Dostoevsky Studies     Volume 1, 1980

DER HAGIOGRAPHISCHE TYPUS DES "JURODIVY" IM WERK DOSTOEVSKIJS

Konrad Onasch, Universität Halle

1. Nachdem der Salós-Jurodivyj seit längerem bei Hagiographen, Kirchen historikern, Byzantinisten und Essayisten Interesse gefunden hat, wenden sich ihm seit jüngstem auch die literaturwissenschaftler zu, wie die Arbeiten von I. P. Smirnov und A. M Panchenko zeigen. Vor allem der vom letzteren geschriebene 2. Teil des zusammen mit D. S. Lichachev heraus gegebenen Buches "Smekhovoj mir drevnej Rusi" (Leningrad 1976) bietet eine historische Übersicht und eine literaturwissenschaftliche Analyse des byzantinischen und des russischen "Jurodivyj". Die Beziehungen zwischen diesem asketischen Typus und der Gestalt Myshkins in Dostoevskijs "Idiot" hat, soweit ich zu sehen vermag, obwohl keineswegs unbekannt, keine sachentsprechende und intensive Untersuchung gefunden. Auch S. M. Nels im Aufsatz über den Typus des "Komicheskij muchenik" im Oeuvre Dostoevskijs und L. M. Lotman über die russische Legende in den Romanen des Dichters gehen auf den Jurodivyj nicht ein, obwohl es nahe gelegen hätte. Trotzdem zeigen die Ausführungen vor allem L. M. Lotmans, mit welcher Intensität sich Dostoevskij mit der legendär-apokryphen Literatur über Christus beschäftigt hat und, was ebenso wichtig ist, wie er sie in sein Werk transformiert hat. Nach den theologisch orientierten, mehr oder weniger essayistischen Versuchen von Hans-Urs von Balthasar und Walter Nigg vor längerer Zeit hat Frances Hernändez vor acht Jahren noch einmal auf die Bedeutung unseres Themas aufmerksam gemacht, während Michael Holquist zur Interpretation Myshkins nicht den Jurodivyj, sondern den "idiotes" herangezogen hat. Ich möchte im folgenden zeigen, daß (trotz mancher Ähnlichkeiten zwischen ihnen) nicht der "idiotes", sondern zweifelsfrei der Jurodivyj das Modell für die Gestalt Myshkins abgegeben hat, um damit den Zusammenhängen überhaupt schärfere Konturen zu geben.

2. Das älteste Zeugnis vom christlichen Narrentum findet sich in der 419/20 geschriebenen Historia Lausiaca, in der von einer Nonne berichtet wird, die das Narrentum mit dem Küchendienst verband und alle Erniedri gungen über sich ergehen ließ. Auch in den, Ende des 5. Jahrhunderts zusammengestellten Apophthegmata Patrum stößt man auf Hinweise dieser Sonderform der altkirchlichen Askese. Vom Geron Arnmonas wird im Anschluß an 1. Kor. 1,25 und 4,10 vom "moropoiein", dem "Sich-dummstellen" berichtet und, daß er lieber ein Salós denn ein Vernünftiger sein wollte. Der Abbas Moses zieht es ebenfalls vor, lieber als Salós zu erscheinen, als weltlichen Ruhm zu erlangen. Von Abbas Or ist das Apophthegma überliefert: "Entweder fliehe gänzlich die Menschen oder

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spotte der Welt und der Menschen, indem du dich zum Narren in vielen Dingen machst." Mit der für einen Väterspruch charakteristischen Unre-flektiertheit wird eine dreifache Motivation für den altkirchlichen Salós genannt: Weltflucht, Weltangst und eine stark introvertierte Askese. Erst in den Viten der byzantinischen Narren wird dieser Ansatz mit Hilfe einer reichen und differenzierten Topik weiter entfaltet. Dabei erhielt die aus 1. Kor. 1,25; 4,10 und Phil. 2,5-11 erwachsene Vorstellung von der Nachfolge des Narren in der Kenose und Verklärung Christi eine besondere Bedeutung. Zwar bleiben die drei genannten Motivationen der heiligen Narrheit konstant, aber aus dem anfänglichen Heilsegoismus hat sich ein Heilsaltruismus entwickelt: Die oft provokativen Symbolhandlungen des Salós, seine Prophezeiungen u. a. wollen nun Lebenshilfen für den Weltmenschen sein. Das Aufsuchen der Slums in den spätantiken Großstädten des Orients durch die Narren verweist auf die an der Idealität der Person Christi orientierten sozialkritischen Funktion dieser Askese. Sie wurde noch dadurch betont, daß der Salós stets in Lumpen ging, mit den Dirnen tanzte, vor und in den Kneipen seine tiefsinnigen Narrheiten beging. Nur in der Nacht versank er in seiner erbärmlichen Hütte in Gebet und erlebte in dieser Einsamkeit seine Verklärungen. Was schließlich die Vorbildhaf-tigkeit der Kenose Christi anbetrifft, so darf darauf hingewiesen werden, daß die ostkirchliche Hagiographie die freiwillige Narrheit, die Narrheit um Christi willen alleine für die Kanonisierung anerkennt, obwohl die Grenzen zwischen dieser Form und der Narrheit von Natur aus nicht selten fließend gewesen sind. Mit der Freiwilligkeit der Narrheit hängt auch die Tatsache zusammen, daß die Saloi und Jurodivye in der Mehrzahl nicht nur psychisch gesund, sondern auch von beachtlicher Intelligenz gewesen sind, so daß auch das Verbergen derselben der Kenose-Nachfolge zu subsummieren ist. Zugleich sollten die Dämonen getäuscht und, wenn man so will, genarrt werden.

