Dostoevsky Studies     Volume 1, 1980

ZUR MODERNITÄT DES DOSTOEVSKIJSCHEN ROMANTYPUS

Michael Wegner, Jena

Spricht man von der andauernden Wirkung und Gegenwärtigkeit Dostoevskijs, so ist davon auszugehen, daß Dostoevskijs Einfluß auf die Literatur des 20. Jahrhunderts dem ganzen Reichtum seines erzählerischen Werkes verpflichtet ist. In den geistigen und literarischen Bewegungen unseres Jahrhunderts wirkte und wirkt Dostoevskij in der ideell-künstlerischen Einheit seines poetischen Werkes. Schließlich war Dostoevskij ein Schriftsteller, ein Erzähler, der Verfasser von weltberühmten Romanen, und es ist gerade an diesen selbstverständlichen Umstand zu erinnern, weil man angesichts bestimmter ideologiebestimmter Dostoevskij-Deutungen in unseren Tagen mitunter den Eindruck gewinnt, der russische Autor habe keine Romane geschrieben, sondern weltanschauliche Anweisungen zur Lösung weltanschaulicher Probleme gegeben. Fragt man also nach der Rolle Dostoevskijs in den geistigen Prozessen in unserem Jahrhundert, so ist die Erforschung des aktiven Anteils von Dostoevskijs Poetik an der Entwicklung der modernen Erzählprosa unserer Zeit unumgänglich. Das ausgeprägte Interesse vieler ausländischer Romanciers an Dostoevskij wäre deshalb unbedingt auf die künstlerische Eigenart der Epik Dostoevskijs zu beziehen. Wie bereits vorliegende Untersuchungen zeigen, gingen und gehen gerade von der ästhetischen Struktur des Werkes Dostoevskijs starke Impulse auf die literarische Entwicklung in der ganzen Welt aus.1

Von Andre Malraux stammt aus dem Anfang der 70er Jahre ein Gedanke, der in gattungstheoretischer Hinsicht den immensen Einfluß Dostoevskijs auf das Romangenre aufzuhellen vermag und der nicht allein für die Romanentwicklung in Frankreich belangvoll sein dürfte. Malraux sieht die innovatorische Leistung Dostoevskijs vornehmlich darin, daß dieser Autor traditionelle, althergebrachte Romanstrukturen "gesprengt", daß Dostoevskij klassische Romanmodelle "aufgehoben" habe. Darin läge, so Malraux, die ästhetische Sprengkraft der Romane Dostoevskijs, und die künstlerische Eigenart der erzählerischen Werke Dostoevskijs enthalte einen wesentlichen Grund für die tiefgreifende Wirkung Dostoevskijs in der modernen Literatur.2 Uns scheint, daß Malraux damit einen höchst bedeutsamen Faktor in der weltweiten Wirkung Dostoevskijs genannt hat: Dostoevskij als Neuerer der Romanform.

In der Tat hat Dostoevskij eine neue, moderne Erzählprosa konstituiert. Eben in dieser Funktion bewahrte und verstärkte er seinen Einfluß auf die Entwicklung der modernen Romanliteratur. Als Dostoevskij in den 60er-80er Jahren des vorigen Jahrhunderts seine großen Romane schrieb,

