Dostoevsky Studies     Volume 1, 1980

SCHULD UND FREIHEIT: DOSTOEVSKIJ, DREISER UND RICHARD WRIGHT

Horst-Jürgen Gerigk, Universität Heidelberg

Die hier vorgelegten Überlegungen betreffen Dostoevskijs "Brüder Karamazov" (1879/80), Dreisers "An American Tragedy" (1925) und Richard Wrights "Native Son" (1940). In allen drei Werken steht ein Justizirrtum im Zentrum des Interesses. In allen drei Werken wird der Angeklagte auf Grund einer Tat, die er nicht begangen hat, für schuldig befunden und verurteilt.

Allen drei Autoren geht es um die Frage nach dem Wesen des Verbrechens, nach dem Wesen des Bösen. Jeder dieser drei Autoren gibt auf diese Frage eine andere Antwort, denn jeder der drei Autoren entwirft uns ein anderes Bild vom Menschen. Es soll im folgenden die These dokumentiert werden, daß Dreiser und Wright die Position Dostoevskijs schrittweise destruieren. "Native Son" (1940) ist die polemische Gegenposition zu den "Brüdern Karamazov" (1879/80); und Dreiser steht mit "An American Tragedy" (1925) genau zwischen Dostoevskij und Wright. Sobald diese drei Werke in chronologischer Folge betrachtet werden, erschließt sich ein Kontext, der für ihre angemessene Deutung zweifellos entscheidende Einsichten bereitstellt. Dostoevskij, Dreiser und Wright belegen mit der Gestaltung der Welt des Angeklagten jene Wandlung, die die Vorstellung von der Natur des Verbrechers in den letzten hundert Jahren durchgemacht hat.

In allen drei Fällen ist der Justizirrtum die Folge der von der Anklage geltend gemachten Gesinnung des Angeklagten. Dmitrij Karamazov, Clyde Griffiths und Bigger Thomas werden im Lichte der ihnen zur Last gelegten Gesinnung für schuldig befunden und verurteilt. Die Konstruktion des Justizirrtums dient in allen drei Fällen dazu, die Gesinnung des Angeklagten uns wie ein Präparat vor Augen zu führen.

In der Haltung des Angeklagten zu der ihm zur Last gelegten Gesinnung zeigt sich die Eigenart des jeweils maßgebenden Begriffs vom Menschen. Konkret gesprochen: Dmitrij Karamazov findet seine Identität durch Annahme der Strafe für eine Tat, die er zwar bewirkt, aber nicht begangen hat. Für Dmitrij Karamazov wird es auf dem Boden des Christentums möglich, das ungerechte Urteil des staatlichen Gerichts im Lichte einer verborgenen Wahrheit als insgeheim gerecht anzuerkennen.

Eine solche Aussöhnung mit der Wirklichkeit fehlt bei Wright. Auf dem Boden des Kommunismus wird das Urteil des staatlichen Gerichts als

124

grundsätzlich ungerecht gekennzeichnet, nämlich als Resultat einer verwerflichen Legalität. Bigger Thomas findet deshalb seine Identität in der revolutionären Bejahung jener Gesinnung, die ihn auf den elektrischen Stuhl bringt.

In der Welt Dostoevskijs bedeutet die Bejahung des Verbrechens den Verlust der Identität; in der Welt Wrights bedeutet die Bejahung des Verbrechens den Gewinn der Identität.

Dreisers Welt hingegen ist dadurch gekennzeichnet, daß die christliche Religion ihre wirklichkeitsschaffende Macht verloren hat und gleichzeitig der revolutionäre Appell kommunistischer Ideologie noch unbekannt ist. Wer hier strauchelt, sieht sich deshalb einer eigentümlichen Leere ausgesetzt. Für ein Erwachen zur Sittlichkeit fehlt die Voraussetzung ebenso wie für die revolutionäre Bejahung der eigenen Untat. Die Weit wird weder so, wie sie ist, akzeptiert (Dostoevskij), noch im Namen einer besseren Zukunft verneint (Wright).

Dostoevskij, Dreiser und Wright liefern uns jeweils eine Meditation über das Verhältnis von Schuld und Freiheit. Um das jeweils verschiedene Fazit begrifflich zufassen, sei auf Kants Moralphilosophie zurückgegangen.

Dostoevskij gestaltet ausschließlich den "intelligiblen" Menschen. Die Voraussetzung der Freiheit schafft die Möglichkeit der absoluten Schuld des einzelnen, denn Freiheit ist "das Vermögen, nur durch Vernunft determiniert zu werden, und nicht bloß mittelbar, sondern unmittelbar", also "moralisch" (Kant).1 In der Welt Dostoevskijs ist die Wirklichkeit des Bösen die unmittelbare Folge freiheitlich gewählter böser Maximen. Alle psychologische Exkulpation verfehlt den "intelligiblen" Menschen, dessen Zurechnungsfähigkeit unter jeglichen Umständen erhalten bleibt. Das Böse hat kein Motiv: es wird um seiner selbst willen gewollt.

In der Welt Dreisers hat der "empirische" Mensch über den "intelligiblen" Menschen gesiegt. Die Beurteilung der Genese des Bösen auf Grund des "kategorischen Imperativs" wird zum Unrecht gegenüber dem "empirischen" Menschen. Das Böse wird niemals als solches bejaht, sondern ist mögliches Resultat eines kalkulierten Risikos. Das Risiko wird eingegangen im Namen der erstrebten sozialen Anerkennung, die an den materiellen Erfolg geknüpft ist. Ein Erwachen zur sittlichen Persönlichkeit findet nicht statt, denn die Stimme des Gewissens verfehlt die Situation des "empirischen" Menschen.

In der Welt Wrights ist das Erwachen zur sittlichen Persönlichkeit möglich. Sobald es stattfindet, zeigt sich jedoch die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Kulturzustands. Das Ergebnis ist ein Verbrechen aus Verzweiflung. Das Böse ist hier als Reflex der verweigerten Menschenwürde definiert. Die Reduktion des Menschen auf seine "Tierheit" wird mit Entsetzen wahrgenommen, ohne daß auf den Anspruch des "intelligiblen" Menschen auch nur einen Moment verzichtet würde. Im Verbrechen meldet sich die sittliche Persönlichkeit ex negative, sobald ihr nämlich der positive Lebensraum verweigert wird.

 

125

Alle drei Autoren schildern uns die Vorgänge vor Gericht mit alier Ausführlichkeit. Jedesmal gerät der Angeklagte in den Hexenkessel der Indizien, die sämtlich gegen ihn sprechen. In allen drei Fällen führen die Argumente des Staatsanwalts zur Verurteilung des Angeklagten. Und in allen drei Fällen werden wir, die Leser, vor die Frage gestellt, ob nicht die Argumente der Anklage insgeheim zu rechtfertigen sind. Nur in den "Brüdern Karamazov" wird jedoch diese Möglichkeit positiv eingelöst. Allerdings ist auch hierzu sogleich noch ein besonderes Wort notwendig. Soviel ist jedoch schon jetzt festzustellen, daß sowohl in "An American Tragedy", als auch in "Native Son" die Argumente der Anklage als ungerecht gestaltet werden.