Die beiden bekanntesten Saloi der byzantinischen Zeit sind Simeon von Emesa (gest. 550) und Andreas von Konstantinopel (gest. um 936), deren Viten früh in Rußland gelesen worden sind. Der letztere gewann für die Spätzeit der Kiever Rus' an Bedeutung, als er in Kultus und Hagiographie der Pokrov einbezogen wurde. Zu den letzten "Saloi dia Christon" in Byzanz ist der gelehrte Hesychast Sabas von Vatopädie zu nennen, der aber diese Form der selbstverleugnenden Askese nur für eine gewisse Zeit trieb, ehe er Mönch wurde. Seine Vita schrieb der Patriarch Philotheos Kokkinos. Der erste Jurodivyj auf russischem Boden ist Isaakij vom Höhlenkloster gewesen, den sowohl die Povest' Vremennych Let wie der Kievskij Paterik ausführlich beschreiben. In diesen Berichten finden sich bereits Topoi, denen wir bei Dostoevskij begegnen werden, an erster Stelle das Sammeln von Kindern und das Erhalten von Schlägen. Ausdrücklich wird die Motivation angegeben: "Er begann Narrheit zu treiben (urod'stvo tvoriti), weil ihm der menschliche Ruhm nicht schmeckte." Wie das rigoristische Zatvornichestvo, Inklusenwesen, verurteilen die Texte auch das übertriebene, allzu bizarre Jurodstvo. Zweihundert Jahre erfahren wir nichts von Jurodivye in Rußland. Erst mit Prokopij von Ustjug (gest. 1303) beginnt eine Entwicklung des russischen Jurodstvo, das im 16. Jahrhundert seine Blüte erreichen sollte. Bei einigen von ihnen wird erwähnt, daß sie

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aus dem lateinischen Westen gekommen sind. Ob es sich dabei um historische Wirklichkeit oder um einen Topos handelt (vgl. auch die Vita Antonijs, "des Römers"), ist schwer zu entscheiden. Ich neige zum letzteren. Aus der nicht kleinen Zahl der heiligen Narren sollen hier wenigstens folgende genannt werden: Nikolaj und Fedor, die mit ihren sozial und politische bestimmten Symbolhandlungen auf der Volchov-Brücke die beiden Stadtteile Novgorods mit ihren konkurrierenden Interessen vertraten. Sie starben 1392; loan von Ustjug (gest. 1494); Isidor von Rostov (gest. 1474); Vasilij und loan von Moskau (gest. 1552, 1589); (Die Tätigkeit des ersteren verbindet seine volkstümliche Vita unhistorisch mit der Regierung Ivan Groznyjs); Nikolaj von Pskov (gest. 1576). Das 17. Jahrhundert brachte mit Prokopij von Vjatka (gest. 1627), Kiprian von Suzdal' (gest. 1622), Andrej und Maksim von Tot'ma a. d. Suchona (gest. 1673, 1650) eine Nachblüte. Sieht man von Zügen des Jurodstvo bei Avvakum und einigen anderen Altritualisten ab, auf die Panchenko hinweist, so war die Epoche des von Peter I. eingeführten "Heiligsten Regierenden Sinods" dieser nur unter bestimmten mit dem Lebensgefühl des mittelalterlichen Menschen eng verbundenen Askese nicht gerade günstig gestimmt. Zu den letzten Narren gehören u. a. Antonij Alekseevich Zadonskij (gest. 1851), Petr Tomanskij von Uglich (gest. 1866), ein Priester, die Nonne Pelagija aus dem Serafimo-Diveevskij Kloster (gest. 1884) und Ivan Jakovlevich Korejsha (gest. 1861).