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so konzipierte er diese in bewußter Opposition zur zeitgenössischen sozialen Literatur, der er vorwarf, sie habe ein unzureichend aktives Verhältnis zum Leben, sie enthalte zu wenig Subjektivität; sie stelle lediglich soziale Kollisionen dar, anstatt nach einer Lösung der dargestellten Konflikte zu streben. Diese polemische Position bestimmte weitgehend das Dostoevskijsche Konzept des Figurenaufbaus im epischen Werk. Wenn auch dieser polemische Ausgangspunkt Dostoevskijs zu Verlusten im eigenen Schaffungsprozeß führte, insofern Dostoevskij die Rolle der Persönlichkeit unter einmal vorhandenen objektiven Bedingungen idealistisch-metaphysisch überhöhte, ging dieser polemische Ansatz andererseits mit einem gewaltigen künstlerischen Gewinn einher. Dieser Gewinn manifestierte sich hauptsächlich in vielen Gestalten der Dostoevskijschen Werke. Das künstlerische Resultat dieser überzogenen Position waren nämlich Menschen voller innerer Unruhe, Menschen unerhörter geistiger Aktivität und unentwegten moralischen Suchens, Typen mit einem gewaltigen Überschuß an geistigen Kräften, mit einem Übermaß an psychischer Kompliziertheit. Bei der dichterischen Gestaltung dieser Menschen interessierte Dostoevskij vor allem der vielschichtige, widerspruchsvolle Prozeß der geistigen und seelischen Umwälzungen, die "seelische Technologie" dieses höchst beschwerlichen Aufbruchs des Individuums zum harmonischen und sittliche Menschen. Zu dieser Aufgabe bekannte sich Dostoevskij im vollen Bewußtsein der unerhörten Schwierigkeiten, die mit ihrer Bewältigung verbunden sind. In seiner Rezension von L. N. Tolstojs "Anna Karenina" im "Dnevnik pisatelja za 1877 god" wies Dostoevskij ausdrücklich darauf hin .3

Dostoevskijs Darstellung der bis zur äußersten Expressivität gesteigerten, mitunter phantastischen Formen annehmenden Bewußtseinswelt des Individuums, der Wege und Irrwege, die das gespaltene Bewußtsein einschlägt, deren Träger oft genug in tragische Kollisionen geraten und scheitern -die dichterische Bewältigung dieser Aufgabe verlangte neue erzählerische Prinzipien und ein wesentlich erweitertes künstlerisches Instrumentarium. Zahlreiche Innovationen des Dostoevskijschen Erzählens erwuchsen so aus dem neuen künstlerischen Gegenstand, der das schriftstellerische Interesse Dostoevskijs stark beanspruchte. Das gilt im vollen Umfang für den Typ, für die Struktur der Dostoevskijschen Romane.

Die Dostoevskij-Forschung verdankt den langjährigen romantheoretischen Untersuchungen Mikhail Bakhtins tiefe Einsichten in die künstlerische Eigenart der Dostoevskijschen Epik.

Was man auch Kritisches zum Bakhtinschen Dostoevskij-Bild vorzubringen vermag, es bleibt bei dem fundamentalen Rang der meisten Bakhtinschen Auffassungen, die dieser über Dostoevskij in seiner Arbeit "Problemy poetiki Dostoevskogo" (1929, 1963) und im Konspekt "Plan dorabotki knigi 'Problemy poetiki Dostoevskogo' " (1976) niedergelegt hat.4 So berechtigt bestimmte kritische Einwände gegen einzelne Seiten des Dostoevskij-Verständnisses von Bakhtin auch sein mögen - z. B. die ungenügende Verdeutlichung der eigenständigen Autorenpositon Dostoevskijs in der poetischen Welt seiner epischen Werke, die unzureichend aufgedeckten

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Beziehungen Dostoevskijs zur vorhergehenden und zeitgenössischen Literatur in Rußland, die zu schroffe Gegenüberstellung Dostoevskijs mit anderen bedeutenden Erzählern seiner Epoche u. a. m. - alles das schmälert nicht die originelle literaturwissenschaftliche Leistung, die Mikhail Bakhtin in die Erforschung der künstlerischen Eigenart der Dostoevskijschen Epik eingebracht hat. Das ist übrigens auch der Grundton der wissenschaftlichen Streitgespräche über Bakhtins literatur- und romantheoretische Auffassungen, die seit dem Erscheinen der neubearbeiteten Auflage des Bakhtinschen Buches "Problemy poetiki Dostoevskogo" (1963) und der nachfolgenden Studien Bakhtins stattgefunden haben.