Es ist nun notwendig, Kants Vorstellung von einem "Gerichtshof im Inneren des Menschen" in Erinnerung zu bringen, um deutlich zu machen, daß in allen drei Werken dasselbe Argumentationsmuster mit allerdings unterschiedlichen Intentionen verwendet wird.2 Wo das Gewissen schuldig spricht, hat, so erläutert Kant, die "Führung einer Rechtssache vor Gericht" stattgefunden. Der hier zuständige Gerichtshof ist im "Inneren des Menschen aufgeschlagen", und die Eigenart dieser Gerichtsverhandlung besteht darin, daß Angeklagter, Ankläger, Verteidiger und Richter als ein und dieselbe Person zu denken sind. Dennoch ist es nicht so, daß der Ankläger deshalb jederzeit verlieren würde. Vielmehr halte der Mensch das "Richteramt" aus "angeborener Autorität" selbst in Händen: dadurch wird eine Verurteilung des Menschen durch sich selber "nach der Strenge des Rechts" möglich. Der "innere Richter" in uns kann sich weder irren, noch können wir ihn jemals abschaffen; wir können zwar seine "furchtbare Stimme" unberücksichtigt lassen, aber nicht vermeiden, sie zu "hören".

Das Urteil eines staatlichen Richters ist dann gerecht, wenn es sich in Übereinstimmung mit dem Urteil des "inneren Richters" im Angeklagten selbst befindet. Und die einzige Frage, die für den "inneren Richter" von Belang ist, lautet: Ist der Tatbestand die Folge einer verwerflichen Maxime des Angeklagten? Die Verwerflichkeit einer Maxime aber bemißt sich ausschließlich nach dem "kategorischen Imperativ".

Es bedarf keiner Hervorhebung, daß es für den staatlichen Richter eine schwierige Aufgabe ist, das Strafmaß "proportionierlich mit der inneren Bösartigkeit der Verbrecher" (Kant)3 festzusetzen, denn die Innerlichkeit des Angeklagten ist ja zumeist nur über Indizien zu erschließen, die eine Deutung erfordern und deshalb auch mißdeutet werden können.

Oft wird deshalb der innere Richter im Angeklagten selbst ein anderes Urteil fällen als der staatliche Richter. So kann etwa das Urteil des staatlichen Richters milder ausfallen als das Urteil des inneren Richters, wenn entscheidende Momente des Tatbestandes dem Gericht nicht bekannt werden. Oder es kann jemand auf Grund seiner rein äußerlichen Ähnlichkeit mit dem Täter in Verdacht geraten und verurteilt werden, obwohl er mit dem Tatbestand überhaupt nichts zu schaffen hatte. Die

 

126

Möglichkeiten einer Differenz zwischen dem Urteil, das das Gewissen des Angeklagten fällt, und dem Urteil, das auf Grund des Strafgesetzes gefällt wird, sind offensichtlich sehr verschiedenartig. Dostoevskij, Dreiser und Wright machen von einer ganz bestimmten Möglichkeit solcher Differenz Gebrauch. Sie konstruieren einen "Tatbestand", der durch Zufall so aussieht, als sei er der Beleg für die verwirklichte Gesinnung des Angeklagten. Jeder der drei Autoren interpretiert diesen Zufall anders. Betrachten wir nun nacheinander die drei verschiedenen Tatbestände.

I. Der Tatbestand in den "Brüdern Karamazov"

Jeder weiß: In den "Brüdern Karamazov" wird geschildert, wie Fedor Karamazov von Pavel Smerdjakov heimtückisch ermordet wird. Durch eine Reihe von Umständen wird jedoch Dmitrij Karamazov für den Mörder gehalten und zu zwanzig Jahren Zuchthaus in Sibirien verurteilt. Smerdjakov erhängt sich in der Nacht vor der Gerichtsverhandlung, und Dmitrij Karamazov nimmt die Strafe für eine Tat an, die er nicht begangen hat.4

Vergegenwärtigen wir uns, um Dmitrijs Reaktion zu verstehen, Dostoevskijs Problemstellung im Detail. Kernstück der äußeren Handlung sind die Gründe und Hintergründe für die Ermordung Fedor Karamazovs, dessen drei Söhne, Dmitrij (aus erster Ehe), Ivan und Aleksej (aus zweiter Ehe), in der Reaktion auf den Vater jeweils ihren Charakter und ihre Welt enthüllen. Daß Pavel Smerdjakov, ein kastratenhafter Epileptiker, der im Hause Karamazov als Koch angestellt ist, Fedor Karamazovs unehelicher Sohn sei, wird uns nur als Gerücht verbürgt.

Der Roman beginnt mit der Familiengeschichte der Karamazovs, die in eine Darstellung der gegenwärtigen Konfliktsituation einmündet. Dmitrij, der ungestüme, grundehrliche, aber leichtlebige Soldat, bezichtigt seinen Vater der gezielten Vorenthaltung seines mütterlichen Erbanteils. Wie so oft bei Dostoevskij geht es zunächst um eine Handvoll Rubel! Die Hinwendung des genußsüchtigen Vaters zu Agrippina Svetlova, genannt Grushenka, einer "femme fatale", die von Dmitrij angebetet wird, bringt die Situation auf den Siedepunkt. Dmitrij bekennt sich zu offenem Haß auf seinen Vater. Ein repräsentativer Besuch im Kloster, wo der Starec Zosima um Rat und Hilfe im Familienstreit angegangen werden soll, wird von Fedor Karamazov durch tiefsinnige, aber stets bösartige Clownerien zu einer regelrechten Farce umfunktioniert: die drei Brüder sehen sich ihrem zynischen Erzeuger hilflos gegenüber, und der hellsichtige Zosima ahnt bereits die heraufziehende Katastrophe in ihrem Resultat voraus.

Dmitrij droht seinem Vater schließlich, ihn umzubringen. Doch auch in Ivan, dem Zweitältesten der Brüder, ist bereits der Mordgedanke aufgekeimt und lebendig geblieben. Ivan, der intellektuelle Grübler, verpflanzt indessen seine Absicht in die Seele Smerdjakovs, der sich ihm mit abgründiger Raffinesse als Werkzeug anbietet. Ohne es auszusprechen, beauftragt Ivan den Lakaien Smerdjakov mit der Ermordung des Vaters und hält sich in der ausersehenen Nacht, in gleichzeitiger Hoffnung auf

127

die Täterschaft Dmitrijs, in weiter Ferne vom väterlichen Hause auf. Aleksej ist währenddessen von den Geschehnissen im Kloster absorbiert, wo er dem Starec Zosima die letzte Ehre erweist, der für ihn die Rolle eines geistigen Vaters angenommen hatte. In solcher Nacht sieht sich Dmitrij in die äußerste Gefährdung gebracht: Seine Suche nach Grushenka ist vergeblich verlaufen und er glaubt plötzlich, daß sie sich nur bei seinem Vater aufhalten könne. Aus einer einsamen und unbewohnten Gasse klettert Dmitrij über jenen festen und hohen Zaun, der das väterliche Anwesen umgibt, schleicht vorsichtig durch den stillen und dunklen Garten zum erleuchteten Fenster und macht am Fensterrahmen jenes Klopfzeichen, das, wie er weiß, Smerdjakov mit seinem Vater für den Fall verabredet hat, daß Grushenka gekommen sei. Sofort erscheint Fedor Karamazov am Fenster und flüstert mit erregter Stimme Liebesworte in den dunklen Garten. Dmitrij ersieht daraus zwar, daß Grushenka nicht gekommen ist, doch verursacht ihm das Profil seines Vaters mit dem vorspringenden Adamsapfel unsäglichen Widerwillen. Dmitrij ist seiner Sinne nicht mehr mächtig und hebt jenen unterwegs beiläufig aufgegriffenen Mörserstößel zum tödlichen Schlag.

