Dostoevsky Studies     Volume 1, 1980

SEMANTISIERUNG FORMALER ELEMENTE IM "IDIOT"

Rudolf Neuhäuser, Universität Klagenfurt

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die literaturwissenschaftliche Forschung unter dem Einfluß strukturaler Methoden verstärkt mit der Funktion formaler Komponenten des literarischen Textes befaßt. Diese Beschäftigung hat vor allem auf dem Gebiet der Versdichtung bedeutende Erkenntnisse gebracht. Wer immer heute Gedichte analysiert, kann nicht umhin, darauf zu rekurrieren. Von Roman Jakobsons "Ciosing Statement" von 1958, "Linguistics and Poetics", bis zu Jurij Lotmans "Analyse des poetischen Textes" von 1972, den Studien Etkinds und vieler anderer, haben theoretische wie praktisch-konkrete Analysen die Fruchtbarkeit dieses Zugangs bestätigt. Es kommt allerdings nicht von ungefähr, daß auf dem Gebiet der Prosa keine vergleichbaren Erfolge zu verzeichnen sind, ist doch die "... Prosa ungeachtet ihrer vermeintlichen Einfachheit und Nähe zur gewöhnlichen Rede ästhetisch komplexer als die Poesie und ihre Einfachheit sekundär." Die Sprache der Prosa hat sich - folgt man der Meinung Lotmans - erst nach der Entstehung der Versdichtung und in steter Bezugnahme auf sie entwickelt. Dies läßt sich anhand der Entwicklung der russischen Prosa bei Karamzin auch belegen.

Die Entwicklung der Dichtung seit dem 18. Jahrhundert hat gezeigt, daß die formalen Elemente wie Metrum, Reim, Rhythmus, Lautstruktur, Syntax etc., die anfänglich nur dazu dienten, den Vers als solchen zu markieren (vgl. Etkind 1978, Kap. l, S. 52-60), zunehmend semantisiert, d. h. zu Trägern des Inhalts werden. Eine analoge Entwicklung läßt sich meines Erachtens auch in der Prosa feststellen. Jedenfalls können wir erkennen, daß in der Prosa des Realismus bereits analog zur Dichtung formale Elemente inhaltliche Bedeutung übernehmen, oder, um mit Jakobson zu sprechen, auch in der Prosa die "poetische Funktion" den Text so organisiert, daß "das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination" projiziert wird." (Jakobson 1979, S. 94)

Prinzipiell können wir in der Prosa zwei Arten von Geordnetheiten unterscheiden, die zwei Instanzen des Erzählens entspringen: dem Erzähler und dem erzählten Geschehen. Dem Erzähler zugeordnet ist jene Geordnetheit, die dem Erzählstandpunkt und der Erzählperspektive entspringt. Dem erzählten Geschehen zugeordnet sind die graphische Gestaltung (als sichtbare Segmentierung des Textes), die im Text niedergelegten räumlichen und zeitlichen Koordinaten und das System der fiktiven Personen. Aus der Verknüpfung dieser Komponenten mit den Motiven der Handlung entspringen 'Ereignisse', die das Romangeschehen bestimmen. Hier sollen nur die dem erzählten Geschehen zugeordneten Geordnetheiten besprochen werden.

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Die Romanhandlung läßt sich nicht nur nach graphisch markierten Einheiten wie Teile, Kapitel und Abschnitte segmentieren, sondern ebenso entlang der Raum- und Zeitachse. In einem Text mit mehreren Handlungssträngen sind oft verschiedene Raum- und Zeitbereiche miteinander verknüpft. Räumliche und zeitliche Relationen sind manchmal willkürlich verzerrt. Solche Verzerrungen räumlicher Relationen finden sich bei Gogol, Verzerrungen des Zeitablaufs bei Dostoevskij. So wird es für die Analyse zweckmäßig sein, beide Dimensionen vorerst zu trennen und sie als "Raumgefüge" bzw. "Zeitgefüge" gesondert zu analysieren. Die Geordnetheit der Handlung auf der Raum- und Zeitebene ergibt wiederum eine Segmentierung des Handlungsablaufs, wobei diese Segmentierung in einer bestimmten Beziehung zu der graphisch vorgegebenen Segmentierung steht. Die fiktiven Gestalten des Textes sind im realistischen Roman vor allem in Familienverbänden zusammengefaßt, bilden aber ein untereinander vielfältiges, sei es durch Verwandtschaft, Freundschaft, Beruf bis hin zu den extremen Formen der Anziehung und Abstoßung - Haß und Liebe - verknüpftes Netzwerk von Bedeutungen, dessen vielfältige Konfigurationen von Parallelen, Oppositionen, Kontrasten und Spiegelungen bestimmt ist und als Personengefüge eine selbständige Bedeutung besitzt. Sobald die Personen in Raum und Zeit zu agieren beginnen, setzt ein Geschehen ein, das durch verschiedentlich akzentuierte Ereignisse bestimmt ist, wobei sich wiederum formale Parallelen oder Oppositionen ergeben. Dieses Ereignisgefüge verknüpft die Geordnetheit der Raum- und Zeitebene mit der Geordnetheit des Personengefüges und unterwirft das Material (den "Stoff") des Textes wie mit einem Raster einer vom Autor geschaffenen sinn- und bedeutungshaltigen Ordnung.

    In der vorliegenden Arbeit wird versucht, die Textstruktur "von außen" Schicht für Schicht bloßzulegen. Es werden unterschieden:
  1. Graphische Struktur;
  2. Handlungsstruktur: 1. Raumgefüge,  2. Zeitgefüge, 3. Personengefüge;
  3. Ereignisgefüge.
Die Strukturen dieser Schichten im formalen Aufbau des Textes bilden zusammen den Rahmen für die Entfaltung des (IV.) Bedeutungsgefüges (Sinngefüges), auf dem die Interpretation des Textes beruht.

I. Graphische Struktur und formale Elemente des Ereignisgefüges

Der Roman "Der Idiot" gliedert sich in vier Teile von annähernd gleicher Länge (die Länge eines Teils schwankt zwischen 10 und 16 Kapiteln). Die vier Teile beinhalten gewisse, weiter unten angeführte Gemeinsamkeiten.

Für das Verständnis der folgenden Analyse ist es wesentlich, daß folgende formale Elemente des Ereignisgefüges (III.), die sich in ihrer Funktion

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voneinander scheiden lassen, hier vorweggenommen werden. Dazu gehören Expositionen, "Konklaveszenen", "Skandalszenen", Exkurse, eingeschobene (selbständige) Erzählungen, ein Epilog.