3. Dostoevskij war der hagiographische Typus des Salós-Jurodivyj bekannt. Seine Stellung zum russischen "Jurodivyj Christa radi" kann als ambivalent bezeichnet werden. Seiner historischen Erscheinung stand er betont kritisch gegenüber. Dem oben erwähnten Ivan Jakovlevich Korejsha hat er in den "Besy" (Teil II, Kap. 5,2) eine mehr als satirische Darstellung gewidmet (PSS X, 254, vgl. PSS XII, 302). Im "Dorf Stepanchikovo und seine Bewohner" (Teil 1,1) stellt der Dichter den Frömmler Foma Fomich charakterlich neben die "verschiedensten Ivan-Jakovlevichi" (PSS III, 8). Etwas objektiver dem historischen und vor allem volkstümlichen Phänomen dieser Narren-Askese zeigt sich Dostoevskij in den "Brüdern Karama-zov" bei der Schilderung des Ferapont und des Starzen Leonid im Kloster. Auch im Roman "Der Idiot" selbst findet sich eine Kritik, die der Dichter Rogozhin in den Mund legt. In seinem ersten Gespräch im Eisenbahnwaggon (1,1) gibt Rogozhin Myshkin eine sehr negative Schilderung der Frömmigkeit seiner Mutter und seiner Tante, welch' letztere "vom Morgen bis zum Abend mit Jurodivye zusammenhockt". Sie besitzt einen historischen Hintergrund, insofern Novgorod, Pskov und auch St. Petersburg im 18. Jahrhundert noch Hochburgen des Jurodstvo gewesen sind. Überdies erinnert sie stark an den von Panchenko auszugsweise mitgeteilten Bericht V. N. Tatishchevs über den von Narren wimmelnden Hof der bigotten Zarin Praskovja Fedorovna (Witwe des Bruders und Mitzaren Peters I., loan Alekseevich (gest. 1796). Unter ihnen befand sich auch ein gewisser Timofej Archipovich, über dessen sich nicht erfüllende, z. T. phantastische Prophezeiungen sich Tatishchev lustig macht. Indessen: So, wie der russische Dichter die geschichtliche Erscheinung des russischen Mönchtums poetisch-idealisch überhöhte durch das Porträt des Starzen Zosima, verfuhr er auch mit dem Jurodichestvo. Er verband dabei, wie

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könnte es anders sein, den sozialkritischen mit dem ästhetisch-poetischen Effekt. Dieser steht seinerseits in engster Verbindung mit dem Thema des Selbstopfers und seiner Darstellung in einer an der Idealität Christi orientierten "synthetischen" Persönlichkeit, Gedanken, die Dostoevskij in den sog. "Meditationen an der Bahre" vom 16. April 1864 wie in den Notizen zum nicht geschriebenen Aufsatz "Sozialismus und Christentum" vom Herbst desselben Jahres schriftlich fixiert hat. Für die dichterische Gestaltung einer solchen "synthetischen" Figur bot sich der hagiogra-phische Typus des Jurodivyj von selbst an. Der in den "Meditationen" formulierten Aufgabe des Menschen, "sich in das Ich Christi oder in sein Ideal zu verwandeln", entsprach die zentrale Motivation der heiligen Narren, die Kenose. Der Jurodivyj wurde so das Modell für eine der interessantesten Gestalten im Werk des russischen Dichters.

Ihre Genese läßt sich genau verfolgen. Sonja Marmeladova erscheint Raskolnikov in der Lazarusszene als "Jurodivaja" in ihrem Selbstopfer für die Familie, in ihrer Demut und äußersten Erniedrigung. In den Herbstaufzeichnungen 1867 zum zukünftigen Roman "Der Idiot" wird eine so bezeichnete Gestalt von unmäßigem Stolz und dämonischem Charakter, "überhaupt verrückt" (jurodivyj), entworfen. Ende Oktober bis Ende November ändert sich dieses Bild. Es heißt nun in den Entwürfen: "Schlichtheit, Bescheidenheit, eine echt christliche Gesinnung." "Er ist der Fürst, Idiot. Alles für die Rache. Demütiges Wesen. Fürst ist ein Narr (Jurodivyj) (er mit den Kindern)?!" Der "Idiot" läßt sich ohrfeigen, spricht mit den Kindern über alles, auch über die Existenz Gottes. Unter der, seiner Nichte Sofja Ivanova im Brief vom 1. Januar 1868 geschilderten Hauptidee des "positiv schönen Menschen" (polozhitel'no prekrasnyj chelovek) kommt es zu einem völligen Umbau der Figur des "Fürsten". Gleichzeitig beschäftigt sich Dostoevskij intensiv mit dem Problem, wie er die Gestalt des "Fürsten" dem Leser sympathisch machen kann. Aus den mehrmaligen Bemerkungen "KNJAZ KHRISTOS" zeigt sich deutlich, wie eng der Dichter die Verbindung zwischen dem idealen Prototyp und seinem Abbild im "positiv schönen Menschen", dem "Fürsten" gesehen wissen wollte. Wie aber kann man ihn sympathisch machen? Kann man ihn wie Don Quichote und Pickwick komisch darstellen? Kann, darf man Christus komisch darstellen, wenn er nach den Aufzeichnungen des Jahres 1864 und nach den Worten seines Briefes an Majkov vom 16. August 1867 (kurz vor Beginn der Arbeiten am Roman) die erhabenste Vorstellung vom Menschen, "das ewige Ideal der Menschheit ist"? Zur Lösung dieser Frage hat sich Dostoevskij mit der Hagiographie des "Narren um Christi willen" beschäftigt. Das geht eindeutig aus drei nicht realisierten Romanentwürfen während der Arbeit am Roman selbst hervor. In der "Idee" Jurodivyj (Prisjazhnyj poverennyj)", die Dostoevskij zwischen Ende Mai und Anfang September 1868 entwarf, wird ein "guter und vornehmer Mensch" geschildert, der in seinem Haus Waisenkinder aufnimmt. Er trägt alte Kleider. "Alte Kleidung. Schneider und Hausgenossen lächeln darüber, da an ihm alles alt ist. Er versichert, daß an ihm alles neu ist." Die, denen er Wohltaten erwiesen hat, klagen ihn zu Unrecht an. Er kommt zu ihnen und bittet sie um Verzeihung. Die Idealität dieser Gestalt und die Verwendung signifikanter Narrentopik (Kleider-Lumpen-Kinder), sowie und nicht zu-