Im letzten Augenblick läßt er jedoch von seinem Vorhaben ab und entflieht. So kann Smerdjakov, der sich durch einen simulierten epileptischen Anfall vorsorglich ein Alibi verschafft hat, die Situation nutzen: Er schlägt dem nichtsahnenden Fedor Karamazov mit einem gußeisernen Briefbeschwerer den Schädel ein und verschwindet wieder in seinem Krankenbett.

Dmitrij Karamazov wird für diese Tat verhaftet, von den Geschworenen für schuldig befunden und zu zwanzig Jahren Zuchthaus in Sibirien verurteilt. Smerdjakov hat sich nach seinem Geständnis gegenüber Ivan im vollen Wissen um die Folge seines Tuns erhängt. Als sich Ivan vor Gericht auf den toten Zeugen beruft, glaubt man ihm nicht. Die Gerichtsversammlung ist der kompositorische Höhepunkt des Romans: Alles Geschehen wird hier rekapituliert und mit der Schuldigsprechung Dmitrijs einem völlig unerwarteten Fazit zugeführt.

Der Epilog konfrontiert uns mit der denkbar radikalsten Provokation: Dmitrij ist entschlossen, die Strafe für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat, auf sich zu nehmen. Was hatte Dotoevskij mit solcher Pointe im Sinn?

Eine befriedigende Antwort auf diese Frage ist nur möglich, wenn davon ausgegangen wird, daß die "Brüder Karamazov" zwei verschiedene Lesarten anbieten: eine "allegorische" und eine "realistische". Um Dostoevskijs eigenartige Problemstellung zu erfassen, müssen beide Lesarten vollzogen und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dostoevskijs Konstruktion zielt darauf ab, innerhalb der Realität einen allegorischen Sinn aufleuchten zu lassen.

Auf der realistischen Ebene sind die "Brüder Karamazov" die Geschichte eines Justizirrtums, denn nicht Dmitrij hat gemordet, sondern Smerdjakov.

 

128

Auf der allegorischen Ebene hingegen sind die "Brüder Karamazov" die Geschichte eines absolut gerechten Urteils, denn hätte Dmitrij sich nicht bis an die Schwelle des Tatentschlusses vorgewagt, so hätte Smerdjakov nicht gemordet. Selbst die Bereitstellung des tatsächlichen Täters durch Ivan Karamazov hätte die Vollendung des Verbrechens nicht herbeiführen können. Erst Dmitrijs Verhalten setzt Smerdjakov in Gang. Smerdjakov schlüpft mit diabolischer Einfühlungsbereitschaft ganz in die Rolle, die ihm Dmitrij bereitstellt.

Sobald davon ausgegangen wird, daß die Gerichtsverhandlung in den "Brüdern Karamazov" das Funktionieren des Gerichtshofes im Inneren des Menschen veranschaulicht, ist die Verurteilung Dmitrijs als gerecht anzuerkennen. Der Angeklagte besteht in solchem Kontext aus vier Komponenten: Aleksej (I), Ivan (II), Dmitrij (III) und Smerdjakov (IV). Jede dieser Komponenten ist durch eine bestimmte Haltung zum bösen Wunsch gekennzeichnet. Abgewiesene Bejahung: Aleksej; insgeheime Bejahung: Ivan; offene Bejahung: Dmitrij. Smerdjakov ist der Exekutor der offenen Bejahung. Jede dieser Komponenten wird von Dostoevkij mit einem bestimmten Rollentypus gekoppelt: Aleksej ist der "Mönch", Ivan der "Intellektuelle", Dmitrij der "Soldat" und Smerdjakov der "Lakai". Auf der allegorischen Ebene kommt mithin eine Person, die einen Mord begangen hat, in ihren vier Komponenten, deren jede eine feste Haltung zur Wirklichkeit des Bösen repräsentiert, vor Gericht. Aufgabe des Gerichtes ist es, zu entscheiden, welche Komponente für die Tat verantwortlich ist.

Dostoevskij demonstriert uns am Beispiel der vier Brüder eine Phasen- und Wesenslehre des Bösen. Es wird uns eine Theorie über die Genese der Wirklichkeit des Bösen vorgelegt. Die Wirklichkeit des Bösen als vollzogene Untat kann nur Zustandekommen, wenn sie zuvor ausdrücklich gewünscht wird. Der böse Wunsch muß, um Wirklichkeit zu werden, verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen. Er taucht zunächst nur dunkel als Ahnung einer Möglichkeit auf und kann in dieser ersten Phase noch leicht abgewiesen werden. Repräsentant dieser ersten Phase ist Aleksej. Das Böse keimt auch in ihm auf, wird aber sofort gebändigt und abgewiesen. In seiner zweiten Phase wird der böse Wunsch insgeheim gebilligt, niemals aber offen ausgesprochen. Diese Phase wird durch Ivan repräsentiert. Ivan wünscht, ein anderer möge ausführen, was er selber nur zu denken wagt. Durch solche Haltung wird der potentielle Täter bereitgestellt. In seiner dritten Entwicklungsphase schließlich gelangt der böse Wunsch in die offene Bejahung und wird damit zum bösen Willen. Repräsentant dieser Phase ist Dmitrij. Nachdem der Wunsch die offene Bejahung durchlaufen hat, verwirklicht er sich. Exekutor des Wunsches ist Smerdjakov. Er repräsentiert die vierte und letzte Phase der Genese des Bösen: dessen Umschlagen ins Wirkliche.

Mit einem Wort: Der verwerfliche Wunsch hat die Phase des Aufkeimens, der insgeheimen Bejahung und der offenen Bejahung zu durchlaufen, um sich verwirklichen zu können. Drückt man solches Geschehen durch die den aufgeführten vier Komponenten zugeordneten Rollentypen aus, so formuliert sich der Sachverhalt auf folgende Weise: Der "Lakai" (Smerdja-

129

kov) verlängert den Gestus des "Soldaten" (Dmitrij) in Übereinstimmung mit dem Auftrag des "Intellektuellen" (Ivan) ins Wirkliche. Währenddessen kehrt sich der "Mönch" (Aleksej) ab vom Treiben der Welt. Das Verbrechen ist geschehen. Wer ist schuld? Der innere Richter sagt: Dmitrij!

Daß die erste Komponente, Aleksej, nicht ausreicht, um die Wirklichkeit des Bösen herzustellen, bedarf keiner Diskussion. Aber auch die zweite Komponente, Ivan, reicht nicht dazu aus! Mit der insgeheimen Bejahung des bösen Wunsches wird zwar der potentielle Täter bereitgestellt, aber erst die offene Bejahung des bösen Wunsches verwandelt den potentiellen in den wirklichen Täter. Die Täterschaft Smerdjakovs ist von der dokumentierten Gesinnung Dmitrijs abhängig! In einer Welt, die nur einen Aleksej, einen Ivan und einen Smerdjakov kennte, gäbe es zwar den bösen Wunsch in bestimmten Abstufungen, nicht aber die Wirklichkeit des Bösen. Smerdjakov, das Werkzeug des Teufels, kann überhaupt erst durch Dmitrij in Aktion treten. Und darum ist, so argumentiert Dostoevskij, allein Dmitrij für die vollzogene Untat verantwortlich. Ohne Dmitrij kein Mord!

An dieser Stelle sei festgehalten: Auf der allegorischen Ebene der "Brüder Karamazov" kann von einem Justizirrtum nicht die Rede sein, denn verantwortlich für das Faktum des Verbrechens ist allein Dmitrij. Deshalb wird er vom inneren Richter in Gestalt der Geschworenen nach der Strenge des Rechts, nämlich auf Grund der von ihm dokumentierten Maxime des Handelns, schuldig gesprochen. In solchem Zusammenhang wird auch deutlich, warum der Verteidiger ein "gemietetes Gewissen" genannt wird. Fetjukovich kann gar keine eigene Wahrheit anbieten, sondern hat lediglich die Funktion, die Argumente zu destruieren.