Expositionen: Entsprechend den vier Teilen des Romans finden wir vier Expositionen (I, 1-8; II, 1-2; II, 11 - III, 1; IV, 1-4). In ihnen retardiert der Autor vorübergehend die Handlung, bringt ausgedehnte Rückblenden, referiert "Gerüchte" zur bestehenden Situation und bereitet die folgenden "Konklave-" und "Skandalszenen" vor. Bei genauer Betrachtung ergibt sich, daß eine 5. Exposition (IV, 9) unmittelbar vor den zu Rogozhins Mord an Nastasja Filippovna führenden Ereignisse eingeschoben ist.

Konklaveszenen: Darunter sollen jene für Dostoevskijs Romane typischen Massenszenen verstanden sein, die die Hauptpersonen an einem - meist geschlossenen - Ort vereinen und dramatische Höhepunkte im Erzählgeschehen darstellen. Insgesamt enthält der Roman fünf solcher Konklaveszenen, die sich folgendermaßen verteilen: Die erste Konklaveszene findet im Hause Nastasjas statt (I, 13-16). Ihr folgt im zweiten Teil eine Konklaveszene im Sommerhaus Lebedevs (II, 6-10). Dort spielt sich auch die dritte Konklaveszene ab (III, 4-7). Die vierte Konklaveszene spielt im Landhaus der Familie Epanchin (IV, 6-7). Der Roman endet mit einer "reduzierten" Konklaveszene, die die drei Hauptpersonen Rogozhin, Mysh-kin und Nastasja in Rogozhins Haus in St. Petersburg vereint (IV, 11).

Skandalszenen: Jede der fünf Konklaveszenen wird von einer Skandalszene begleitet. Die ersten drei Skandale und ebenso die letzte gehen unmittelbar der Konklaveszene voraus; der vierte Skandal folgt ihr. Sie verteilen sich wie folgt: 1. Skandal: Haus der Ivolgins (I, 9-10); 2. Skandal: Hotel "Waage" (II, 4); 3. Skandal: "Vauxhall" (III, 2); 4. Skandal: Wohnung Nastasjas (IV, 8); 5. Skandal: Pavlovsker Kirche (IV, 10).

"Skandalon" bedeutet ursprünglich "Ärgernis" oder "Anstoß". Die Skandale des Romans gehen von den Hauptpersonen Nastasja, Rogozhin und Myshkin aus, die mit ihrem Benehmen immer wieder in der Gesellschaft Anstoß erregen und Ärgernisse verursachen. Diese anstoßerregenden Ereignisse - Skandale - prägen das Erzählgeschehen.

Selbständige Erzählungen: Insgesamt lassen sich fünfzehn, teilweise nur kurze und anekdotische Texte unterscheiden, die sich über die ersten drei Teile des Romans verteilen. Ordnet man sie den Personen zu, die sie vortragen, dann ergibt sich folgendes Bild:

  1. Myshkins Geschichten: a) zwei anekdotische Geschichten von Hin richtungen (I, 2; 5); b) die Geschichte von Marie und den Kindern in der Schweiz (I, 6); c) vier anekdotische Erzählungen über die reli giösen Gefühle, bzw. deren Mangel bei den Russen (II, 4). Insgesamt erzählt Myshkin 7 Geschichten.
  2. Geschichten zum Thema "Die schlechteste Tat im Leben": a) Ferdy- shchenkos Geschichte; b) Tockijs Geschichte; c) Epanchins Geschichte (I, 14).
  3. Lebedevs Geschichten: a) die Geschichte vom mittelalterlichen Men-

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    schenfresser (II, 11); b) Interpretationen der Apokalypse (II, 2).

  4. Ippolits Geschichten: a) die "Notwendige Erklärung" (III, 5-8); b) die Geschichte vom armen Arzt (III, 6); die Geschichte vom alten General (III, 6).

Exkurse: In drei Exkursen spricht der Autor den Leser direkt an: Im ersten Exkurs spricht er vom Typ des "allwissenden Herrn" (= Lebedev; I, 1); im zweiten Exkurs vom Typ des "praktischen Menschen" (= der russische Beamte; III, 1); im dritten Exkurs ist die Rede vom Verhältnis des literarischen Typs zur Realität (IV, 1). Dostoevksij nimmt in ihm Stellung zu Vorwürfen, die in der Tagespresse, aber auch in Privatbriefen als Reaktion auf die Publikation der ersten beiden Teile des Romans an ihn gerichtet wurden.

Epilog: Ähnlich wie in "Schuld und Sühne" beschließt ein Epilog (IV, 12) den Roman. Er sprengt die räumlichen und zeitlichen Koordinaten der Romanhandlung. Dasselbe läßt sich vom ersten Kapitel (I, 1) sagen, das als "Prolog" gleichfalls die räumlichen Koordinaten des Romans sprengt.

Die oben angeführten formalen Strukturelemente des Romans ergeben folgendes Bild:

 

 

II. Handlungsstruktur

1. Raumgefüge

Das Geschehen im Roman ist zwei großen Schauplätzen zugeordnet: der Großstadt St. Petersburg (I, 2 bis II, 5; IV, 11) und dem ländlich vorstädtischen Pavlovsk, Sommerresidenz wohlhabender Großstädter (II, 6 bis IV, 10). Dadurch werden drei große Handlungsblöcke gebildet. Prolog (= 1. Exposition: I, 1) und Epilog (IV, 12) sind allerdings räumlich nicht genau festgelegt und stehen so außerhalb der drei Handlungsblöcke.

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Innerhalb der Dreiteilung entlang der Raumachse ist die Handlung wieder auf einige wenige Schauplätze beschränkt:

In St. Petersburg:

Haus der Epanchins,

Haus der Ivolgins,

Nastasja Filippovnas Wohnung,

Rogozhins Haus,

[Wohnung der Familie Terent'ev,"]

[Lebedevs Haus. ]

Siebzehn der insgesamt dreiundzwanzig Kapitel der beiden St. Petersburger Blöcke spielen in der angeführten Reihenfolge auf den ersten vier der oben genannten Schauplätze, wodurch sich wieder vier signifikante Textsegmente ergeben, zugleich wird die Rolle der mit diesen Plätzen verbundenen Personen hervorgehoben. Jeder Schauplatz ist einer der Hauptpersonen zugeordnet (Aglaja - Ganja - Nastasja - Rogozhin, -Ippolit - Lebedev ). Es ist bemerkenswert, daß sich ein Teil der Abfolge der Schauplätze zu Ende des ersten St. Petersburger Handlungsblocks am Ende des Romans wiederholt: Auf den Skandal im Hause Nastasjas folgt Myshkins Besuch im Haus Rogozhins. (I, 13-16 und II, 3-4; IV, 8 und IV, 11) Die Abfolge "Nastasja - Rogozhin", in die beide Male Myshkin verstrickt ist, - das erste Mal bietet er ihr seine Hand zur Ehe, das zweite Mal will er sie zum Traualtar führen, - hebt ein signifikantes, für die Bedeutungsstruktur des Werkes wesentliches inhaltliches Moment hervor.