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letzt ihre Komik, d. h. die Anwendung einer Art poetischer "umgekehrten Perspektive", um tiefere Einsichten in die wesenhafte Schönheit möglich zu machen, - das zeigt zweifelsfrei, wie Dostoevskij aus der Poetik der Narrenhagiographie für den Aufbau der Figur des Fürsten Myshkin wesentliche Bauelemente benutzte. Das Gedankenspiel "alte Kleider - neue Kleider" zeigt überdies Reflexionen über Bibelstellen wie Matth, 9, 16; Offenbarung 7, 14; Kor. 5, 17; Eph. 4, 24) an. Nicht übersehen werden sollte, daß diese Gestalt nach dem Vorbild des klassischen Salós freiwillig das Rollenspiel der Narrheit übernimmt. Der Hauptmann Kartusov im gleichnamigen Entwurf ist mehr ein Sonderling denn ein Jurodivyj. Ihn wollte der Dichter von Natur aus mit komischen Zügen ausstatten. Indessen, in den Notizen findet sich eine Passage, in der sich Kartuzov selbst so charakterisiert: "Eine Mißgeburt (Urod). Ohne Herkunft und Abstammung (Bez rodu i plemeni). Meine Tante war eine Finnin (Chukhon-ka) und lebte auf dem Pachthof irgendeines Pastors. Sie konnte ihr Leben lang nicht ein menschliches Wort sprechen." Dostoevskij hat hier, bewußt oder unbewußt, eine Etymologie des Wortes "jurodivyj" gegeben (s. auch oben zu Isaakij von Kiev), so daß wir annehmen dürfen, er hat auch bei diesem Romanentwurf die Poetik der Narrenviten im Blick gehabt, um die komischen Effekte seines Sonderlings technisch herausarbeiten zu können. Die Skizze "Imperator" fällt zeitlich mit den ersten Entwürfen zum Roman "Der Idiot" zusammen und spielt eine der technisch-poetischen Möglichkeiten durch, wie die Hauptfigur zu verstehen und darzustellen sei. Eine Möglichkeit, die bald fallen gelassen wurde. Das Thema "Jurodivyj" war damals noch nicht unmittelbar aktuell. Es sollte es bald danach werden und bis zur Niederschrift des Romans bleiben: Rogozhin proklamiert und begrüßt Myshkins halb ernsthaft, halb ironisch bereits am Ende des ersten Kapitels mit den Worten: "...überhaupt, Fürst, es zeigt sich, daß du ein Jurodivyj bist, und solche, wie dich, hat Gott lieb."

4. Um den (wenn auch nicht ausschließlichen) Einfluß der Narrenhagiographie auf Entstehung und Profilierung der Figur des "Fürst-Christus" Myshkin überzeugend nachzuweisen, ist es notwendig über die bisher mehr oder weniger allgemeinen Aussagen hinauszugehen, wie sie von H.-U. von Balthasar, W. Nigg und auch von Hernandez gemacht worden sind. Wir wollen diesen Nachweis führen, indem wir zunächst eine Reihe von Salós-Jurodivyj-Topoi bei Dostoevskij aufzeigen, um danach auf einen dem Dichter zeitgenössichen "Narren um Christi willen" hinzuweisen, der sehr wahrscheinlich den realen Prototyp für Myshkin geliefert hat.

Was die Topoi anbetrifft, so erscheinen sie im Roman nicht als leicht erkennbare Rohstoffe, sondern fügen sich dem künstlerischen Gesamtkosmos ein. Zugleich erhielten diese Allgemeinplätze gerade im Roman "Der Idiot" eine bestimmte Funktion: Die Narrentopik bildet in ihrer Spezifik die Struktur für jene "synthetische" Figur, wie sie Dostoevskij seit den Aufzeichnungen des Jahres 1864 vorschwebte.

