandeln kann, um Atombomben zu bauen und damit Menschen umzubringen? Oder nutzen wir dieses Wissen, um den Menschen das Leben leichter zu machen? Die Entscheidung darüber fällt nicht nur der Wissenschaftler, sondern die ganze Gesellschaft, die Politiker, die Wähler, alle. Na ja, außer den Kindern natürlich, weil die noch lernen müssen, wie die Welt funktioniert, bevor sie entscheiden dürfen, was daran anders werden soll.

Wissenschaftler können helfen, den Kindern und allen anderen die Welt zu erklären und sie zu verbessern. Seit Hunderten von Jahren ist ihnen die Entdeckung der Wahrheit wichtiger als die Frage, wer sie entdeckt. Das heißt nicht, dass Wissenschaftler nicht miteinander streiten würden - sie streiten wie verrückt. Jeder möchte der Nächste sein, der den Nobelpreis gewinnt. Umso interessanter ist es, dass keiner von uns sein Wissen für sich behält: Alle teilen es und unterstützen sich gegenseitig, egal, aus welchem Land sie kommen oder an welchen Gott sie glauben. Die internationale Gemeinschaft aller Forscher ist etwas Wunderbares, und es ist für mich eine große Ehre, dazuzugehören.

Aber bezahlt werde ich dafür, dass ich etwas erforsche. Auch wenn es manchmal so aussieht, als ob ich spiele. Mein neuestes Spielzeug zum Beispiel ist eine Maschine, mit der ich Moleküle kitzeln kann. Ich ziele mit einem Laserstrahl auf das Molekül, eine fest verbundene Gruppe von Atomen, und kann dabei zusehen, wie sie reagieren: Ein Atom nach dem anderen löst sich aus dem Haufen und bildet neue Moleküle. Dummerweise hat mich dieses Spielzeug schon ziemlich viel Nerven gekostet, denn an den meisten Tagen funktioniert es überhaupt nicht! Ziemlich ärgerlich, zumal von mir verlangt wird, dass ich immer wieder etwas Neues entdecke, wenn ich weiter Forscher sein will - und das will ich unbedingt!

Du kannst dir also vorstellen, wie begeis-tert ich war, als diese blöde Maschine endlich tat, was sie sollte, und meine Studenten und ich eines Tages einen Blick auf etwas werfen konnten, das bisher noch kein Mensch gesehen hatte. Für einen kurzen Moment ahnten wir, welche Riesenfreude, aber auch, welche Erleichterung ein Entdecker wie Christoph Kolumbus gespürt haben muss, als er nach monatelanger Reise über das Meer plötzlich wieder Land sah. In dem Moment, als er schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, entdeckte er Amerika. Als wir unsere Moleküle auseinander- und wieder zusammengebastelt hatten, fühlten wir uns wie er.

Vielleicht fragst du dich nun, wie man es am besten anstellt, Forscher zu werden. Das Wichtigste: Du musst es ganz stark wollen! Die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Talenten werden Wissenschaftler, aber in einem sind alle gleich: Sie forschen mit großer Leidenschaft, mit aller Kraft, die sie haben.

Falls du nun Angst hast, dass diese Wissenschaftler vor lauter Begeisterung in den nächsten Jahren alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und am Ende nichts mehr für dich übrig bleibt, kann ich dich beruhigen: Das, was wir heute wissen, ist nur ein win- ziger Teil von dem, was wir herausfinden müssen. In den Zellkernen von Menschen, Tieren und Pflanzen, im Inneren des Atoms und am Rand des Universums liegen viele neue Welten, die auf ihren Entdecker warten. Vielleicht bist das ja du?

John C. Polanyi, 72, bekam 1986 den Nobelpreis für Chemie für die Erforschung der Dynamik chemischer Reaktionen. Er lehrt an der Universität von Toronto in Kanada. Zuletzt erschienen in dieser Serie (Heft 49): der Dalai Lama, Was ist Liebe ?

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