In Pavlovsk: Einundzwanzig der insgesamt siebenundzwanzig in Pavlovsk spielenden Szenen finden an fünf Schauplätzen statt, wobei das Sommerhaus Lebedevs, in dem General Ivolgin und Myshkin logieren, mit dreizehn Kapiteln im Vordergrund steht. Die nächsthäufigen Schauplätze sind das Sommerhaus Epanchins im Schweizerstil und der idyllische Park mit dem "Vauxhall" (je 3-4 Kapitel). Es dominieren größere Handlungselemente, deren Schauplätze das Haus Lebedevs in Pavlovsk ist. In den übrigen Kapiteln des III. Teils wechselt der Schauplatz zwischen dem Landhaus der Epanchins und dem Park. Am Ende des Pavlovsker Blockes tritt die Sommerwohnung Nastasjas an Stelle des Parks. Die Assoziation des Landhauses der Epanchins mit der Schweizer Natur und die romantisch-idyllischen Züge des Parks deuten wieder auf inhaltliche Komponenten hin. Myshkin bewegt sich von einem Schauplatz zum anderen. Diese physische Bewegung läßt sich auch als Ausdruck einer inneren Situation verstehen. Es ist so bedeutsam, daß Nastasja, als sie in III, 10 den Fürsten trifft, gerade aus dem Park hervorkommt, wo sie mit Rogozhin auf ihn gewartet hat.

2. Das Zeitgefüge

Die Romanhandlung setzt am 27. November 18(67) ein und endet ca. 7 1/2 Monate später im ersten Drittel des Juli 18(68). Wie auch in anderen Romanen bedient sich Dostoevskij im "Idiot" dreierlei Formen der Zeit-darstellung. Es sind dies: a) die szenische Darstellung der Ereignisse eines Tages (bzw. eines Teils eines Tages); b) Der Bericht von Ereignissen, die an einem oder mehreren Tagen stattfinden unter

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Einschluß kurzer, szenischer (dialogisierter) Darstellungen; c) Resümees der bereits vergangenen Ereignisse eines längeren Zeitraumes, wobei oft bewußt Lücken gelassen werden, bzw. der Erzähler sich auf die Wiedergabe von "Gerüchten", "Andeutungen", "Hörensagen" beschränkt.

a) Im "Idiot" werden 8-9 Tage bzw. Teile von Tagen in szenischer Darstellung gebracht. Der Roman beginnt mit dem "1. Tag" (27. 11. '67), der sich über den gesamten I. Teil erstreckt. Ähnlich ausführlich ist auch der "3. Tag nach dem Skandal" geschildert (II, 12 - III, 7). Unmittelbar auf den "1. Tag", mit dem der I. Teil schließt, folgt ein 6 Monate dauerndes Intervall. Der II. Teil beinhaltet die szenische Darstellung zweier Tage, die durch ein dreitägiges Intervall voneinander getrennt sind. Im III. Teil folgt auf den "3. Tag nach dem Skandal" die drei Kapitel umfassende Schilderung eines weiteren Tages, der mit der Begegnung Myshkins und Aglajas im Park beginnt. Dieser Teil endet mit einer weiteren Begegnung: Nastasja kommt Myshkin aus dem Park entgegen, um ihm "Lebewohl" zu sagen. Dieses Handlungssegment, das von der Szenerie des idyllischen Parks umrahmt ist, wird auf der Zeitebene dadurch, daß es einen Tag umfaßt, als selbständige Einheit hervorgehoben. Es folgt darauf wie am Ende des I. Teils ein längeres Intervall (l Woche). Der II. Teil beinhaltet die szenische Darstellung zweier Tage, die durch ein dreitägiges Intervall voneinander getrennt sind. Im IV. Teil scheinen sich die Schwierigkeiten, die Dostoevskij mit dem Schlußteil des Romans hatte, in einer gewissen Verwirrung des Zeitgefüges niedergeschlagen zu haben. Auf einen in szenischer Darstellung geschilderten Tag, der aber von einer ausgedehnten Rückblende (IV, 2-4) geteilt wird, folgt ein weiterer Tag und darauf ein vierzehntägiges Intervall. Die letzte Exposition leitet darauf zu den letzten beiden Tagen (genauer: ein Abend, ein ganzer Tag und eine Nacht) über, die wieder in szenischer Darstellung dargeboten werden. Die Segmentierung des Romans auf der Raum- und Zeitebene ergibt folgendes Bild:

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Der durch die Segmentierung auf der Raum- und Zeitebene hervorgehobene mittlere Teil des Romans von II, l (Zeitebene) bzw. II, 6 (Raumebene) bis IV, 8 (Zeitebene) bzw. IV, 10 (Raumebene) hat als Thema die Liebe zwischen Myshkin und Aglaja. Er beginnt mit der zweiten Konklaveszene (II, 6), die Myshkins Gefühle für Aglaja und Nastasja zum Inhalt hat, und endet mit dem persönlichen Zusammentreffen der beiden Rivalinnen in. der Wohnung Nastasjas (IV, 8). Die Abgrenzung dieses thematisch einheitlichen Blockes fällt mit der räumlichen und zeitlichen Segmentierung zusammen. Dieser große Handlungsblock ist wieder in sich segmen-tiert. Auf die dritte Skandalszene (III,2) im "Vauxhali" folgen in zentraler Position das "Bekenntnis" Ippolits (III, 5-6) und drei weitere Kapitel, die denn komplexen Verhältnis zwischen Myshkin und den beiden weiblichen Hauptfiguren gewidmet sind. Damit schließt der dritte Teil. Ein Intervall von einer Woche betont den Einschnitt. Das letzte Teilsegment des mittleren Handlungsblockes beginnt in IV, l mit der Verlobung Myshkins und Aglajas. Parallel dazu wird enthüllt, daß auch Ippolit in sie verliebt ist. Aglaja beginnt wiederum mit Ganjas Gefühlen zu spielen. Es folgt eine ausgedehnte Rückblende als letzte Verzögerung der Handlung vor Eintritt m den Schlußteil. Mit dem Tod des "Lügengenerals" Ivolgin enden auch seine erfundenen Geschichten: die Stunde der Wahrheit scheint gekommen zu sein. Mit dem Heiratsantrag Myshkins ist der Höhepunkt in seinem Verhältnis zu Aglaja erreicht. Myshkins zwiespältiger Charakter offenbart sich m der k. Konklaveszene (IV, 6-7). Es folgt der Bruch mit Aglaja in der 4. Skandalszene (IV, 8).

b) Berichte finden sich vor allem in Expositionen, oder im einleitenden Teil von Kapiteln, deren restlicher Teil oft szenischen Darstellungen gewidmet ist.

c) Resümees folgen auf größere Zeitintervalle, die wichtige Einschnitte im Handlungsverlauf bedeuten. Im "Idiot" finden wir sie in II, 1-2 und in IV, 9-10. Die beiden ausgedehnten Resümees befinden sich an bedeut samen Stellen des Romans: Sie folgen jeweils auf ein längeres Intervall (die beiden längsten im Roman) und haben die Funktion einer Einleitung in den wichtigen mittleren bzw. den dritten und letzten Handlungsblock.