Kinder als Begleitpersonen eines Helden erscheinen im "Idioten" zum ersten Mal, um dann von der Nachfolgefigur Myshkins, Alesha Karamazov gewissermaßen "übernommen" zu werden. Das Thema "Kind" selbst be-

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schäftigte den Dichter bereits im "Kleinen Helden" und in "Netochka Nezvanova". In der Art, wie Dostoevskij Kinder schon in den ersten Entwürfen dem "Idioten" zuordnet, wie er vor allem das zunächst sehr konfliktreiche Verhältnis zwischen ihnen und Myshkin, einschließlich der Schläge, die dieser von ihnen erhält, zum Ausdruck bringt, macht die Annahme wahrscheinlich, er habe diese Topik von der Narrenhagiographie übernommen. Es geht bei den Kindern dabei entscheidend nicht um Kinderpsychologie oder -pädagogik, sondern um die Zuordnung zu einem neuen Typus von "Helden". Die Beziehungen zwischen dem "Fürsten" und den Kindern sind nicht psychologischer oder erzieherischer, am wenigsten sentimentaler Art, sondern - und das geht aus den Notizen zum Roman eindeutig hervor - unmittelbarer, wesenhafter Art, wie denn der "Fürst" in seinen Gesprächen und durch sein Wesen überzeugt. "Alle Fragen, sowohl die persönlichen des Fürsten (an denen die Kinder leidenschaftlich Anteil nehmen), als auch die der Gesellschaft, finden in ihm die Lösung, und dabei mehr rührend und naiv...", heißt es in den Notizen. Nicht übersehen werden darf der sozialkritische Aspekt der Beschäftigung mit den Kindern durch den Narren, wie er durch die Gründung eines Waisenhauses in der eigenen Wohnung im Entwurf "Jurodivyj", nicht aber im Roman selbst zum Ausdruck kommt.

Der im Entwurf "Jurodivyj" neben den Kindern im Zentrum stehende Topos der alten Kleider spielt im Roman selbt eine nicht unwichtige Rolle. Myshkin kommt nach Petersburg zwar nicht in Lumpen, aber doch in sehr abgetragenen Kleidern. Er wird von "talentierten Schneidern" so modern eingekleidet, daß seine Erscheinung zum Lachen reizt. Als die Generalin "Epanchin Myshkin neu einkleidet, nennt sie ihn in diesem Zusammenhang einen "urod" oder "urodik" (vgl. oben Entwurf "Kartuzov").

Der Skandal in seinem forensischen Aspekt gehört zu den technischen und dramatischen Meisterstücken im Werk Dostoevskijs, wie er sie zum ersten Mal im "Doppelgänger" demonstriert hat. Im Roman "Der Idiot" erhält er eindeutig Züge des Narren-podvig. Der Ohrfeigentopos, bereits in dem des Kinderschemas angesiedelt, steht im Mittelpunkt der hochdramatischen Szene, in der der Jurodivyj und "Fürst-Christus" im "unsichtbaren Kampf" (podvig) mit den Dämonen der Leidenschaften von Ganja eine Ohrfeige erhält (I, 10). In den Skandal Szenen, die der klassische Salós provoziert, wird die Oberflächlichkeit des Christentums herausgefordert und zur Besinnung aufgefordert, wobei der Salós dafür Prügel bekommt. Genau auf diesen Effekt zielen die von Myshkin bewußt oder unbewußt inszenierten Skandale ab. Es liegt im "synthetischen" Charakter der Figur des "Fürsten", daß seine Skandale auf den idealen Prototyp Christus hinweisen, den Rom. 9, 33 als "Stein des Ärgernisses (petra skandalu)" bezeichnet. "Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden." Und dieser Aspekt geht weit hinaus über die Figur des Goljadkin und seines gesellschaftlichen Skandals am Schluß des "Doppelgängers". Er wird in seiner ganzen Tiefe verständlich erst im hagiographischen Typus des "Narren um Christi willen". Sein Skandal besitzt einen umfassenden forensischen Effekt im Sinne des Neuen Testaments: Er klagt an, legt bloß, zeigt Wege zur Buße und Umkehr. Der "Fürst-Christus" birgt in sich eine andere Dimension als