Was als allegorische Lesart der "Brüder Karamazov" gekennzeichnet wurde, ist aus der Sicht der betroffenen Gestalten eine Sinnfiguration, die "wie eine Allegorie" im Wirklichen aufleuchtet. Die Wirklichkeit des Gewissens wird für einen Moment identisch mit der Wirklichkeit des Staates, so zwar, daß der Staat dies nicht bemerkt, denn sein Gericht ist ja auf alle Zeit davon überzeugt, daß Dmitrij der wirkliche Täter sei. In der Sprache Dostoevskijs heißt dies, daß die göttliche Wahrheit im Gewand der irdischen Gerechtigkeit auftritt; und das ist nur dadurch möglich, daß das staatliche Gericht nicht bemerkt, was es in Wirklichkeit tut.

Man beachte, daß die beirrende prophetische Verneigung des Starec Zosima vor Dmitrij Karamazov bereits zu Beginn des Romans als "Emblem" und "Allegorie" bezeichnet wird.5 Dmitrij erlebt die Wirklichkeit einer Welt, die solcher Allegorie gehorcht, in ihrer nackten Unmittelbarkeit. Nicht daß Dmitrij Unrecht erträgt, macht sein Leiden aus, sondern daß er Recht erträgt. Denn nicht für eine "Gedankensünde" nimmt Dmitrij die Strafe auf sich, sondern für die faktische Erwirkung des Verbrechens. Es ist nun deutlich geworden, daß der Schuldspruch der Geschworenen gleichzeitig als "ungerecht" und als "gerecht" bezeichnet werden kann, ohne daß damit ein Widerspruch in der Sache selbst gegeben wäre. In dem, was dieses Gericht selber von sich weiß, verdient es nichts als blanken

130

Hohn; im Dienste der Allegorie jedoch ist es über jegliche Verhöhnung erhaben.

Dostoevskij zeigt uns, daß Dmitrij vor dem Gesetz zwar unschuldig, vor Gott aber schuldig ist! Nur deshalb kann Dmitrij die Strafe für ein Verbrechen annehmen, das er im Sinne des Strafgesetzes ja gar nicht begangen hat. Die Wirklichkeit des Gewissens als die eigentliche Wirklicheit anzusehen, wird für Dmitrij auf dem Boden des Christentums möglich. Es ist bezeichnend, daß ihn der Zuspruch Aleksejs, auf dem der Segen des Starec Zosima liegt, in der neu gewonnenen Einsicht zutiefst bestärkt. Indem Dmitrij das Resultat des Justizirrtums als insgeheim gerecht anerkennt, findet er seine Identität in der Sittlichkeit. Eine andere Identität läßt die Welt Dostoevskijs nicht zu.

II. Der Tatbestand in "An American Tragedy"

Auf dem Hintergrund der soeben durchgeführten Überlegungen zu Dostoevskijs "Brüdern Karamazov" fällt sofort die Ähnlichkeit der Problemstellung in Dreisers "An American Tragedy" auf. Fassen wir in aller Kürze zusammen, worum es geht: Clyde Griffiths plant bis ins Detail den Mord an seiner schwangeren Geliebten, um sich die Chance des sozialen Aufstiegs zu sichern. Im entscheidenden Augenblick vollzieht sich, was er plante, als tatsächlicher Unglücksfall. Vor Gericht jedocht glaubt man ihm nicht, denn die Spuren seiner aktiven Bejahung des bösen Wunsches sprechen eine nur allzu deutliche Sprache. Clyde endet für eine Tat, die er bejahte, aber nicht beging, auf dem elektrischen Stuhl.

Die Frage, ob Clyde schuldig ist oder nicht, hat seit Erscheinen des Romans seine Leserschaft in Atem gehalten. Dreiser selbst wollte zweifellos nur eine einzige Antwort zur Geltung bringen: Clyde ist unschuldig. Das heißt: Dreiser benutzt dieselbe Konstruktion, wie sie Dostoevskij in den "Brüdern Karamazov" durchgeführt hat, mit einem völlig anderen Argumentationsziel. Das Resultat des Justizirrtums läßt sich hier nicht mehr als insgeheim gerecht anerkennen.

Um Dreisers Vorgehen im einzelnen kenntlich zu machen, sei die Konstruktion des "Tatbestands" auf ihre Ähnlichkeit und auf ihren Unterschied zu Dostoevskijs Vorgehen in den "Brüdern Karamazov" angesehen.

Dreiser läßt uns, genau wie Dostojevskij, an der Genese der Wirklichkeit des Bösen teilnehmen. Auch in Dreisers Konstruktion ist das Böse darauf angewiesen, daß es gewünscht wird, bevor es Wirklichkeit werden kann. Clyde gerät ganz allmählich in den Bann des bösen Wunsches.

Sehen wir uns die psychosoziale Situation Clydes nun genauer an. In der Fabrik seines reichen Onkels Samuel Griffiths in Lycurgus, New York, hat Clyde einen Posten als Angestellter erhalten. Er beaufsichtigt eine Abteilung von Arbeiterinnen, die mit der Herrichtung von Hemdenkragen beschäftigt sind. Da Clyde innerhalb der Familie seines Onkels als armer

131

Verwandter gilt, wird er nicht an deren privaten Geselligkeiten beteiligt und gerät in eine wachsende Isolation. Den Kontakt zu seinen eigenen Eltern, die als Wanderprediger in bigotter Armut leben, hat er abgebrochen. Dreiser evoziert mit böser Hingabe Clydes tristen Alltag, das Fehlen aller menschlichen Beziehungen. In solcher Situation der regelrechten seelischen Aushungerung gerät Clyde in eine Liebesbeziehung zu Roberta Alden, einer der ihm unterstellten Arbeiterinnen. Diese Beziehung untersteht von vornherein strikter Geheimhaltung, denn es gehört zu den von Clyde akzeptierten Einstellungsvoraussetzungen, kein Liebesverhältnis mit Untergebenen einzugehen. Clyde ist zudem derart vom Wunsch nach sozialem Aufstieg beseelt, daß er auch vor sich selber die Beziehung zu der vollkommen mittellosen Roberta nicht als zulässig empfindet. So stehen seine Begegnungen mit Roberta im trüben Licht des Uneingestandenen. Dreiser läßt jedoch unmißverständlich deutlich werden, daß Clyde hier auf die ihm adäquate Partnerin gestoßen ist. Die natürliche Zuneigung, die beide verspüren, wird jedoch durch Clydes Furcht vor der Entdeckung seines Verhältnisses immer erneut gefährdet. Es kommt zur ständigen Verleugnung Robertas; vor der Außenwelt, aber auch vor sich selber. Roberta ist jedoch bereit, Clyde auch in diesem Punkte zu verstehen, obwohl sie vom wahren Ausmaß seiner Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung keine Vorstellung hat.

Roberta stellt schließlich fest, daß sie schwanger ist, und Dreiser konstruiert nun eine Serie von Umständen, die Clydes überfordertes Ich dazu treiben, einen Ausweg nur noch in der Ermordung seiner Geliebten zu sehen.