Setzt man Raum- und Zeitgefüge zueinander in Bezug, so ergeben sich zwei "Zonen der Überschneidung": II, 1-5 und IV, 9-10. Der Schauplatz bleibt jeweils unverändert, während auf der Zeitebene nach einem längeren Intervall bereits ein neues Handlungssegment beginnt. Beide Zonen der Überschneidung haben dieselben Funktionen (denen auch ähnliche inhaltliche Substrate zugrunde liegen), - nach einer längeren Exposition

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führen sie zu Skandalszenen, die in einen Mordversuch bzw. einen tatsächlichen Mord münden.

Es wird deutlich, wie Dostoevskij mittels Überschneidung der Segmente entlang der beiden Achsen auf wesentliche Aspekte des Inhalts hinweist: Zu Beginn des II. Teils wird das Verhältnis Myshkin - Rogozhin, das zum Mordversuch führt, hervorgehoben. Das Motiv dafür ist Myshkins Hingezo-genheit zu Nastasja, das in der weiteren Folge dazu führt, daß die Liebe zwischen Myshkin und Aglaja zerbricht. Darauf wird in der zweiten Zone der Überschneidung hingewiesen, die mit einem Gespräch zwischen Evge-nij Pavlovich und Myshkin beginnt, das eben diesem Thema gewidmet ist (IV, 9). Diese Zone der Überschneidung endet mit der Flucht Nastasjas zu Rogozhin, die so zu dem Mordversuch Rogozhins parallel gesetzt wird!

Setzt man die Segmentierung der Handlung auf der Raum- und Zeitebene mit Konklave- und Skandalszenen in Verbindung, dann sieht man, daß jede der beiden Zonen der Überschneidung mit einem Skandal endet. Der erste so hervorgehobene Skandal stört Myshkins Verlobung mit Nastasja, der zweite Skandal die Trauung der beiden. Auf die erste Zone der Überschneidung folgt nach einem 3-tägigen Intervall die 2. Konklaveszene, auf die zweite bereits "eine Stunde später" (IV, 11 - Beginn) die Ereignisse, die zur letzten Konklaveszene führen. Die Handlung ist augenscheinlich im Zeitablauf beschleunigt.

3. Personengefüge

Die überaus große Zahl der Personen wird in der Romanliteratur des Realismus üblicherweise in Familienverbänden zusammengefaßt. Im "Idiot" finden wir nur zwei "intakte" Familien: die Familie Epanchin und die Familie Ivolgin. Eine dritte, "defekte" Familie, die Lebedevs, läßt sich ebenfalls noch den Familienverbänden zuzählen. Alle übrigen bedeutenden Personen treten als Individuen auf, die an keinen Familienverband gebunden sind, obwohl ein solcher in rudimentärer Form wie bei Rogozhin und Terent'ev gegeben sein kann. Die beiden wichtigsten Personen, Myshkin und Nastasja Filippovna, sind Waisen.

Jede Familie und jede bedeutendere Figur bringt sekundäre Figuren mit sich, die wie Radomskij stärker in die Handlung integriert sein können, oder wie Tockij eine mehr episodische Funktion haben. Manche wie Surikov (im Bericht Ippolits) treten handelnd nicht auf.

Das Personeninventar (unter Ausschluß ausgesprochener Nebenfiguren):

A. Familienverbände:

a) Epanchins: General Ivan Fedorovich E. und Elizaveta Prokof'evna E.; die Töchter Aleksandra, Adelaida, und Aglaja. Sekundäre Figuren aus diesem Verband sind die Fürstin Belokonskaja, Fürst Sh., und Evgenij Pavlovich Radomskij.

b) Ivolgins: General Ardalion Aleksandrovich und Nina Aleksandrova I., die Tochter Varvara A. und zwei Söhne Gavrila (Ganja) und

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Nikolaj (Kolja) A. Sekundäre Figuren in diesem Bereich sind der Mieter Ferdyshchenko und Varvaras Gatte Ivan Petrovich Pticyn.

c) Lebedevs: Lukian Timofeevich L. (Witwer). Seine Töchter Vera L. und Ljubov' L. und der Sohn Kostja L. Ihnen zugeordnet ist Lebedevs Neffe, der Nihilist Vladimir Doktorenko.

B. Bereits zerfallene Familienverbände:

a) Rogozhins: Parfen Semenovich R. (Bruder Sen'ka S., eine senile Mutter und eine Tante in Pskov).

b) Terent'evs: Ippolit T. (Schwester Lenochka und Mutter Marfa Borisovna).

C. Waisen:

a) Lev Nikolaevich Myshkin. Ihm zugeordnet sind Nikolaj Andreevich Pavlishchev, Frau Paparchina und Prof. Schneider in der Schweiz.

b) Nastasja Filippovna Barashkova. Ihr zugeordnet ist ihr Adoptivvater und Verführer Afanasij Ivanovich Tockij, ihre Freundin Darja Alekseevna und ihre Wirtin Frau Filisova.

D. Gruppen:

Wie in anderen Werken Dostoevskijs (so schon im "Herrn Prokharchin" und in "Polzunkov") spielen auch hier in Gruppen auftretende Personen eine Rolle:

a)    die Freunde Rogozhins (Zechkumpane): Zaleshev, Konev, Likhachev, Keller;

b)    die Nihilisten (Myshkins Feinde, dann Freunde!): Antip Burdovskij, Ippolit, Keller, Doktorenko, (Chebarev).

Die erste Gruppe bleibt im Hintergrund, die zweite hat handlungstragende Funktion und ist mit drei Hauptfiguren (Myshkin, Ippolit, Lebedev) verknüpft.

Am Rande sei auf Lebedevs "Randposition" in dieser Aufstellung hingewiesen. Er läßt sich sowohl unter A. wie B. oder C. einordnen. In jedem Fall ist er in einer Zweiergruppe der nicht ganz hinzupassende dritte! Schon dies deutet auf seine ambivalente Funktion hin!