Es bleibt der Verdienst Bakhtins, in subtilen Untersuchungen gezeigt zu haben, daß die Konstituierung der epischen Welt Dostoevskijs nach künstlerisch neuen Erzählprinzipien erfolgte, nach erzählerischen Prinzipien, die besonders signifikant auf neue Möglichkeiten des Erzählens aufmerksam machten. Bakhtin verdeutlichte die einzigartige Stellung Dostoevskijs in der Entwicklungsgeschichte des europäischen Romans. Er verwies bekanntlich darauf, daß Dostoevkij - die 'dialogische Linie' in der Entwicklung der europäischen Prosa fortsetzend - die Stellung des Autors innerhalb des Erzählvorganges veränderte. Er verzichtete auf die epische Allwissenheit des Autors und damit auf die monologische, einheitliche Welt des Autorenbewußtseins, die den europäischen Roman vor Dostoevskij und den zeitgenössischen Roman auszeichnet. Wie Bakhtin im einzelnen gezeigt hat, siedelte Dostoevskij den Autor-Erzähler im Blickfeld seiner literarischen Helden an und machte damit die begrenzte, abgeschlossene Wirklichkeit der Helden zum Material seiner Selbsterkenntnis. Was bisher der Autor tat, tut nunmehr der Held, der Autor beleuchtet nicht mehr in alles überschauender Weise die Wirklichkeit des Helden, sondern seine Selbsterkenntnis; er tritt gewissermaßen neben den Helden. Das Autorenbewußtsein wird so - namentlich in den späten Werken Dostoevskijs - zu einem Teil, zu einem Element des Ganzen, die Stimme des Autors wird zu einer Einzelstimme in der "polyphonen" vielstimmigen Welt der Dostoevskijschen Romane, zu einer höchst bedeutsamen Einzelstimme freilich, die durch dialogische Beziehungen mit anderen Stimmen verbunden sind.

Bekanntlich hat Bakhtin die so strukturierten Romane Dostoevskijs als "polyphone Romane" bezeichnet, wie überhaupt für ihn die innovatorische Leistung Dostoevskijs in der Schaffung des "polyphonen" Romantypus bestand. Dieser neue Romantyp, der vielstimmige ("polyphone") Roman, der im Ergebnis des von Dostoevskij praktizierten polyphonen Prinzips des künstlerischen Denkens zustande kam, implizierte eine Erneuerung und Bereicherung der Form des Romans, und zwar in der ganzen Amplitude seiner strukturellen Elemente, von den Figuren und der Komposition bis zum dichterischen Wort.

Nun ist die präzise genretyplogische Bestimmung der Romane Dostoevskij nach wie vor ein aktuelles Diskussionsproblem. Bereits in der frühen Dostoevskij-Forschung wurde mit Recht auf die starke dramatische Schicht der Dostoevskijschen Epik hingewiesen, auf eine wichtige künstle-

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rische Eigenart der Dostoevskijschen Romane, die übrigens auch den Dramen Friedrich Schillers verpflichtet sein dürfte. Daraus wird von manchen namhaften Dostoevskij-Forschern der Schluß abgeleitet, der Roman Dostoevskijs verkörperte den Typus der "roman-tragedija", eine Auffassung, die am entschiedensten von V. Ja. Kirpotin und G. M. Fridlender verfochten wird5 , die sich in ihrer Argumentation bereits auf die Dostoevskij-Studien von Vjacheslav Ivanov aus dem Jahre 1916 stützen können.6 Diese Position hinsichtlich der Bestimmung der wichtigsten genrespezifischen Eigenart der Romane Dostoevskijs vermag uns allerdings nicht hinreichend zu überzeugen. Die stark dialogische Anlage mancher Romane Dostoevskijs und auch manche andere dramatische Strukturelemente in den Werken Dostoevskijs sind noch kein schlüssiger Beweis für die Zugehörigkeit der Dostoevskijschen Romane als Ganzes zum Typus der "roman-tragedija". Die entscheidenden Gegenargumente liefern aus unserer Sicht gerade die späten Romane Dostoevskijs. Uns scheint, daß Bakhtin zurecht darauf verweist, daß in den für Dostoevskij charakteristischen Romanen der echte dramatische Dialog lediglich eine zweitrangige Rolle spielt und innerhalb der neuen Romanstrukturen nur diese zweitrangige Rolle spielen kann; er erhält keine genrekonstituierende Bedeutung. Zum Wesen des Dramatischen gehört, daß sich dialogische Oppositionen im Verlauf dramatischer Handlungen lösen.