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Die vielschichtigen Beziehungen zwischen Myshkin und Nastasja Filippov-na stellen bekanntlich eine wesentliche Vertiefung des Kameliendamen-Motivs westlicher Romane des 19. Jahrhunderts dar. Schon in den Apophthegmata findet sich das Motiv der Dirnenerlösung durch einen Geron. Der mit Dirnen tanzende Salós, der auch Bordelle besucht, gehört zum Schemabestand der Narrrenviten. Unter Heranziehung nichtkanonischer Schriften und von Renans "Vie des Jesus" (Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena) hat Dostoevskij auch diesem Gedankenkomplex eine Richtung gegeben, die man im Hinblick wiederum auf den "synthetischen" Aufbau der Figur Myshkins als "soteriologisch" umschreiben könnte, wie sie in der dramatischen Schlußszene deutlich zum Ausdruck kommt. Dabei darf allerdings ein Nebenzug nicht übersehen werden. Myshkin ist nicht völlig ein Jurodivyj aus Freiwilligkeit, sondern auch aus physischer Notwendigkeit, also nicht ganz ein "Narr um Christi willen." Diese Determi-niertheit des "Fürst-Christus" bestimmt nicht nur sein Verhältnis zu den Frauen. Seine Epilepsie gibt dem Dichter auch die Möglichkeit, der Gestalt Myshkins eine Reihe autobiographischer Züge mitzugeben, möglicherweise, ihn, Dostoevskij, als eine Art von vielen seiner Zeitgenossen verlachter "Jurodivyj" in versteckter Weise darzustellen. Im streng hagio-graphischen Kontext bedeutet das Dirnenmotiv eine asketische Leistung, das völlige Abgestorbensein der Sinnlichkeit. Myshkins verlegener Hinweis, daß seine Krankheit ihm den Umgang mit Frauen unmöglich mache, und Rogozhins sofortige Reaktion mit der erwähnten Narrenproklamation machen noch diese hagiographischen Hintergründe deutlich. Das Leben des Asketen, vor allem des Salós, als "engelgleiches Leben" (bios angelikos), wie ihn die Literatur der Alten Kirche und ihre Nachfolger verstanden, wurde von Dostoevskij ebenfalls in den "Meditationen" von 1864 reflektiert: "Dieser Zug ward vorhergesagt und vorhergesehen von Christus, dem großen und letzten Ideal der ganzen Menschheit, das uns nach dem Gesetz unserer Geschichte im Fleisch vorgestellt ist. Dieser Zug ist: 'Sie werden weder ein Weib nehmen noch heiraten, sondern leben wie die Engel Gottes' - ein tief bedeutsamer Zug." Unter den ambivalenten, schillernden Eigenschaften des "Fürst-Christus" wird man ihm auch diesen Zug zusprechen dürfen, daß der Dichter in ihm die endzeitliche Synthese einer idealen, von allen Zwängen befreiten, an der Menschenwerdung Christi sich orientierenden Menschheit gesehen wissen wollte. Diese Verwandlung der Menschheit ist eschatologisch zu verstehen, "weil (immer nach den "Meditationen") dieses das Ideal des zukünftigen, endgültigen Menschenlebens sein wird..., wenn der Mensch gemäß den Naturgesezen endgültig umgeschaffen sein wird in eine andere Natur". Es ist interessant zu verfolgen, wie bei Dostoevskij genuin asketisch-hagiographische Vorstellungen sich im Laufe eines komplizierten schöpferischen Prozesses zu einer Figur verdichten, deren (leicht resignierender) poetischer Zauber in der durch sie verkörpertem religiösen Utopie besteht.

Der Salós besitzt zwei, miteinander verbundene Charismata, das, was das Neue Testament und die asketische Literatur die "diakrisis", die Unterscheidung der Geister nennt, und die Prophetie, das Vorhersehen bestimm-

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ter Ereignisse. In den Aufzeichnungen zum Roman findet sich eine Notiz, in der beinahe die Gesamttopik der Narrenvita vereinigt ist: "Sich selbst schätzt er niedrig und schlechter als alle anderen ein. Er durchschaut die Gedanken der ihn Umgebenden. Er sieht voll und klar ein und ist auch überzeugt, daß sie ihn für einen Idioten halten. Unter Kindern stößt er auf Menschen und auf seine Gesellschaft." In der Tat ist die "diakrisis" Myshkins ein konstanter und sein Verhältnis zu den Personen des Romans bestimmender Charakterzug. Seine Gabe der Prophetie wird im Gespräch mit der Generalin Epanchina und ihren Töchtern demonstriert, in dem er das Schicksal Aglajas und Nastasja Filippovnas vorhersagt.

Zu den besonderen Charakteristika des "Fürst-Christus" gehört sein Lächeln. I. Z. Belobrovceva ist in ihrem interessanten Aufsatz "Mimika i zhest u Dostoevskogo" zwar bei anderen Romangestalten des Dichters auch auf das Lachen bzw. Lächeln eingegangen, leider nicht bei Myshkin, dessen differenzierter Gestik sie besondere Aufmerksamkeit schenkt. Überblickt man die zahlreichen Passagen, in denen von dieser speziellen Mimik die Rede ist, dann fällt auf, daß der Fürst sehr selten laut lacht -wie man im Deutschen sagt "lauthals lacht". Von einem schallenden Gelächter (zakhokhotal), von einem "furchtbaren Lachen" (khokhotal uzhasno), von einem "schrillen Lachen" (smejas' vskrichal) wird nur in der Szene berichtet, in der Keller Myshkin die Notwendigkeit vorträgt, daß er, Myshkin, sich duellieren müsse. In der Tat eine Vorstellung, die zu starkem Lachen reizen muß! (III, 3). Bezeichnend ist die Charakteristik, die Ippolit von Myshkin gibt (III, 5): "Ich erwiderte ihm lachend (smejas'), daß er wie ein Materialist rede. Er antwortete mir mit seinem Lächeln (so svoeju ulybkoj), er sei ja immer ein Materialist gewesen. Da er niemals lügt, haben auch diese Worte ihre Bedeutung. Er hat ein gutes Lächeln (ulybka ego khorosha); ich habe ihn jetzt aufmerksamer betrachtet. Ich weiß nicht, ob ich ihn jetzt liebe oder nicht... Mein fünf Monate währender Haß, so muß ich bemerken, ist jetzt völlig verflogen." Auch aus anderen Stellen geht hervor, daß Dostoevskij seinen Idiot-Jurodivyj nur ausnahmsweise laut lachen läßt. Seine ihm wesensmäßige Mimik ist das Lächeln (usmekhat'sja, ulybat'sja). Auf der anderen Seite ist bemerkenswert, daß nicht selten die Ernsthaftigkeit Myshkins die Anwesenden zum Lachen reizt, wie in der Szene, in der er Lebedevs Meinung über die weltgeschichtliche Bedeutung des Verzehrs von Mönchen im Mittelalter zustimmt (III, 4). In der großen Skandalszene im Zusammenhang mit der geplanten Verlobung mit Aglaja, mitten in seiner Rede, sagt Myshkin über sich selbst: "Ich fürchte immer, durch mein lächerliches Wesen (moim smeshnym vidom) den Gedanken und die Hauptidee zu kompromittieren. Ich verstehe nichts von Gestik. Ich mache immer Bewegungen, die den normalen entgegengesetzt sind, und das provoziert Gelächter (vyzyvaet smekh) und erniedrigt die Idee." (IV, 7). Unvergeßlich bleibt die bereits erwähnte Skandalszene, in der Myshkin von Ganja georfeigt wird. Zwei Mal wird gesagt, daß der "Fürst-Christus" dieser Ohrfeige mit "einem ganz und gar unpassenden Lächein" (sovershenno nepodkhodjashchaja ulybka) begegnete. Die Gründe für dieses depläzierte Lächeln Myshkins sind vielschichtig. Zunächst widerspricht es dem natürlichen Verhalten eines Menschen, der eine Ohrfeige erhält. (Übrigens: wer sich noch des Mosfilms

