Dostoevsky Studies     Volume 1, 1980

RASKOL'NIKOVS ACTE GRATUIT

EIN BEITRAG ZU DOSTOEVSKIJS LEHRE VOM "NATURGESETZ DES MENSCHEN"

Martin Raether, Universität Heidelberg

Rodion Romanovich Raskol'nikov, der Protagonist in Dostoevskijs erstem großen Roman "Prestuplenie i nakazanie", begeht einen brutalen Doppelmord. Nicht so sehr dieses Verbrechen und dessen detailliert erzählte Vorbereitung, Durchführung und letztliche Aufdeckung, als vielmehr die tieferen Auswirkungen auf den Täter selbst bilden die zentrale Thematik dieses Romans.

Ich will im folgenden die Handlungen Raskol'nikovs analysieren und dabei die Analogie zwischen seiner kriminellen Untat und seiner expiatorischen Großtat betonen, um dadurch, über die im Romantitel angesprochene Verbindung von "Verbrechen" und "Strafe" hinausgehend, eher eine Analogie in der Größe sowohl im "Verbrechen" als auch im "Leiden" herauszuarbeiten.

Die unmotivierte, folgenindifferente, geradezu spielerisch durchgeführte Mordtat ist zu einem wichtigen Motiv der modernen Literatur geworden, von Voltaires "Zadig" und Sades "Histoire de Juliette" angefangen über Poes "Black Cat" und Lautréamonts "Chants de Maldoror" bis hin zu Cendrars' "Moravagine", Bretons "acte surréaliste", Mauriacs "Thérèse Desqueyroux", Sartres "Érostrate" und Max Frischs "Graf Öderland". Der berühmteste dieser absurden Morde geschieht in Andre Gides "Caves du Vatican" (1914), in dem der junge Protagonist Lafcadio Wluiki einen ihm unbekannten Mann aus dem fahrenden Zug stößt. Gide ist auch derjenige, der in einem früheren Werk aus dem Jahre 1899 den Begriff des "acte gratuit" prägt ("Le Prométhée mal enchaîné").

Die Absicht dieser Untersuchung ist es nun keineswegs, eine Geschichte des virtuell unendlich variablen Motivs "acte gratuit" darzustellen, in welcher dann auch Raskol'nikovs Tat ihren Platz finden könnte. Meine Absicht ist vielmehr, in aller Kürze die wesentlichen Elemente dieses Gideschen "acte gratuit" zusammenfassend vorzustellen

und dann dieses aus einem fiktionalen Werk herausabstrahierte Grundmuster oder Konstrukt, das ich in einem erweiterten Sinne mit dem philosophisch-literaturwissenschaftiichen 'terminus technicus' "Acte gratuit" benenne, rückwirkend auf Dostoevskijs Roman anzuwenden. Nicht die konkrete Tat eines Lafcadio oder eines Raskol'nikov interessiert also - sie dient nur als interpretatorischer Ausgangspunkt - was hier interessiert, ist das dem Handeln und Wollen beider Helden zugrundeliegende Strukturmuster. Erst

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dieser abstrakte "Acte gratuit" ermöglicht einen hermeneutisch abgesicherten Vergleich zweier zeitlich, räumlich, sprachlich usw. so weit voneinander entfernten Werke wie der von Gide und Dostoevskij. Nebenbei sei angemerkt, daß der so definierte "Acte gratuit" zugleich den enormen Einfluß verständlich macht, den Dostoevskij - und besonders sein Roman "Prestuplenie i nakazanie" - auf die nachkommenden Schriftstellergenerationen ausüben sollte.

Ich fasse die wesentlichen Elemente, die den "Acte gratuit" konstituieren, folgendermaßen zusammen, wobei es gleichgültig ist, ob es sich um einen brutalen Mord (wie in Gides "Caves") oder um eine lächerliche Geste handelt (wie in Duhamels "Salavin"), ob um eine konkrete Handlung, ob um eine ontologische Abstraktion (wie in Sartres Existenzphilosophie), ob um eine Lebensphilosophie (wie bei Camus und schon bei Nietzsche) oder ob es sich schließlich um eine ästhetisch-anthropologische Theorie handelt (wie in der Nachfolge Mallarmes bei Leiris, Blanchot und Beckett).