Eine wirkliche "Vielstimmigkeit", die aber die epische Welt der Dostoevskijschen Romane auszeichnet, eine "Vielstimmigkeit", bei der vom Autor-Erzähler ein Optimum an Standpunkten und praktischen Verhaltensweisen, ein Maximum an "pro" und "contra" vorgeführt wird, ohne daß sich die Oppositionen und Kontradiktionen auflösen, ohne daß sich der Autor mit irgendeiner dieser "Stimmen" im Roman identifiziert - eine solche "Vielstimmigkeit" würde hingegen das Drama in seiner genrespezifischen Eigenart zerstören. Von seiner strukturellen Grundlage her vermag also das dramatische Genre, das - um in der Terminologie Bakhtins zu bleiben - monologisch, als eine Ganzheit des Autorenbewußtseins konzipiert und das andere Bewußtsein als Objekt in sich aufnehmen will, keine künstlerische Lösungen anzubieten, in die sie diese "Vielstimmigkeit" integrieren könnte, damit sich diese entsprechend den Strukturgesetzen des dramatischen Genres inhaltlich voll entfalten kann. Aus diesen Gründen überzeugt nicht die Definition des Dostoevskijschen Romans als "roman-tragedija" im Sinne seiner wichtigsten strukturbestimmenden Eigenart (und nur um dieses genretheoretische Problem geht es hier). Die Bestimmung des Dostoevskijschen Romantypus mit Hilfe des Begriffes "roman-tragedija", gewissermaßen einer "Mischform" des Romans, hebt -wie uns scheint - die radikale Innovation, die Dostoevskij in der Geschichte des europäischen Romangenres herbeigeführt hat, ungenügend im Bewußtsein. Die Bakhtinsche These vom "polyphonen Roman" Dostoevskijs, die übrigens Lunacharskij schon 1929 anläßlich des Erscheinens von Bakhtins Buch "Problemy poetiki Dostoevskogo" als prinzipiell richtig anerkannte,7 verweist, so meinen wir, eindringlicher und überzeugender auf die genreinnovatorische Leistung Dostoevskijs, die selbstverständlich selbst in einer literarischen Tradition steht.

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Wie man auch immer zum Bakhtinschen Begriff des "polyphonen Romans" stehen mag - unzulässig ist in jedem Falle die Interpretation dieses Begriffes im engen formalästhetischen Sinne -, im Dostoevskijschen Roman manifestieren sich am deutlichsten die erzählerischen Neuerungen des Autors. Namentlich drei künstlerische Innovationen konstituieren hauptsächlich Dostoevskijs Erzählen.