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"Der Idiot" erinnert, der wird sich auch der eindrucksvollen Leistungen des Schauspielers entsinnen, der neben anderen gerade in dieser Szene das Lächeln Myshkins darzustellen hatte.) Auf der anderen Seite entspricht das Empfangen von Ohrfeigen dem asketischen Wesen der Kenose des Gottesnarren, d. h. er hat Veranlassung sich hierüber zu freuen (vgl. auch Matth. 5, 39). Diesem Gefühl darf er aber tunlichst nicht lauten Ausdruck geben. In der Apophthegmenliteratur ist Lachen unerwünscht, höchstenfalls ein feines Lächeln gestattet. Von Abbas Pambo wird berichtet, "daß sein Gesicht niemals ein Lächeln sehen ließ." Einmal jedoch brachten ihn die Dämonen zum Lachen. Seine Antwort auf ihr Triumphgeschrei war, daß er sie wegen ihrer Schwäche verlacht habe. Wir dürfen das Lächeln Myshkins, dieses eigenartige, etwas schiefe, aber aufrichtige, nicht selten zugleich auch der gesellschaftlichen Situation nicht entsprechende bis unpassende Lächeln mit dem des Gottesnarren in Verbindung bringen. Das Lächeln Myshkins ist eine Verhaltensweise, die ihn von der menschlichen Gesellschaft nicht nur unterscheidet, sondern auch von ihr trennt. Es ist ein asketischer Akt von hoher Ernsthaftigkeit. Aus diesem Grunde wird man entgegen Bakhtin nicht von einer Karnevalisierung des Weltempfindens im Roman "Der Idiot" sprechen können. Es ist nicht die "verkehrte Welt" (Curtius), wie sie in der Karnevalisierung der Gesellschaft zum Ausdruck kommt, sondern es ist die in ihrer Konfrontation mit der "synthetischen" Gestalt des "Fürst-Christus" sich selbst entlarvende "schmutzige und niederträchtige Menschheit" (Memento vom 24. Dezember 1877). Aber im Umkreis dieser Gottesnarren fallen nicht nur Masken, wird nicht nur die Niedertracht des Menschen aufgedeckt. "Ich schrieb einen phantastischen Roman, aber noch nie hat es wirklichere Charaktere gegeben. Durst nach Liebe und Wahrheit (zhazhda ljubvi i pravdy), Stolz und Nichtachtung der eigenen Person" (Notiz vom 6. November 1868). Noch ein hiermit zusammenhängender Zug sei erwähnt. Das Erscheinen, die Epiphanie (pojavlenie) des "Fürst-Christus" und Gottesnarren in dieser Welt bedeutet zugleich, daß schon jetzt, mit dieser Epiphanie das Gericht (krisis) über sie hereingebrochen ist. Dostoevskij, der, wie die Aufzeichnungen gerade zum Roman "Der Idiot" zeigen, das Johannes-Evangelium besonders liebte, hat diese Botschaft des vierten Evangeliums (vgl. Joh. 3, 19; 5, 24; 9, 39) auf dichterische Weise an Myshkin und den ihm begegnenden Menschen zur Darstellung gebracht.