Die Anordnung der Personen in den obigen vier Kategorien läßt Schlüsse auf ihre vom Autor intendierte Wertigkeit zu. Von den Personen der zweiten und dritten Kategorie lassen sich Rogozhin, Myshkin und Nastasja Filippovna a priori als Hauptfiguren bezeichnen. Ippolit Terent'ev findet sich in derselben Kategorie wie Rogozhin, was nahelegt, daß ihm eine ähnlich handlungsbestimmende Funktion zukommt wie diesem. Im Kontrast dazu erfüllen die Figuren der ersten und vierten Kategorie eine sekundäre Funktion: Sie sind weniger Subjekt (d. h. aus eigenem Wollen heraus agierende Personen), als vielmehr Objekt (d. h. auf die Hauptfiguren und deren Akte reagierende Personen) der Handlung. Die obige Aufstellung deutet an, daß dies auch für Aglaja und Ganja, und (mit der schon genannten Einschränkung) für Lebedev gilt! Als Teil eines Familienverbandes haben sie teil an dessen Funktion im Roman, - jeweils stellver-

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tretend eine breite Gesellschaftsschicht darzustellen. Epanchins repräsentieren den an die neuen (kapitalistischen) wirtschaftlichen Verhältnisse angepaßten Adel; Ivolgins - den unangepaßten, verarmten Adel; Lebedev -eine korrupte Administration. Die im Vordergrund stehenden Mitglieder dieser Familien verkörpern Tendenzen, die aus diesen Schichten entspringen: Aglaja ist das emanzipierte, dem Nihilismus gegenüber aufgeschlossene Mädchen der 60er Jahre; Ganja - der Emporkömmling; Lebedev - ein Betrüger und Hochstapler, potentiell aber auch der "weise Narr".

Betrachten wir Myshkin als zentrale Figur des Romans im Sinne des Strukturschemas aller großen Romane Dostoevskijs, so erhalten wir folgende Konfigurationen:

Die Figuren der 1. Reihe sind als die eigentlichen Hauptfiguren anzusehen, die der 2. Reihe haben eine sekundäre, unterstützende Funktion. Myshkin stehen vier männliche Figuren gegenüber, die auf je verschiedene Art und Weise seinen emotionellen und intellektuellen Habitus umgrenzen und definieren.

Es gibt im Roman zwei, in allen wesentlichen Gliedern vollständige Familien, die solcherart eine Opposition bilden, die für den Hintergrund des Romans wichtig ist: Epanchins verkörpern die Verbindung von Aristokratie und Kapital, zu der in der Person der jüngsten Tochter (Aglaja) die Ausrichtung auf westliche, "progressive" Ideologie kommt. Ivolgins illustrieren den Verfall des Adels. In der Person des "Lügengenerals" erweist sich diese "unangepaßte" Schicht als durch und durch verlogen und unmoralisch. Auch hier wird der typische Zug in der Generation der Kinder (Ganja und Varvara) noch verstärkt - die Unmoral des Vaters wird zum unverhüllten Karrierismus, zur nackten Geldgier. Die Familie Lebedev ist wohl noch ein Familienverband, aber durch das Fehlen der Mutter und Gattin deformiert und so in die Nähe der Figuren der zweiten und dritten Kategorie gerückt. Dem entspricht einerseits die höhere Wertigkeit Lebedevs im Roman, andererseits auch seine "ideologische" Funktion: Er verkörpert nicht nur die Korruption der Mittelschicht der Beamten (der "allwissenden" Herren des 1. Exkurses), sondern auch die potentielle Regeneration, die in der klaren Erkenntnis der Situation angelegt ist und in der Generation der Kinder wieder verstärkt aufscheint (siehe die Namensgebung "Vera" = Glaube und "Ljubov''' = Liebe ); Vera mit Ljubov' im Arm kann als ikonische Darstellung der Madonna verstanden werden, d. h. der Erneuerung des Menschen durch Liebe und Glauben. Doch auch die andere Seite Lebedevs findet ihre Fortführung in seinem Neffen Dokto-renko, dessen gelehrt klingender, lateinisch-westlicher Zuname auf die Quelle seines Nihilismus hinweist.

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Die den Familien zugeordneten Figuren verdeutlichen deren Stellung: Die Fürstin Belokonskaja (ihr Name erinnert an das "fahle Pferd" in Lebedevs Interpretation der Apokalypse!), eine Freundin von Frau Epanchina, "definiert" deren gesellschaftliche Position; Fürst Sh., Radomskij, aber auch Tockij "definieren" in ähnlicher Weise Position und gesellschaftlichen Rang des Generals Epanchin. Auf ähnliche Weise ermöglichen es die der Familie Ivolgin zugeordneten Figuren Ferdyshchenko und Pticyn, diese Familie in den gesellschaftichen Kontext einzuordnen.

Wenden wir uns den Figuren der zweiten und vierten Kategorie zu: Rogozhin und Ippolit haben sich aus dem Familien verband gelöst. Rogozhin ist aus dem Elternhaus fort nach Pskov geflohen und bewohnt nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg einen eigenen Flügel des Familienhauses. Ippolit verläßt die elterliche Wohnung zu Beginn des II. Teils und lebt als Gast bei Myshkin, später bei Pticyn. Beider Stellung im Leben, ihre "Ausgesetztheit" dem Leben gegenüber, unterscheidet sich kaum von der Myshkins oder Nastasjas. Um Rogozhin verdichten sich Hinweise auf eine sektiererische, häretische Existenz, als Analogen zu einer falschen, fehlgegangenen Leidenschaft. Ippolit kommt aus einem ganz anderen Milieu. Im Hintergrund steht das korrupte Leben seiner Mutter, der ehemaligen Geliebten Ivolgins und Geldverleiherin, und das Milieu der Nihilisten. Sowohl Rogozhins wie auch Ippolits Position wird durch je eine "Gruppe" verstärkt: Rogozhins "Gruppe" betont Leidenschaftlichkeit und Ausschweifung, Ippolits "Gruppe" - ein Rousseausches Selbstverständnis, ein individualistisches Streben nach dem, was dem Individuum als "Recht" zusteht. Die Waisen Myshkin und Nastasja haben beide einen "schweizerischen" Hintergrund: Bei Myshkin ist es Prof. Schneider und das Leben in der Schweiz unmittelbar vor Einsetzen der Romanhandlung, bei Nastasja eine schweizer Gouvernante, die sie einst erzog, bevor Tockij sie verführte. Der Bezug zur Schweiz ist übrigens auch bei den Epanchins gegeben, die in Pavlovsk in einem Landhaus im Schweizerstil wohnen! Myshkins Zuwendung zu Aglaja im mittleren Handlungsblock, der in Pavlovsk spielt, ist mit seinem Eingang in das Schweizerhaus der Epanchins verbunden (sozusagen als Parallele zu Myshkins Schweizer Aufenthalt).