Erstens. Dostoevskij realisiert ein neues Konzept der zentralen literarischen Gestalten. Die epischen Großformen Dostoevskijs zeigen markant das unvollendete, offene, unfertige, nicht abgeschlossene Wesen von Helden eines Romans. Wie bei seinem großen Zeitgenossen L. N. Tolstoj - wenngleich auch auf eine ganz unterschiedliche Weise - sind die Helden Dostoevskijs Sucher-Gestalten, Quester-Typen. Dostoevskijs zentrale Figuren befinden sich - wie auch die von Tolstoj - auf der nie unterbrochenen Suche nach der Wahrheit des Lebens und dem Sinn der menschlichen Existenz. Dostoevskij zielt - wie Tolstoj - auf das Allgemeine der Gattung Mensch, ohne es je als metaphysischen "Endpunkt" festzulegen. Doch während Tolstoj das Allgemeine vor allem im Ringen der Helden um solche sittliche Positionen zeigt, die sie in Übereinstimmung und Harmonie mit anderen Menschen und der Welt zu bringen vermögen, was wesentlich die komplizierte, lebendige und "natürliche" Ganzheit seiner Figuren bedingt, sind die wichtigsten Dostoevskijschen Figuren ganz anders strukturiert. Auch diese Gestalten gehen - aus einer radikalen ethischen Grundhaltung heraus - auf die Suche nach der Harmonie mit der Weit. Das Bedondere ihrer Suche ist, daß sie eine Idee philosophierend-meditierend immer tiefer umkreisen und prüfen. Sie spüren aber in diesem Prozeß unabweislich einen tiefen unüberbrückbaren Abgrund zwischen Subjekt und Welt, einen Riß zwischen Individuum und Gesellschaft, dessen sie sich in zunehmenden Maße bewußt werden. Daraus resultieren im Werk Dostoevskijs die "Konflikte der letzten Probleme"8, die namentlich in den Dialogen seiner großen Romane ausgetragen werden.

Zweitens. Dostoevskij ist derjenige Schriftsteller, der wohl erstmalig in der Geschichte der epischen Literatur die Idee als künstlerischen Gegenstand gestaltet. Dostoevskijs ausgeprägtes Interesse gilt der sich selbst entwickelnden Idee, der Idee in oft phantastischen Formen, der Idee, die mitunter die verschlungensten Wege einschlägt und ihre Träger in tragische Situationen bringt, da ihre Idee letztlich an der Realität des Lebens zerbricht - darin sieht Dostoevskij ein entscheidendes Anliegen seiner epischen Darstellungskunst. Dostoevskijs Darstellung der Idee folgt künstlerischen Intentionen, d. h. Dostoevskij bindet die Idee untrennbar an die Gestalten seiner Werke, die ihn freilich nicht primär als ganz bestimmte soziale und psychologische Typen interessieren, sondern als Träger von bestimmten Auffassungen, von Ideen, die allerdings keine abstrakten Gegebenheiten verkörpern, sondern sozialhistorisch konkret determiniert sind. Dabei ist es wesentlich - und das charakterisiert den Künstler Dostoevskij -, daß er die Idee im unauflösbaren Kontext menschlicher Ereignisse und Schicksale sinnfällig macht. Dostoevskij geht es nicht um die Vorstellung irgendwelcher

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abstrakter Ideen an sich, die als Teile möglicher philosophischer oder wissenschaftlicher Systeme in Erscheinung treten. Vielmehr stellen in seinen großen Erzählwerken die Ideen wesentliche Momente menschlichen Lebens dar, offenbart sich in ihnen menschliches Schicksal, erschließen sie bedeutsame Zusammenhänge des sozialen und geistigen Lebens der russischen Gesellschaft, denen oft menschheitsrepräsentative Bedeutung inne-wohnt. Literarische Gestalt und Idee bilden eine untrennbare Einheit. Was ein Romanheld ist, ist er durch die Idee, in der Idee manifestiert sich sein Wesen, seine geistige und psychologische Physiognomie; die Idee wiederum wird allein durch den Romanhelden und in ihm künstlerisch transparent.