Nur wenige Zeit nach Beginn seiner Liebesbeziehung zu Roberta lernte Clyde ein Mädchen der von ihm regelrecht devot bewunderten Oberschicht in Lycurgus kennen: Sondra Finchley. Clyde hütet diesen Kontakt, der nur dadurch sich ergab, daß er mit seinem Vetter Gilbert Griffiths verwechselt wurde, mit allen Mitteln instinktiver Strategie und wird schließlich von Sondra zu ihren privaten Geselligkeiten eingeladen. Die Fata Morgana seines Lebens in Reichtum und sozialer Anerkennung scheint mit einem Mal als reale Möglichkeit greifbar zu werden. Sondra Finchley findet an Clyde Griffiths durchaus Gefallen. Sie akzeptiert ihn als etwas kuriosen, sehr gefälligen und neuen Begleiter, dessen hündische Ergebenheit ihrer Eitelkeit schmeichelt. In Clyde setzt sich der Gedanke fest, Sondra heiraten zu können und damit ein für alle Mal die Misere seines mittellosen Daseins zu beenden.

In dieser Situation muß Robertas Eröffnung, sie sei schwanger, wie eine Tücke des Schicksals wirken. Clyde sieht sich um sein Lebensglück gebracht. Einzig Roberta ist das Hindernis. Clydes Selbstentfremdung ist so weit fortgeschritten, daß er in dem einzigen Menschen, der sein Glück herstellen könnte, nämlich in Roberta, dessen Zerstörer erblickt.

An dieser Stelle nun setzt Dreiser mit der Beschreibung der Genese des Bösen ein. Der Gedanke, Roberta umzubringen, taucht in Clyde zunächst als Implikation der Lektüre eines Zeitungsberichts auf. Clyde liest, daß

132

auf einem der Seen ganz in der Nähe, ein Boot, in dem sich ein Mann und eine Frau befunden hatten, gekentert sei. Die Leiche der Frau sei gefunden worden, von dem Manne aber fehle jede Spur. Clyde setzt Roberta und sich selbst an die Stelle des fremden Paares, malt sich aus, Roberta sei ertrunken und er sei unerkannt davongekommen. In solchem Gedankenspiel fungiert der Unglücksfall noch ganz als tatsächliches Geschehnis; während der allmählichen Wiederholung dieser Vorstellung wandelt sich jedoch der Unglücksfall zum Mord.

Es verdient höchste Beachtung, daß Clyde ein ausgesprochenes Unrechtsbewußtsein hat. Sein Gewissen arbeitet mit höchster Exaktheit, und er ist sich über seine implizierte Schuld vollkommen im klaren. Endstation seiner blitzschnellen Tagträume ist immer wieder der elektrische Stuhl.

In diesem frühen Stadium der Konfrontation Clydes mit der Möglichkeit des Bösen wird der Mordgedanke immer wieder abgewiesen. Clyde ist entsetzt, daß sein Bewußtsein überhaupt zu einer solchen Vorstellung fähig ist. Diese Position ist, wie man sieht, die Position Aleksej Karamazovs. Die Möglichkeit der Wirklichkeit des Bösen wird gesichtet und sofort ausgeblendet.

Die Situation, in der sich Clyde befindet, nimmt jedoch von Tag zu Tag einen beklemmenderen Charakter an. Roberta einfach zu verlassen, hätte keinen Sinn. Es würde bekannt werden, daß sie von ihm ein Kind erwartet. Mit solch einer Hypothek würde er sich in der Gesellschaft Sondra Finchleys unmöglich machen. So faßt Clyde den Gedanken, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Dreiser läßt die schließlich erfolglose Suche nach einem entsprechenden Arzt und das schließlich erfolglose Unterfangen Robertas, den Arzt zur Durchführung des Eingriffs zu bewegen, zu einem seelischen Spießrutenlauf werden.

Gleichzeitig mit dem fruchtlosen Verlauf der Bemühungen, Robertas Schwangerschaft zu unterbrechen, sieht Clyde seine Chancen, anerkanntes Mitglied der Gesellschaftsschicht Sondra Finchleys zu werden, wachsen. Er lebt jetzt regelrecht in zwei Welten: in der Welt Robertas, aus der ihm das von Armut gezeichnete Gesicht ihres Vaters entgegenblickt, und in der Welt Sondras, die ihn zu luxuriösen Festlichkeiten inmitten einer paradiesischen Seenlandschaft einlädt.

Im Banne dieses Konflikts faßt Clyde den Plan, Roberta, die nicht schwimmen kann, auf einen einsamen See hinauszurudern und ertrinken zu lassen. Die Vorstellung, daß ein Boot durch unglückliche Umstände kentern kann, erfüllt jetzt eine Alibifunktion innerhalb der unablässigen Grübeleien Clydes. Der Begriff "Unglücksfall" ermöglicht es Clyde, den arglistigen Plan in Angriff zu nehmen, ohne von den Einreden seines Gewissens daran gehindert zu werden. Der Tod Robertas wird als Möglichkeit in Rechnung gestellt, ohne daß sich Clyde verantwortlich fühlen müßte. Clyde bejaht das Resultat seines bösen Wunsches, ohne sich selbst an dessen Verwirklichung zu beteiligen. Das Vehikel des Mordes, nämlich das Ruderboot, wird bereitgestellt, ohne daß die Umstände, die es in

133

Aktion setzen sollen, näher bestimmt werden. Das ist, wie man sieht, die Position Ivan Karamazovs.

Unter einem Vorwand bewegt Clyde Roberta zu einer Bootsfahrt auf einem einsamen See. Roberta ist arglos und schöpft keinerlei Verdacht. Mit diesen Schritten wird die Mordabsicht de facto in die unverhohlene Bejahung vorgetrieben. Clyde kann zwar auch jetzt noch vor sich selber seine wirkliche Absicht ausblenden; in Wirklichkeit aber hat er nun mit der aktiven Herstellung jeder Umstände begonnen, die den Tod Robertas herbeiführen sollen. Auf der Suche nach einer menschenleeren Stelle mit tiefem Wasser rudert er auf den See hinaus, der von Dreiser als Stätte vollkommener Entrücktheit gestaltet wird, um Clyde, soweit es möglich ist, auf sich selber zurückzuwerfen. Und tatsächlich ist Clyde nicht in der Lage, das bereitgestellte Mordwerkzeug zu bedienen, nämlich das Boot absichtsvoll zum Kentern zu bringen. Der mit der Herstellung aller nötigen Umstände für die Ertränkung Robertas eindeutig dokumentierte Tatentschluß wird plötzlich nicht ausgeführt. Damit befindet sich Clyde in der Position Dmitrij Karamazovs.

Was nun geschieht, ist, so dürfen wir sagen, ganz Sache des Teufels, der sich die Gelegenheit zu Nutze macht, die ihm durch Clydes aktive Planung des Verbrechens geboten wird. Dreiser verfährt folgendermaßen: Clyde bringt es nicht fertig, das Boot zum Kentern zu bringen oder mit einem der Ruder zuzuschlagen. Er sinniert düster vor sich hin und spürt plötzlich Haß auf Roberta in sich aufsteigen, weil ihm hier gezeigt wird, daß er zu der für sein Glück notwendigen Tat nicht fähig ist. Roberta sieht seine finstere Miene, will ihn trösten und kriecht - sie ist ja schwanger -ungeschickt auf ihn zu. Clyde hebt die Kamera, die er bei sich trägt, und stößt Roberta mit einem unwillkürlichen Schlag ins Gesicht zurück. Mit dieser Geste will er die Zwänge, denen er sich ausgesetzt sieht, unwirsch von sich abstreifen. Roberta taumelt, und nun sehen wir Dreiser, den Ironiker, mit geradezu grimmiger Freude am Werk: Clyde sieht Roberta stürzen, will ihr helfen (!) und bringt dadurch das Boot zum Kentern. Clydes einzige Handlung der Freiheit besiegelt seine Unfreiheit. Aber diese Handlung der Freiheit kommt ihm als solche nicht zu Bewußtsein. Sie bleibt für ihn pure Anwandlung. Ein Erwachen zur Sittlichkeit findet nicht statt.