Ein Einzelner, der sich bewußt von der anonymen und amorphen Masse abheben will, handelt oder wird aktiv; dabei verhält er sich indifferent gegenüber den Folgen seines Tuns, zeigt also seine Freiheit und Autonomie, ja handelt eigengesetzlich, was ihm in der bestehenden Ordnung meist als amoralisch angelastet wird. Tatsächlich handelt es sich um einen Akt der Revolte, durch den sich der Einzelne als großes Individuum verwirklicht und damit zugleich von der Allgemeinheit mit gottähnlichen und satanischen Zügen belegt wird.

Diese Elemente des "Acte gratuit" finden sich bereits bei Hegels "welthistorischem Individuum", bei Kierkegaards "Einzelnem", bei Stirners "Einzigem" und sie bilden die wesentlichen Bestandteile in Nietzsches Philosophie des Raubtiers. Gide konzentriert und konkretisiert sie in seinen fiktionalen Gestalten zu einem literarischen Thema, das er der Literatur des 20. Jahrhunderts tradiert, und das sich vornehmlich in Sartres Werken über die "existence gratuite" und in Camus' metaphysischer "révolte gratuite" manifestiert.

Diese Elemente des "Acte gratuit" lassen sich bereits alle in Dostoevskijs Roman "Prestuplenie i nakazanie" nachweisen.

Rodion Raskol'nikov erschlägt mit einem Beil die alte Wucherin Alena Ivanovna und ihre Schwester Lizaveta. Zwar raubt er Geld und Wertsachen, auch plant er zeitweilig sehr vage, sich mit dem neuen Reichtum "der ganzen Menschheit und der gemeinnützigen Sache zu widmen" (S. 92), doch geht es ihm letztlich nicht um die Beute (S. 152, 205). Lange vor seiner Tat hat Raskol'nikov einen Artikel verfaßt und veröffentlicht, in dem er unter dem Titel "Über Verbrechen..." die Menschen in "zwei Klassen oder Gattungen" (S. 348) einteilt: einmal gibt es die vielen, die niedrigen und die gewöhnlichen Menschen, deren Pflicht es ist, gehorsam zu sein; und dann gibt es die "erstaunlich wenigen" (S. 351) außergewöhnlichen oder eigentlichen Menschen, deren Pflicht es ist, aus dem alten Gleis herauszutreten. Der besondere Mensch wird zum prestúpnik,

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zum "Übertreter" überkommener Regeln, denn er hat "ein neues Wort zu sagen" (S. 348). Er verlangt "die Zerstörung des Gegenwärtigen im Namen eines Besseren" (S. 348/49). Ausdrücklich wird der "außergewöhnliche" Mensch der Masse gegenübergestellt. Raskol'nikov behauptet, der gewöhnliche Mensch sei letztlich für den besonderen Menschen da:

Die ungeheure Menschenmasse, das Material, gibt es ja überhaupt nur deshalb auf der Welt, um schließlich durch eine Art Anstrengung, durch einen bis jetzt noch geheimnisvollen Vorgang, mittels irgendwelcher Kreuzungen der Generationen und Rassen, sich zu straffen und schließlich aus, sagen wir, tausend Menschen "einen" wenigstens etwas selbständigeren Menschen zu gebären. Aus vielleicht zehntausend Menschen (...) wird ein Mensch mit einer etwas umfassenderen Selbständigkeit geboren. Mit einer noch umfassenderen Selbständigkeit einer von hunderttausend. Geniale Menschen aus Millionen, die ganz großen Genies aber, die Vollender der Menschheit, vielleicht erst nach Abiauf von vielen tausend Millionen Menschen auf der Welt. (S. 352)

Je außergewöhnlicher der Mensch, desto seltener gibt es ihn. Dieses rare Genie hat - immer nach Raskol'nikov - das Recht und die Pflicht, "gewisse Hindernisse zu übertreten" (S. 346), ja "Blut zu vergießen dem Gewissen nach "(S. 353). Als Beispiele nennt er einmal Kepler und Newton, dann aber v. a. "alle Gesetzgeber und Ordner der Menschheit" (S. 347), also Lykurg, Solon, Mohammed, Napoleon "und so weiter".

"Sie waren alle ohne Ausnahme Übertreter," sagt Rodion, "somit Verbrecher,-schon dadurch allein, daß sie, indem sie ein neues Gesetz gaben, eben damit das alte, von der Gesellschaft als heilig verehrte und von den Vätern überkommene Gesetz übertraten, aufhoben, zerstörten, und schon ganz selbstverständlich schraken sie auch nicht vor dem Blutvergießen zurück, wenn nur das Blut (und es war mitunter völlig unschuldiges und tapfer für das alte Gesetz dargebrachtes Blut) ihnen helfen konnte. Es ist sogar auffallend, daß der größte Teil dieser Wohltäter und Ordner der Menschheit besonders große Blutvergießer waren." (S. 347)

Und Raskol'nikov beschließt, "Übertreter" zu werden. Er möchte sich von dem gemeinen Ungeziefer um ihn herum absetzen. Seine Mitmenschen bezeichnet er nur als Insekten: Spinnen, Schaben, immer wieder spricht er von Läusen und verächtlich von dem "ganzen Ameisenhaufen" (S. 442). Kurz: er möchte ein besonderer Mensch .werden.