Drittens. In Dostoevskijs epischen Werk erhält der Dialog eine genrebestimmende Bedeutung. Dostoevskijs späte Romane sind "dialogische Romane", sie haben eine ausgesprochene dialogische Struktur. Diese Romanstruktur erwächst aus der neuen dialogischen Anlage des Erzählvorganges, in dem die Ideen - die eigentliche Grundlage der dialogischen Struktur von Dostoevskijs Romanen - in einen "großen Dialog"9 zueinander in Beziehung treten. So stellt der Dialogismus Dostoevskijs eine besondere Form der wechselseitigen Beziehungen zwischen gleichberechtigten und gleichbedeutenden Bewußtseinsträgern dar. Das ist ein permanenter Dialog, der sowohl zwischen den Romangestalten als auch zwischen dem Autor und den zentralen Figuren seiner Werke auf gleichberechtigter Grundlage stattfindet. Das Optimum an Standpunkten, das der Autor-Erzähler im Prozeß der epischen Gestaltung vorführt, ergibt die polyphone epische Welt Dostoevskijs, in der der Autor mit Hilfe der ganzen "vielstimmigen" Struktur seines Romans nicht über den Romanhelden, sondern mit dem Romanhelden spricht und die so als ein offenes Ganzes künstlerisch organisiert wird.

Selbstverständlich hängen die genannten drei Innovationen Dostoevskijs aufs engste zusammen. In der epischen Welt Dostoevskijs bilden sie ein einheitliches Ganzes. Sie erwachsen sämtlich aus einer neuen, veränderten Weltsicht des Autors, der das "polyphone" Erzählprinzip adäquat ist. Dieses ist somit die konsequente Folge einer neuen romanhaften Aneignung der Welt.

Die künstlerischen Innovationen Dostoevskijs, die zur Konstituierung eines neuen Romantypus geführt haben, geben eine wesentliche Antwort darauf, was die tiefgreifende und anhaltende Wirksamkeit Dostoevskijs in den literarischen Prozessen im 20. Jahrhundert ausmacht. Dostoevskij antizipierte poetisch-geistig charakteristische Zustände und Entwicklungen des Individuums und der menschlichen Gesellschaft im 20. Jahrhundert und fand - in untrennbarem Zusammenhang damit - solche strukturbestimmende Erzählprinzipien, die in der nachfolgenden Geschichte des Romangenres immer stärker traditionelle epische Organisations- und Darstellungsweisen ablösten. In diesem Sinne kamen Dostoevskijs Romanmodelle gerade dem Suchen vieler Schriftsteller des 20. Jahrhunderts nach neuen Erzählstrukturen sehr entgegen. In einer grundlegend veränderten Welt im 20. Jahrhundert und bei einem veränderten Bewußtsein, das die Erzähler von der gewandelten sozialen Wirklichkeit, von der Stellung des Menschen

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und ihrer selbst besaßen, war und ist ein in vielem andersartiges Erzählen denkbar - in dieser Situation offenbaren die Romanstrukturen Dostoevskijs besonders augenfällig ihre poetische Kreativität. l0

Ganz fraglos dürfte ein wichtiges Moment der andauernden Wirkung und Gegenwärtigkeit Dostoevskijs in der besonderen Struktur von Dostoevskijs Epik liegen. Diese kam den erzählerischen Intentionen vieler Autoren in unserem Jahrhundert entgegen und wurde - wie die Wirkungsgeschichte Dostoevskijs im 20. Jahrhundert zeigt - stark beansprucht. Daß Dostoevskijs neuer Romantyp der künstlerischen Realisierung unterschiedlicher, mitunter gegensätzlicher Inhalte diente, hängt eben auch mit der Eigenart des Erzählens von Dostoevskij zusammen. Die Gründe für die Rezeption Dostoevskijs sind somit höchst mannigfaltiger Natur, und sie liegen eben auch im Bereich der poetischen Struktur des Dostoevskijschen Werkes. Treffend bemerkte hierzu schon seinerzeit Mikhail Bakhtin: "Der Künstler Dostoevskij wird von Menschen mit den verschiedensten Ideologien nachgeahmt, die seiner eigenen oft ausgesprochen feindlich gegenüberstehen: sein künstlerischer Wille, das von ihm geschaffene polyphone Prinzip des künstlerischen Denkens fasziniert sie."11