Dieser echte Unglücksfall, der sich an die Stelle des Hiats innerhalb der geplanten Aktion setzt, ist, wie man sieht, Dreisers Version der Tat Smerdjakovs. Eine solche Tat ist vollkommen abhängig von den Umständen, die bereits vorliegen; und diese Umstände haben ihre tödliche Vollendung darin, daß Clyde sich bis an die Schwelle des Tatentschlusses vorgewagt hat.

Clyde, der hervorragend schwimmen kann, sieht nun Roberta, die überhaupt nicht schwimmen kann, ertrinken. Er schwimmt davon und überläßt sie ihrem Schicksal. Hiermit durchläuft Clyde erneut die Position Ivan Karamazovs. Clyde redet sich ein, daß ihn der Unglücksfall von aller Verantwortung entbinde. Und so ist, wie in den "Brüdern Karamazovs", das Böse genau mit dem Resultat, das gewünscht wurde, wirklich geworden.

134

Wie aber sieht hier das Verhältnis von Schuld und Freiheit aus? Wir stellten schon fest, daß Clyde Griffiths im Unterschied zu Dmitrij Karamazov nicht in der Lage ist, den schließlichen Schuldspruch der Geschworenen als insgeheim gerecht anzuerkennen. Wie Dostoevskij setzt Dreiser seinen Angeklagten sowohl der Verurteilung durch das Gesetz, als auch der Verurteilung durch das Gewissen aus. Das Gesetz wird durch den Staatsanwalt Orville Mason in Anschlag gebracht, während Reverend Duncan McMillan, der Gefängnisgeistliche, als Dolmetsch des Gewissens eingebracht wird. Beide Instanzen werden innerhalb der Welt Dreisers, wie nun zu erläutern ist, abgewiesen. Indem Clyde Griffiths mit seinem Gewissen nicht ins reine kommt, kann er auch mit seinem Schicksal unter dem Diktat des Strafgesetzes nicht ins reine kommen.

Der Staatsanwalt hält sich ganz und gar an die Sprache der Indizien. Seine Rekonstruktion des Tatverlaufs muß deshalb Clyde als heimtückischen Mörder ansetzen, der seinen Plan bis zum bösen Ende kaltblütig durchgeführt hat. Der Schlag mit der Kamera wird als vorsätzliche Handlung Clydes gedeutet. Man beachte, daß damit Clyde keine Gesinnung unterschoben wird, die er nicht hatte; allerdings geht der Staatsanwalt davon aus, daß Clyde der Gesinnung, die er eindeutig dokumentiert hat, auch am Tatort gewachsen war. Es läßt sich nicht leugnen, daß der "Tatbestand" dieser Gesinnung vollkommen entspricht. Der Hiat im Verhalten Clydes tritt als solcher nicht in den Horizont des Staatsanwalts. Clydes wirkliches Verhalten muß im Kontext der Fakten unwahrscheinlich erscheinen. Dreiser läßt allerdings explizit deutlich werden, daß der tatsächliche Sachverhalt nach geltendem Recht den Freispruch Clydes erfordert hätte. Richter Oberwaltzer ermahnt die Geschworenen, bevor sie sich zur entscheidenden Beratung zurückziehen: "If the jury finds that Roberta Alden accidentally or involuntarily fell out of the boat and that the defendant made no attempt to rescue her, that does not make the defendant guilty and the Jury must find the defendant 'not guilty'." 6

So wird Clyde zum Opfer seiner Gesinnung, deren eindeutige Spuren den tatsächlichen Sachverhalt vollkommen unglaubwürdig werden lassen. Nicht einmal Jephson und Belknap, Clydes Verteidiger, sind von seiner Unschuld wirklich überzeugt; sie verteidigen, mit Dostoevskijs gesprochen, als "gemietetes Gewissen" und machen ohne Erfolg einen Gesinnungswandel Clydes geltend, der nicht stattgefunden hat.

Zum Tode verurteilt, versucht Clyde in der Begegnung mit dem Gefängnisgeistlichen McMillan den Frieden seiner Seele zu finden. Vergeblich, denn Clydes Bußfertigkeit, die von McMillan mit bewährter Rhetorik angefeuert wird, verstellt ihm die adäquate Sicht auf die eigene Erfahrung, deren unartikulierter Anspruch gegen alle dogmatische Beschwichtigung in Kraft bleibt. Die christliche Religion, so argumentiert Dreiser, verfehlt die Seele im kapitalistischen Zeitalter. Reverend McMillan ist nicht in der Lage, Clydes Untauglichkeit zum Bösen in den Griff zu bekommen und fällt seinen Schuldspruch auf Grund der Tatsache, daß

135

Clyde unfähig ist, die ihm zur Last gelegte Gesinnung abzulegen. Und so stirbt Clyde auf dem elektrischen Stuhl, ohne seine Situation in der Welt erkennen zu können.

Die adäquate Verteidung Clydes findet innerhalb der geschilderten Welt nicht statt: sie wird durch Dreisers Roman insgesamt geleistet. Dessen angemessene Interpretation steht und fällt mit der Deutung des Hiats im Verhalten Clydes am Tatort. Dieser Hiat im Verhalten Clydes muß im Kontext Dreisers völlig anders interpretiert werden als der Hiat im Verhalten Dmitrijs im Kontext Dostoevskijs. In Dmitrijs plötzlichem Abstandnehmen vom Tatentschluß kommt der "intelligible" Mensch zum Durchbruch; Dmitrij belegt durch solches Abstandnehmen seine Zurechnungsfähigkeit. In Clydes Erstarrung an der Schwelle des Tatentschlusses jedoch zeigt sich nichts anderes als das Unvermögen, seine Gesinnung in die Tat umzusetzen. Dreiser führt vor, daß Clyde dem Anspruch seiner verwerflichen Gesinnung nicht gewachsen ist, sich aber gleichzeitig von dieser Gesinnung nicht befreien kann. Clyde verharrt im Banne der Gesinnung, zu der er nicht taugt.

Im Sinne Dreisers müssen wir sagen: Clyde ist untauglich zu dem, was die Gesellschaft, in der er lebt, aus ihm machen will. Mit solcher Untauglichkeit offenbart sich uns Clyde als der reine Tor, der in die böse Welt eintritt und durch die hypnotische Kraft jener Maximen, die ihm auf Schritt und Tritt nahegelegt werden, um Erfolg zu haben, in die vollendete Selbstentfremdung getrieben wird. In solcher Selbstenfremdung kann sich die Sittlichkeit nur noch als Untauglichkeit zum Bösen melden, auf die Clyde bezeichnenderweise mit Ärger über sich selber reagiert. Es ist die Angst vor der "geldlosen Finsternis" (moneyless dark), die ihn in den Griff nimmt und seine Vernunft ausschließlich in den Dienst eines sozialen Aufstiegs stellt, der an materiellen Reichtum gebunden ist. Clyde erliegt der kollektiven Suggestion des finanziellen Erfolgs besonders nachhaltig, da er auf Grund seines Schönheitssinnes gegen die Würdelosigkeit der Armut in erhöhtem Maße sensibilisiert ist. Sein Schicksal läßt deshalb die moralische Misere seiner Umwelt wie in einem Vergrößerungsglas erscheinen.