Vielleicht ist noch ein Topos speziell der russischen Narrenviten erwähnenswert. Eine Reihe von Jurodivye kamen, wie schon erwähnt, aus dem heterodoxen Westen, um in der russischen Orthodoxie ihre geistig-geistliche Heimat zu finden. Möglicherweise steht dieser Allgemeinplatz mit der utopischen religiösen Ideologie von "Moskau, dem dritten Rom" im Zusammenhang. Er findet sich z. B. auch in der legendären Reise auf einem Stein von Italien nach Novgorod in der Vita Antonijs "des Römers". Auch Myshkin kommt aus dem "heterodoxen" Westen, zudem noch aus der Schweiz eines Jean-Jacques Rousseau, dessen Ideen Dostoevskij für nicht wenige angebliche Verderbnisse des Westens verantwortlich gemacht hat. In seiner Personalität ausgelöscht, wieder zum Idioten geworden, läßt er seinen Gottesnarren allerdings wieder in den Westen zurückkehren. -

 

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Es wäre übertrieben, wollte man die Narrentopik als einziges Aufbauprinzip Dostoevskijs bei der Arbeit am Roman "Der Idiot" hinstellen. Es läßt sich aber ebensowenig leugnen, daß sie eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Der Dichter eliminierte aus der russischen Narrenvita alle wilden, bizarren Einzelheiten, alles sozusagen "Unappetitliche", was im übrigen seiner kritischen Einstellung dem historischen Jurodivyj, wie gezeigt, entsprach. Mit Hilfe dieser Entgrenzung eines bestimmten fixierten und hagiographisch determinierten literarischen Typus gelang ihm eine Gestalt, die ihm seit den Aufzeichnungen des Jahres 1864 ständig vorgeschwebt hatte. Dabei konnte er nicht nur eine Reihe von Narrentopoi verwenden, sondern auch die wichtigsten Motivationen derselben, vor allem den sozialen Protest, seine, des Dichters antibürgerliche Einstellung, nicht zuletzt im Hinblick auf die Verbürgerlichung des Christentums und seine eigenen Vorstellungen vom Christentum als einer Religion der Humanität, des grenzenlosen Verstehens und Verzeihens. Der Typus des Jurodivyj entsprach in idealer Weise der gerade von Dostoevskij besonders gepflegten Technik der indirekten Aussage. Der "positiv schöne Mensch" durfte nicht direkt, unmittelbar zur Darstellung gelangen. Das hätte ihn von vorneherein unglaubwürdig gemacht. Auf der anderen Seite durfte die Komik dieser Gestalt nicht ins Karnevalistische ausarten, ihm mußte der Reiz der chiffrierten Aussage einer überaus ernsten, entscheidenden Mitteilung bleiben. Damit war die Möglichkeit gegeben, den Leser mit der Gestalt des neuen Gottesnarren gleichzeitig zu machen, ihn aufzufordern, sich mit ihm zu identifizieren. Aus allen diesen Gründen entschied sich Dostoevskij, seinen Roman nicht "Jurodivyj" sondern "Der Idiot" zu nennen.-

R. G. Nazirov hat in seinem Aufsatz über die Prototypen der Figur Myshkins den Grafen Kushelev-Bezborodko herausgestellt. Es wäre zu erwägen, ob nicht im Zusammenhang mit dem Jurodivyj-Thema ein anderer Zeitgenosse Dostoevskijs genannt werden sollte: die tragische Gestalt des Archimandriten Bukharev (1824-71), im Mönchsstand Vater Fedor. Er war Professor der Theologie an den Geistlichen Akademien in Moskau und Kazan' und Verfasser einer theologischen Untersuchung der Apokalypse. Als Opfer verschiedenster Intrigen klerikaler Kreise, nicht zuletzt auch deshalb, weil er die Unbeweglichkeit der zeitgenössischen Orthodoxie scharf kritisierte, trat er aus dem Mönchsstand aus und lebte und bezeichnete sich selbst als "Narr um Christi willen". In seiner 1866 erschienenen "Apologie" verteidigte er das Jurodstvo ausdrücklich. Zu seinen späteren theologischen Vorstellungen gehörte auch eine Art vom "zeitweiligen Arianismus", d. h., daß die Kirche vorübergehend die göttliche Natur Christi zugunsten seiner menschlichen verschweigen, wenn auch keinesfalls verleugnen sollte. Damit sollte erreicht werden, daß Christus wieder zu einem umfassenden Prinzip einer orthodoxen Kultur erkannt werden könne. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, wie diese Vorstellungen Bukharevs sich bei Dostoevskij wiederfinden, vor allem in den "Brüdern Karamazov". Die "Bukharevshchina" hat im 19. Jahrhundert weite Kreise der russischen Gesellschaft bewegt und beschäftigt. Es ist völlig unwahrscheinlich, daß Dostoevskij eine Ausnahme gebildet hat (vgl. auch Literaturnoe Nasledstvo 86, 1973, 349, 4O7f., 438). Eine detaillier-

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tere als von mir angestellte Untersuchung der Beziehungen zwischen Bukharev und Dostoevskij scheint mir ein lohnenswertes Unternehmen zu sein. Es dürfte auch meine Annahme bekräftigen, daß diese Gestalt eines zeitgenössischen Jurodivyj auf die Entstehung der Figur des Myshkin wesentlich miteingewirkt hat.

LITERATUR

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University of Toronto
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