Sowohl Nastasja wie Aglaja stehen zwei Freiern gegenüber:

In der Handlung des Romans sind die beiden Dreiecksverhältnisse nur ganz am Beginn (bzw. in der Vorgeschichte) geschieden. Myshkin liebt Nastasja (bzw. ihr Abbild), noch bevor er Aglaja kennenlernt. Ganja hatte Aglaja bereits den Hof gemacht, noch bevor ihm nahegelegt wurde, Nastasja zu heiraten (Vorgeschichte). In den Personen Myshkins und Ganjas verbinden sich beide Konfigurationen und lassen sich wie folgt darstellen:

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Myshkins primäre Beziehung geht zu Nastasja, Ganjas primäre Beziehung zu Aglaja. Nastasja ist Teil eines "russischen" Dreiecks, dem noch Rogozhin, Lebedev und Vera angehören; Aglaja ist Teil eines "westlichen Dreiecks, dem noch Ippolit, Radomskij und Marie zuzuzählen sind. Das zentrale Dreieck Aglaja - Myshkin - Nastasja wird von dem Dreieck Marie - Myshkin - Vera überhöht, dessen "weibliche" Zuordnungspunkte in der Vor- bzw. der Nachgeschichte liegen, und somit wichtige Bezugspunkte für das zentrale Dreieck bilden. Für die vordergründige Handlung im Zentrum bestimmend sind jedoch die beiden Dreiecke mit Aglaja, bzw. Nastasja im Zentrum und je drei Bewerbern an der Peripherie (1-2-3). Die Verehrer Nastasjas: Ganja wirbt um sie aus Geldgier, Rogozhin aus Leidenschaft, Myshkin aus uneigennütziger Liebe (= Mitleid). Die Verehrer Aglajas: Ganja, der aus Karrierismus um sie wirbt, Radomskij, der in die gutsituierte Familie Epanchin einheiraten möchte, und Myshkin, der von der Schönheit Aglajas geblendet ist und in ihr sein ästhetisches Ideal sieht. Ganjas, später Myshkins, Schwanken zwischen Nastasja und Aglaja bestimmt das Romangeschehen auf der Ereignisebene. Außerhalb bzw. am Rande der Handlung stehen Marie und Vera. Erstere ist ein Modellfall für Myshkins Auffassung von der primären Unschuld des Menschen. So wie sie, betrachtet Myshkin auch Nastasja, Ippolit und sich selbst (auch Burdovskij) als "unschuldig". Vera verkörpert das Prinzip der Hoffnung für Myshkin. Das religiöse Motiv ("Glaube und Liebe"), das sie darstellt, kommt auch m Lebedevs religiösen und philosophischen Interessen zum Ausdruck. Seme ambivalente Persönlichkeit führt aber auch dazu, daß er ein Schlüssel-motiv des I. Teils, die Versteigerung Nastasjas, wieder aufgreift und Nastasja einmal an Rogozhin, ein andermal an Myshkin vermitteln will. Im Zentrum obiger Strukturskizze steht das Verhältnis Myshkins zu Nastasja und Aglaja, das vom Autor absichtlich verrätselt wird. Die Enträtselung dieses zentralen Dreiecks führt zum Sinn des gesamten Werks.

Aus der dargestellten Konfiguration wird ein komplexes System von Parallelen und Oppositionen ersichtlich, das darauf abzielt, die Bedeutungsstruktur des Romans einsichtig zu machen. Vor allem scheinen Rogozhin und Myshkin eine Opposition zu bilden, die sich aber letztlich als Identität erweist. Dies wird in der Handlung dadurch vorweggenommen,

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daß beide Brüderschaft schließen. Beide tragen gemeinsam Schuld an Nastasjas Tod. Myshkins vorgeblich christlich-demütige Haltung, hinter der ein von Rousseau herkommender Glaube an die primäre Unschuld des Menschen steckt (das "schweizerische" Erbe!), erweist sich als Kehrseite von Rogozhins Leidenschaft. Am Beispiel Rogozhins enthüllt sich das Wesen von Myshkins Liebe als solche, die zum Tod des geliebten Menschen führt. Myshkin selbst sieht Rogozhins "wahnsinnige" Leidenschaft als Kehrseite seiner eigenen Gefühle! Ähnlich funktioniert die Opposition Ganja - Radomskij: Hier enthüllt die offen zutage tretende Geldgier Ganjas, sein Karrierismus, die dem Leser verborgenen Motive Radomskijs, der wohl ebenso auf den eigenen Nutzen bedacht ist, obgleich er sich vordergründig vornehm gebärdet. Gleich Myshkin aus altem Adel stammend bildet Radomskij mit diesem eine weitere Opposition: Radomskijs Skepsis, sein Mangel an Idealen, seine rationale Einstellung, stehen im Gegensatz zu Myshkins naiver, sentimentaler und romantischer Haltung und lassen sie so im Kontrast schärfer hervortreten.

Wie aus der Skizze ersichtlich ist, erfolgt die Verschränkung der beiden Grunddreiecke über die Figuren Ganjas und Myshkins. Beide "erzeugen" im Roman eine Vielzahl von Doubletten (Parallelen und Oppositionen). Vorerst zu Ganja: In der Gegenüberstellung mit Radomskij kontrastiert Dostoevskij zwei gesellschaftliche Sphären, - die "bürgerliche" und die "hohe" (d. h. aristokratische) Gesellschaft. Dabei stellt Dostoevskij den mittleren (durchschnittlichen) Vertretern (Ganja und Radomskij) je zwei Doubletten zur Seite, deren eine die gesellschaftlich erfolgreiche Variante dieses Typs schildert (und zwar so, wie sie von der Gesellschaft selbst gesehen werden: als positiver Typus), während die andere eine parodistisch verzerrte, karikaturhafte Darstellung desselben Typs gibt. Es ergibt sich so folgende Konfiguration:

Als gemeinsamer Überbegriff für die hier kontrastierend und sich gegenseitig erhellend dargestellten gesellschaftlichen Typen des Rußlands der 60er Jahre kann die liberale, kapitalistische Wirtschaftsordnung gelten, -ein Angriffspunkt Dostoevskijs im "Idiot".

Auch um Myshkin lassen sich eine Anzahl von Kontrastfiguren gruppieren:

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Die obere Hälfte dieser Skizze beinhaltet Vertreter der tragenden Schichten der Gesellschaft Rußlands (Beamtenstand, Kaufmannschaft, Adel), wenn auch in degenerierter Form. Die Figuren der unteren Hälfte kommen aus den Niederungen der Gesellschaft (Exoffizier, Exstudent) und tendieren zu "westlichen" Werten. Die "russische" Seite wird durch Rogozhin (Leidenschaft), die "westliche" durch Ippolit (Rationalismus) verkörpert.