Mit der Verurteilung des Clyde Griffiths schickt die hier verantwortlich zeichnende Gesellschaft, recht besehen, ihre eigenen Maximen auf den elektrischen Stuhl; und Dreisers Pointe besteht darin, daß Clyde Griffiths diesen Maximen gerade nicht gewachsen war. Man versteht "An American Tragedy" offenbar erst dann richtig, wenn man zwei Opfer sieht: Roberta und Clyde. Solche Sicht wird allerdings erst dann möglich, wenn man Clyde eine Unfreiheit zugesteht, die er nicht selbst verantworten kann.

III. Der Tatbestand in "Native Son"

Wrights Problemformulierung scheint auf den ersten Blick keinerlei Beziehung zu der Dostoevskijs und Dreisers aufzuweisen. Bigger Thomas, ein junger Neger, hat das ihm zentral zur Last gelegte Verbrechen, die

136

Vergewaltigung und Ermordung der weißen Millionärstochter Mary Dalton, weder geplant, noch auch nur gewünscht. Der Tod Marys ist vielmehr die Folge seiner automatischen Selbstverleugnung unter der Diktatur weißer Interessen im Chikago des Jahres 1938. Um möglichen Verdächtigungen vorzubeugen, will Bigger nicht im nächtlichen Zimmer Marys, die volltrunken vor sich hinredet, angetroffen werden, hält ihr mit einem Kissen den Mund zu, und sie erstickt. Ein solcher Tatbestand ist das regelrechte Gegenteil gewünschter Wirklichkeit.

In der Hoffnung, eine Abreise Marys vortäuschen zu können und damit ihr plötzliches Verschwinden plausibel werden zu lassen, verbrennt Bigger die Tote unverzüglich im Heizkeller ihrer Eltern, als deren Chauffeur er tätig ist. Da der Ofen die Leiche nicht in extenso fassen kann, sieht sich Bigger gezwungen, den Kopf Marys mit Messer und Beil vom Rumpf zu trennen. Um Marys Unauffindbarkeit realistisch zu motivieren, verfaßt Bigger schließlich ein. Erpressungsschreiben, das er mit Hammer und Sichel versieht, um eine kommunistische Aktion vorzutäuschen. Für die Freilassung Marys fordert er zehntausend Dollar Lösegeld.

Noch am selben Tag stöbern neugierige Journalisten, die sich eine Sensation erhoffen, Marys Knochen im Heizkeller auf, und Bigger entflieht. Nur einen knappen Tag lang gelingt es ihm, sich im winterlichen Chikago, das von einem plötzlichen Blizzard heimgesucht wird, versteckt zu halten. Dann wird er im Zuge einer Großfahndung gefaßt.

Bigger Thomas liefert dadurch, daß er die Leiche Marys verbrannt hat, eine Leerstelle für Vermutungen über den Tathergang, die die Anklage unverzüglich mit ihrem Vorurteil ausfüllt. Der "Tatbestand" entspricht aus der Sicht des Staatsanwalts David A. Buckley vollkommen jener Gesinnung, die der Angeklagte als Neger gegenüber einer weißen Millionärstochter haben muß. Der Angeklagte hat, so konstruierte der Staatsanwalt, die Leiche des Mädchens verbrannt, um vor allem die "Spuren seiner Zähne im unschuldigen weißen Fleisch ihrer Brüste" für immer zu beseitigen.7 Die geplanten Ziele seines Tuns waren Vergewaltigung, Mord und Erpressung. Unter heimtückischer Ausnutzung des Wohlwollens einer nachweislich negerfreundlichen Familie habe hier ein "wütender Affe" seine niedrigsten Triebe befriedigt und dafür am Ende noch Geld kassieren wollen. David A. Buckley ist mit seinen Argumenten ganz das Sprachrohr der weißen Öffentlichkeit, deren rassistische Voreingenommenheit sich in den begleitenden Presseberichten unmißverständlich niederschlägt.

Wright läßt deutlich werden, daß in solchem Vorurteil gegenüber dem Angeklagten das verdrängte schlechte Gewissen der weißen Oberschicht zum Ausdruck kommt. In diesem Vorurteil zeigt sich, was insgeheim befürchtet wird: daß der Neger Rache nimmt für die ihm seit zwei Jahrhunderten widerfahrende Unterdrückung. Daß er dazu ein regelrechtes Kleinod weißer Bürgerlichkeit, die unschuldige Tochter aus gutem Hause, vergewaltigt und ermordet.

137

Die Gesinnung des Angeklagten wird hier nicht aus echten Indizien erschlossen, sondern auf Grund eines Vorurteils dekretiert. Somit unterscheidet sich der Justizirrtum in "Native Son" von dem Justizirrtum in den "Brüdern Karamazov" und von dem Justizirrtum in "An American Tragedy" dadurch, daß hier der Angeklagte die Gesinnung, die man ihm zur Last legt und auf Grund derer er schließlich auf dem elektrischen Stuhl stirbt, überhaupt nicht hatte! Zwischen dem wirklichen Tatbestand und jenem "Tatbestand", der im Fadenkreuz der von der Anklage geltend gemachten Gesinnung sichtbar wird, besteht überhaupt kein Kausalverhältnis.

Und nun geschieht das Erstaunliche. Bigger Thomas bekennt sich unter dem Einfluß seines kommunistischen Verteidigers Boris A. Max für schuldig im Sinne der Anklage! Er sieht, daß nur die ihm unterstellte Gesinnung die gerechte Antwort auf die ihm als Neger vorenthaltene Menschlichkeit sein kann. Das Verbrechen wird jetzt zum Platzhalter der Würde des Menschen. Bigger Thomas adoptiert die Untat, die man ihm unterstellt, weil er nur so seine Wiedergeburt als Individualität erfahren kann.

Bei solcher Konstruktion des Tatbestands läßt es Wright jedoch nicht bewenden. Auf die zufällige Tötung Marys folgt eine Tat, mit der die Fähigkeit des Angeklagten zur Exekution des Bösen eindeutig unter Beweis gestellt wird. Dieser tatsächliche Mord Biggers an seiner Geliebten Bessie Mears, einer Negerin, erfüllt gegenüber dem ersten Tatbestand eine sekundierende Funktion. Wrights Zentrum der Problematik liegt zweifellos auf der zufälligen Tötung Marys und deren Umdeutung zum geplanten und kaltblütig durchgeführten Mord, dem die Vergewaltigung vorausging. Bessie ist das Opfer der totalen Ausweglosigkeit, in die sich Bigger durch den Fall Mary Dalton gebracht sieht. Aus Angst davor, von Bessie, der er sich anvertraut hat, schließlich doch an die Polizei verraten zu werden, erschlägt er sie mit einem Ziegelstein im Bett, nachdem er zuvor gegen ihren Willen mit ihr geschlechtlich verkehrt hat, und wirft die vermeintliche Leiche in den Luftschacht: Wie sich später herausstellt, war Bessie noch am Leben und ist am Boden des Luftschachtes schwerverletzt erfroren. Solches Geschehen weist mit seinen schaurigen Details eine deutlich erkennbare Ähnlichkeit mit der Bigger unterstellten Untat an Mary auf. Recht besehen, holt Bigger mit dem Mord an Bessie den Mord an Mary regelrecht nach: am falschen Objekt. Die Verstörung Biggers angesichts einer weißen Legalität, die ihn als Neger darauf abrichtet, immer nur "Yessuh!" zu sagen, bricht sich Bahn in aktive, ungehemmte Aggression. Die erzwungene Selbstverleugnung in der Anpassung schlägt um in den Willen zur Destruktion, die mit dem Mord an Bessie zur unwiderruflichen Tabubrechung wird.