In der Tat, häufig wenden sich Schriftsteller von konträren weltanschaulich-ästhetischen Positionen Dostoevskij zu und rezipieren ihn, ohne seine geistige Haltung, ohne seine poetische Konfession zu teilen. So unterschiedliche Erzähler unseres Jahrhunderts wären hier zu nennen wie Thomas Mann, Anna Seghers, Kafka, Proust, Camus.12 Dieses schöpferische Verhältnis ganz unterschiedlicher Autoren zu Dostoevskij macht die höchst originelle Romanstruktur Dostoevskijs möglich. Sie erweist sich als so multivalent und praktikabel, daß sie als Ganzes oder in ihren einzelnen Komponenten in Anspruch genommen werden kann, um Probleme unserer historischen Epoche künstlerisch zu gestalten. So läßt der neue Romantyp Dostoevskijs auch von der künstlerischen Form her besser verstehen, weshalb Dostoevskijs äußerst widerspruchsvoller Realismus im historischen Verlauf seiner Rezeption im 20. Jahrhundert eine ebenso widerspruchsvolle Aufnahme gefunden hat.

ANMERKUNGEN

  1. V. Dneprov: Literatura i nravstvennyj opyt cheloveka. Razmyshlenija o sovremennoj zarubezhnoj literature, Leningrad 1970; ders.: Dosto evskij kak pisatei' dvadcatogo veka, in: Inostrannaja literatura (Mos- kva), H. 11, 1971, S. 156-176; T. Motyleva: O mirovom znachenii Dostoevskogo, in: Dostojanie sovremennogo realizma, Moskva 1973, S. 223-375; diess.: Tolstoj i Dostoevskij: ikh mirovoe znachenie, in: Jasnopoljanskij sbornik 1974. Tula 1974, S. 58-83; Dostoevskij v zarubezhnych literaturach, Leningrad 1978; G. M. Fridlender, Dosto evskij i mirovaja literatura, Moskva 1978.
  2. Wir und Dostoevskij. Eine Debatte mit Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Andre Malraux, Hans-Erich Nossack, geführt von Manes Sperber. Hamburg 1972, S. 88.

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  3. Vgl. F. M. Dostoevskij: Dnevnik pisatelja za 1877 god. Berlin 1922, S. 320.
  4. M. Bakhtin: Problemy tvorchestva Dostoevskogo, Moskva 1929; Problemy poetiki Dostoevskogo, Moskva 1963; Plan dorabotki knigi "Problemy poetiki Dostoevskogo", in: Kontekst 1976. Moskva 1977, S. 293-316.
  5. V. 3a. Kirpotin: Dostoevskij-Chudozhnik, Moskva 1972, S. 108ff; G. M. Fridlender: Dostoevskij i mirovaja literatura, Moskva 1979, S. 4-5.
  6. V. Ivanov: Dostoevskij i roman-tragedija, in: Borozdy i mezhi, Moskva 1916.
  7. A. V. Lunacharskij: Stat'i o literature, Moskva 1957, S. 272-298.
  8. M. M. Bakhtin: Plan dorabotki "Problemy poetiki Dostoevskogo", in: Kontekst 1976, Moskva 1977, S. 296.
  9. M. Bakhtin: Probleme Poetik Dostoevskijs, München 1971, S. 73.
  10. Vgl. D. Satonski: Der Roman und das 20. Jahrhundert, Berlin 1978.
  11. M. Bakhtin: Probleme der Poetik Dostoevskij, München 1971, S. 303.
  12. Dostoevskij v zarubezhnych literaturakh, Leningrad 1978; M. Wegner: Fjodor Dostojewski - und kein Ende. Zur Rezeption Dostojewskis in der neueren europäischen Romanliteratur des 20. Jahrhunderts. In: Erzählte Welt. Studien zur Epik des 20. Jahrhunderts. Berlin 1978, S. 9-35.
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