Lebedev und General Ivolgin bewohnen zusammen mit Myshkin ein Haus in Pävlovsk (dies gilt für den gesamten mittleren Handlungsblock). Ivolgins kindliche, naiv-sentimentale Ich-Bezogenheit parodiert ähnliche Züge bei Myshkin. Seine Distanz zu einer allein von Berechnung, Nutzen und Egoismus bestimmten Welt wird in den fantastischen, lügenhaften Erzählungen des Generals i. R. verdeutlicht. Diese ganz ich-bezogene Traumwelt, in die der General wie in einem Netz seine Umwelt verstrickt, kann zugleich als Parodie auf die poetische Phantasie verstanden werden, wie sie sich in den lyrischen Monologen des Fürsten kundtut. Wenn im Charakter des Generals Ivolgin auf diese Weise Aspekte der Persönlichkeit Myshkins auf farcenhafte Weise illustriert werden, so läßt sich Ähnliches von Lebedev sagen. Lebedev spielt die Rolle des Narren, der die Gesellschaft mit hintergründigen Spaßen belustigt, dabei aber nie seinen eigenen Vorteil vergißt. Das grotesk Hintergründige in Lebedevs Charakter reicht jedoch weit darüber hinaus und gewinnt in seiner Interpretation der Apokalypse und der offenen Kritik an der zeitgenössischen Zivilisation eine philosophisch-metaphysische Dimension. So gesehen parodiert Lebedev sowohl die gesellschaftliche Rolle Myshkins als eines "Idioten", wie auch dessen weltanschauliche Exkurse. Die Funktion des "Lügenpoeten" Ivolgin und des Narren Lebedev wird anläßlich der Geburtstagsfeier Myshkins in der 2. Konklaveszene deutlich: General Ivolgin präsidiert, Lebedev referiert die "erhabendsten Ideen, die tiefsten Ideen...". Die Nihilisten bilden das Publikum. Unter ihnen findet man weitere Parodien einzelner Züge Myshkins. So weisen Burdovskijs übertriebene Scheu, seine mangelnde Redegewandtheit, seine Hilflosigkeit und Unfähigkeit sich zu verteidigen auf analoge Züge bei Myshkin hin und stellen sie damit bloß. Keller, der Boxer, Leutnant a. D. und Trinker wiederum parodiert die Ritterlichkeit Myshkins, des Ritters "ohne Furcht und Tadel". "Vornehm bin ich, ritterlich vornehm," meint Keller, fügt aber sogleich hinzu: "Immer nur in meinen Träumen und sozusagen in der Courage, in Wirklichkeit aber kommt es nie zustande!" Und Myshkin meint von Keller: "Sie haben mir jetzt gleichsam mein eigenes Wesen gezeigt."

Bedeutsamer ist allerdings die Gegenüberstellung von Myshkin mit Rogozhin und Ippolit. Das Schicksal beider verdichtet sich zum Schicksal Myshkins. Rogozhin begeht einen Mordversuch, dem am Ende des Romans ein Mord folgt; Ippolit verübt einen Selbstmordversuch. Er stirbt am Ende des Romans an Schwindsucht. Myshkins Existenz ist so zwischen Selbstmord, Mord und Tod eingespannt. Sein Handeln wird von diesen Ereignissen begleitet: Mord, Selbstmord und Tod nehmen den geistigen Tod des Fürsten vorweg. Rogozhins sinnliche, unreflektierte Leidenschaft, die national russische Züge einschließt (vgl. Hinweise auf Sekten), entspricht Myshkins slavophiler Hinwendung zum russischen Volk, die ebenso leiden

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schaftlich und unreflektiert erfolgt. Ippolit verdeutlicht die rationalistische Komponente in Myshkin mit ihren westlichen, Rousseauschen Wurzeln. In Myshkin wird sie in seiner Verteidigung der Unschuld deutlich. Rogozhins Egoismus der Leidenschaft ebenso wie Ippolits rationaler Egozentrismus in der Ablehnung der gottgewollten Ordnung führen zum Tod. Das ist auch das Resultat des Egoismus der schönen Seele Myshkins, der die Schuldhaftigkeit menschlicher Existenz verleugnet und in die "Idiotie" zurückfällt.

III. Ereignisgefüge

Die funktionsmäßig unterscheidbaren formalen Strukturen dieser Ebene wurden bereits unter I. vorweggenommen. Hier sollen nur noch einige Handlungselemente, bzw. Motive hervorgehoben werden, die in mehrfacher Abwandlung das Romangeschehen prägen.

1. Es ist für die Strukturierung des Erzähltextes im "Idiot" charakteristisch, daß in jedem Teil eine längere, didaktisch akzentuierte Passage oder "Lehre" eingeschlossen ist. Im I. Teil ist dies Myshkins Legende von Marie und den Kindern und die um sie gruppierten Erzählungen des Fürsten, die alle von Schuld und Unschuld des Menschen handeln. Daran schließt sich im II. Teil die "Lehre" der Nihilisten, die vehement für das vermeintliche "Recht" des Individuums eintreten. In Lebedevs Interpretation der Apokalypse wird dazu eine religiöse Begründung geliefert. Der II. Teil gipfelt in Ippolits "Bekenntnis", das die Themen des I. und II. Teils (Schuld/Unschuld, Recht/Unrecht) in einer Synthese zusammenfaßt. Im IV. Teil legt Myshkin seine slavophilen Ansichten dar.

2. Parallel dazu enthält aber jeder Teil auch einen oder mehrere Fälle eines gewaltsamen Todes. Im I. Teil berichtet Myshkin selbst von Hinrich tungen, im II. Teil folgt Rogozhins Mordversuch an Myshkin, im III. Teil begeht Ippolit einen Selbstmordversuch, der IV. Teil schließt mit Rogo zhins Mord an Nastasja. Dostoevskij hat das Motiv "gewaltsamer Tod" vielfach weiter abgewandelt. Der Roman beginnt mit der Schilderung eines versuchten Totschlags von Rogozhins Vater an seinem Sohn Parfen (schon hier werden die Motive "Leidenschaft" und "gewaltsamer Tod" miteinander verknüpft). An Myshkins Erzählungen schließt sich der Ver weis auf einen zeitgenössischen Mordfall (I, 12) und Tockijs Vergleich mit der Flucht Nastasjas zu Rogozhin mit dem Harakiri der Japaner. Die Verweise auf Mord und Totschlag verdichten sich in der ersten Hälfte des H. Teils. Es fallen mehrere Hinweise auf das Schicksal Nastasjas (II, 3).

Daß der Roman im Zeichen des gewaltsamen Todes steht, wird bereits aus dem Datum des "ersten Tags" ersichtlich: dem 27. November 1867. Am Vortag erschien in Nr. 259 der "Moskauer Nachrichten" der sensationelle Bericht über den Mord des Kaufmanns Mazurin an dem Juwelier Kalmy-kov. Nastasja selbst bezieht sich einen Tag später, eben an dem "ersten Tag" der Romanhandlung, auf diesen Mordfall, von dem sie eben gelesen hatte (I, 15; auch III, 10). Weitere Mordfälle, so vor allem der Mord des

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erst 18-jährigen Studenten Gorskij an sechs Mitgliedern der Familie Shemarin in Tambov wird mehrfach erwähnt. Lebedev erzählt von einem mittelalterlichen Mönch, der aus Hunger mordete, Ippolit erwähnt in seiner Rede einen Mörder...