Es läßt sich nun sagen, in welcher Beziehung Wrights Problemstellung zu der Dostoevskijs und Dreisers steht.

In allen drei Fällen ist dasselbe Grundmuster zu erkennen: Die dem Angeklagten zur Last gelegte Gesinnung bestimmt die Deutung des Tatbestands. In allen drei Fällen entspricht der Schuldspruch der Geschworenen in sämtlichen Punkten dem Antrag der Anklage. Dieses Grundmuster erscheint jedoch jedesmal im Lichte eines anderen Begriffs

138

vom Menschen. Symptom für die Wandlung dieses Begriffs ist die mit Dreiser und Wright wachsende Gereiztheit gegenüber Vertretern der christlichen Religion.8

Im Unterschied zu Clyde Griffiths ist Bigger Thomas auch nicht für einen Augenblick bereit, in christlicher Bußfertigkeit von seiner verwerflichen Gesinnung Abstand zu nehmen. Bigger verjagt die Vertreter des Christentums, einen schwarzen Reverend und einen weißen Priester, noch aus seiner Todeszelle. Die Radikalisierung der Position Dreisers wird damit deutlich sichtbar. Während bei Dreiser mit der impliziten Zurückweisung des Reverend McMillan keine explizite Gegenposition verbunden ist, übernimmt bei Wright der kommunistische Verteidiger Boris A. Max die positive Seelsorge gegenüber dem Angeklagten. Dieser Verteidiger hört auf, ein "gemietetes Gewissen" zu sein, denn er stellt selber die Schuld seines Mandanten fest, will jedoch nicht zulassen, daß diese Schuld auf dem Boden des "kategorischen Imperativs" in Strafe aufgerechnet wird. Wenn das Gewaltverbrechen zum letzten Asyl des vergewaltigten Ich wird, verliert alles Pochen auf die Verantwortlichkeit des Täters seinen Sinn.

Boris A. Max, als Jude selber Zielscheibe des Vorurteils und als Kommunist in der militanten sozialpsychologischen Analyse geschult, wird von Wright mit allen Kennzeichen einer positiven Vaterfigur versehen: In der Begegnung mit ihm erlangt Bigger Thomas sein verlorenes Selbstbewußtsein wieder, allerdings nur um den Preis der Bejahung seiner kriminellen Gesinnung und deren Folgen.

Mit einem Rückblick auf die "Brüder Karamazov" läßt sich sagen: An die Stelle des Starec Zosima ist Boris A. Max getreten.9 Damit hat Wright eine polemische Umbesetzung jener Position durchgeführt, von der aus die Bedingungen für ein menschenwürdiges Dasein formuliert werden. An die Stelle der Sittlichkeit ist die Unsittlichkeit getreten, aber solche Unsittlichkeit muß als das negative Produkt eines unbestechlichen sittlichen Bewußtseins verstanden werden. Das Gewaltverbrechen aus Verzweiflung angesichts der verweigerten Würde der Person geschieht sozusagen selbstlos. Die Determinierung des eigenen Wollens durch die Fata Morgana eines Lebens in materiellem Reichtum, wie sie für Clyde Griffiths unaufhebbar ist, wird mit Wrights Konstruktion durchbrochen.10 Clyde Griffiths wollte sich mit seinem Verbrechen den Zugang zu den Freuden der bestehenden Welt sichern. In der Welt des "Native Son" hingegen steht die Bejahung einer verwerflichen Maxime und ihrer Resultate nicht im Dienste persönlichen Wohlergehens, sondern ex negative im Dienste der Möglichkeit des "intelligiblen" Menschen. Bigger Thomas kennt auch nicht die Verwirklichung des Bösen um seiner selbst willen, wie sie für die Welt Dostoevjskijs kennzeichnend ist. Biggers Schuld ist die Folge einer Sonnenfinsternis der Vernunft, herbeigeführt durch die gesetzlich geschützte Entwürdigung seiner Person. Seine enthemmte Aggressivität ist der bewußtlose Ausdruck der Suche nach einer sittlichen Welt.

Die schließiiche revolutionäre Identität des Bigger Thomas auf dem Boden einer provisorischen Unmoral ist deshalb für Boris A. Max, der die Paradoxie einer sittlichen Unsittlichkeit als Unding durchschaut, ein zutiefst trauriger Anblick. Das Verdikt des "inneren Richters", dem die Todesstrafe Folge leistet, ist für Bigger Thomas zur Bedingung dafür geworden, seiner Freiheit bewußt zu sein.

ANMERKUNGEN

  1.  Vgl. Texte zur Moralphilosophie aus Kants handschriftlichem Nach laß, hier zitiert nach: Materialien zu Kants "Kritik der praktischen Vernunft", hrsg. von Rüdiger Bittner und Konrad Cramer, Frankfurt am Main 1975, S. 87.
  2.  Zur Vorstellung von einem "Gerichtshof im Inneren des Menschen" Vgl. Die Metaphysik der Sitten, darin: Ethische Elementarlehre § 13, in: Kant, Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1956, S. 572-575.
  3.  
  4.  Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, op. cit., S. 455.
  5.  Vgl. Horst-Jürgen Gerigk, Die zweifache Pointe der "Brüder Karamazov". Eine Deutung mit Rücksicht auf Kants Metaphysik der Sitten, in: Euphorien, 69(1975), S. 333-349; dasselbe auch französisch: Les deux lectures des "Frères Karamazov". Une intérpretation dans la perspective de la "Métaphysique des moeurs" de Kant, in: Archives de Philosophie, 41(1978), S. 201-219.
  6.  Rakitin kommentiert im Gespräch mit Aleksej Karamazov die ver blüffende Handlung des Starec Zosima folgendermaßen: "Meiner Ansicht nach ist der Alte tatsächlich hellsichtig: er hat ein Verbrechen gewittert" (Buch II, Kap. 7). Im weiteren Verlauf dieses Gesprächs äußert Rakitin die ironische Vermutung, daß man, falls wirklich ein Verbrechen geschehe, in der Handlung des Zosima ein "Emblem", eine "Allegorie" sehen werde (èto, deskat', èmblema byla, allegorija, i chert znaet chto!) Vgl. Dostoevskij, Sobr. soch. v 10 tt., Moskau 1956-1958, Bd. 9, S. 101 und 102.
  7.  Vgl. Dreiser, An American Tragedy, New York 1964 (= Signet Classic), S. 736.
  8.  Vgl. Wright, Native Son, New York 1966 (= Perennial Classic, Harper & Row) S. 376.
  9.  Wright hat sich während der Abfassung des "Native Son" intensiv mit den "Brüdern Karamazov" beschäftigt. Vgl. Michel Fabre, The Unfinished Quest of Richard Wright, New York 1973, S. 170.
  10.  Angesichts der idealisierenden Darstellung der Kommunisten Jan Erlone und Boris A. Max ist bei Wright die Einbeziehung der Situation im zeitgenössischen Rußland zu vermissen. Dostoevskij hat seiner seits zwischen dem Starec Zosima und dem Großquisitor ausdrücklich unterschieden.
  11.  Dreiser wollte seinen Roman ursprünglich "Mirage" nennen. Vgl. F. O. Matthiessen, Theodore Dreiser, Westport, Connecticut 1976 (= The American Men of Letters Series), S. 189.
University of Toronto