3. Zwei weitere Motive, die sich gegenseitig bedingen, erscheinen in vielfacher Abwandlung: a) Das Motiv der "Unschuld" des Individuums. Myshkin betrachtet das schweizer Mädchen Marie wie auch die russische Schönheit Nastasja als "unschuldig" (beide werden von der Gesellschaft verurteilt). Er kann auch bei sich selbst keine Schuld finden. Ippolit und die Nihilisten sehen sich als "unschuldig", als Opfer einer für sie unakzeptablen Ordnung. b) Das Motiv des dem Individuum vorenthaltenen Rechts. Dieses Motiv begründet die Handlung Burdovskijs und der Nihilisten, es erklärt Ippolits Ablehnung des Lebens. Auch bei Myshkin findet es sich, insofern der Fürst die Ansicht vertritt, daß jeder Mensch ein Recht darauf hat, glücklich zu sein. In diesem Sinne versucht er, Marie und Nastasja mit seiner mitleidenden Liebe zu helfen.

4. Weitere parallel auftretende Handlungselemente sind:

a) Zwei große Abendgesellschaften im mittleren Handlungsblock: Die erste findet in Lebedevs (d. h. Myshkins) Haus statt und bringt als Höhepunkt das Auftreten der Nihilisten; die zweite spielt sich im Land haus der Epanchins ab und ist der Rede Myshkins gewidmet. Damit-werden westliches (nihilistisches) und slavophiles Gedankengut einander gegen übergestellt, wobei diese Opposition auch formal in der Struktur der Handlung verankert ist.

b) Zwei Geburtstagsfeiern: Auf Nastasjas Geburtstagsfeier in der 1. Konklaveszene folgt Myshkins Geburtstagsfeier in der 3. Konklaveszene. In beiden ist es der Wunsch derer, die Geburtstag feiern, daß damit für sie ein neues Leben beginnen möge (I, 14; III, 3). Nastasja flieht allerdings darauf zu Rogozhin, Myshkin wendet sich Aglaja zu. Für beide sind es Irrwege, die sie gehen und die letztlich zum Tod führen.

c) Myshkin erleidet im Lauf des Romans zwei epileptische Anfälle: in der zweiten Skandalszene rettet ihn der Anfall vor Rogozhins Messer; in der Konklaveszene zerbricht Myshkin eine chinesische Vase, das Symbol der Schönheit (= Aglaja). Die beiden Anfälle lassen Myskins ambivalenten Charakter deutlich werden. Der erste Anfall ist die Folge seines über großen Mißtrauens gegenüber Rogozhin, zugleich aber auch die Folge eines Vertrauensbruches: Myshkin hatte Rogozhin versprochen, nicht zu Nastasja zu gehen, war aber dann doch zu ihr gegangen (II, 5). Der zweite Anfall ist die Folge übergroßer Vertrauensseligkeit, als er in vollkom mener Fehleinschätzung seiner Gesprächspartner (vgl. IV, 7 mit IV, 6!) ihnen seine geheimsten Gedanken eröffnet und damit "zu Fall" kommt.

5. Abschließend sei auf eine weitere strukturelle Parallele hingewiesen, die thematisch überaus bedeutsam ist. Am Beginn des Romans stehen die Handlungselemente: a) "Skandal um Nastasja" (1. Skandalszene), b) "Hinwendung Myshkins zu Nastasja" (1. Konklaveszene), c) "Flucht Nastasjas" (Ende der 1. Konklaveszene), und d) "Rogozhins Rache" (an Myshkin; 2.

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Skandalszene). Die Elemente b) und c) sind in einer Konklaveszene vereinigt, besteht doch ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Myshkins Hinwendung zu Nastasja und deren Flucht vor ihm. Das Ende dieser Handlungssequenz beendet zugleich den ersten Handlungsblock auf der Raumebene. Am Ende des Romans wiederholt sich diese Sequenz, wobei diesmal die Elemente a) und b) zu einer Szene verbunden werden. Myshkins Hinwendung zu Nastasja entspringt unmittelbar dem Skandal um Nastasja (4. Skandalszene). Es folgt die "Flucht Nastasjas" unmittelbar vor der Hochzeit (5. Skandalszene) und d) "Rogozhins Rache" (an Nastasja; 5. Konklaveszene). Die Wiederholung der Sequenz ist dramatisch und schließt zwei Skandalszenen ein. Der Höhepunkt und Abschluß (Mord Nastasjas) fällt mit dem Ende des Romans zusammen. Bis auf das dritte Element ist der formale Rahmen jeweils etwas anders ausgefüllt. Die Wiederholung der Sequenz betont die Schicksalhaftigkeit des Geschehens und hebt es aus dem Romanablauf heraus.

Die angeführten Beispiele zeigen, daß es in großen Prosatexten sehr viel schwieriger ist als in der Versdichtung, formale Geordnetheiten zu erkennen und in ihrer Funktion zu deuten. Es kann aber kein Zweifel bestehen, daß sie in großem Maße vorhanden und Träger inhaltlicher Zusammenhänge sind. In der Geordnetheit des Textes auf den hier analysierten Ebenen sind die Parameter vorgegeben, an die sich die Analyse und Interpretation des Bedeutungsgefüges zu halten hat, will sie nicht in die Irre gehen. Dem Leser, der die "Äquivalenzen auf der Achse der Kombination" (Jakobson) zu erkennen und deuten vermag, werden damit wertvolle Interpretationshilfen geboten.

ANMERKUNGEN

  1. Ju. M. Lotman:"Die Analyse des poetischen Textes." Kronberg/Ts., 1975, S. 38. S. auch bei Etkind: "Materija sticha." Paris, 1978; R. Jakobson: "Poetik. Ausgewählte Aufsätze." Suhrkamp, 1979 (stw 262)
  2. S. K. Onasch: "Der verschwiegene Christus." Berlin, 1976, S. 131.
  3. Beachtenswert ist, daß auch im Kabinett des General Epanchin in St. Petersburg ein "Bild aus der Schweiz" hängt!
  4. Ippolits Nachbar Ivan Fomich Surikov ist ein weiterer Doppelgänger Myshkins. Surikov ist ein "sehr sanfter Mensch, ein höchst demütiges Wesen." Sein Charakter und Schicksal illustrieren für Ippolit die Ohnmacht der Demut.
  5. Es is bemerkenswert, daß Dostoevsky seinem Helden den Vor- und Vatersnamen Tolstojs mitgab! Vertrat doch auch Tolstoj zeitlebends das Prinzip des "individuell Guten" und war ein Verehrer Rousseaus, dessen Bild er in einem Medaillon am Hals trug!
  6. Die Namen "Rogozhin" und "Epanchin" lassen sich von zwei Wörtern ableiten, die gemeinsam in einem russischen Sprichwort stehen, - ein vielleicht nicht unwesentlicher Hinweis auf die Bedeutung dieser Namen: Ni k rozhe rogozha, ni k licu epancha.

[EDITOR’S NOTE: some footnote references were missing from the body of the original text.]

University of Toronto