"Ich wollte ein Napoleon werden," erklärt er später Sonja (S. 556), doch nicht um über die anderen, die "Läuse" zu herrschen, sondern um sich selbst zu beweisen, daß er keine Laus sei. "Ich wollte, weißt Du, ohne Kasuistik töten, einzig um meinetwillen, Sonja, für mich allein!" (S. 562) Alle Gründe, die er kurz zuvor noch herangezogen hat, verwirft er: "Nicht um meiner Mutter zu helfen, habe ich getötet - das ist Unsinn! Nicht um Mittel und Macht zu erlangen und dann ein Wohltäter der Menschheit zu

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werden, habe ich getötet. Unsinn! Ich habe einfach getötet; für mich getötet, für mich allein..." (S. 562) Raskol'nikov ist sich sehr wohl der Neuartigkeit seiner Idee bewußt (S. 561). Neu ist allerdings nicht, daß er, ein Mensch des 19. Jahrhunderts, von Napoleon fasziniert ist. Neu ist vielmehr, daß er sozusagen nur abstrakt napoleonisch handeln will, ohne ein konkretes Ziel der Bereicherung oder der Macht, daß er die Handlung nur zur Selbstsetzung seines individuellen Bewußtseins wagt oder daß er, wie er selbst sagt, "sich bloß unterstehen wollte" (S. 561).

Für die gute Seele Sonja bleiben Raskol'nikov und seine Handlungen unbegreiflich. Er, der sonst das Letzte fortgab, soll nun gemordet haben, um zu rauben? (S. 554) Sie war doch zugegen, als Raskol'nikov der Witwe des kurz vorher verstorbenen Marmeladov spontan sein letztes Geld, eine beträchtliche Summe, gegeben hat (S. 251). Sie ahnt nur dumpf, daß hier etwas anderes sei. "Aber sie begriff nichts, gar nichts" (S. 555).

Auch vorher hat Raskol'nikov mehrere Male von seinem Geld weggegeben, der hungernden Familie des Säufers Marmeladov (S. 40) oder um dem verunglückten Marmeladov selbst zu helfen (S. 238ff.). Ein anderes Mal wollte er ein betrunkenes Mädchen vor einem zudringlichen Herrn erretten (SS. 70-72). Während des Prozesses schließlich wird bekannt, daß "der Verbrecher Raskol'nikov, als er noch auf der Universität war, aus seinen letzten Mitteln einem armen und schwindsüchtigen Kameraden geholfen und ihn ein halbes Jahr hindurch fast gänzlich unterhalten hatte. Als der Kamerad gestorben war, hatte er die Sorge um dessen alten und gelähmten Vater übernommen" (S. 722) usw. Noch bemerkenswerter ist eine weitere Handlung. Jahre vorher hätte er beinahe ein völlig unbedeutendes, frömmelndes und häßliches Mädchen geheiratet. "Ich weiß wirklich nicht, warum ich damals eine Neigung zu ihr faßte...", sagt Raskol'nikov selbst, "vielleicht weil sie immer krank war... Wäre sie dazu lahm oder bucklig gewesen, ich hätte sie, glaube ich, noch mehr geliebt..." (S. 308).

Der brutalen Mordtat stehen demnach im Laufe des Romans mehrere gute Taten gegenüber. Vom moralischen Standpunkt aus ist die eine negativ und sind die anderen positiv zu bewerten; allen aber ist gemeinsam, daß sie sich einer utilitären Beurteilung entziehen wollen. Selbst die Gerichtspsychologen kommen zu dem Schluß, daß Raskol'nikov "ohne weitere Zwecke" (S. 720) gehandelt haben müsse, und daß er "nicht einem gewöhnlichen Raubmörder und Dieb gleichzusetzen sei, daß hier vielmehr etwas ganz anderes vorliege" (S. 721).

Um dieses "ganz andere" geht es in Dostoevskijs Roman.

Die Frage lautet: was bedeutet eine Handlung, die von dem Handelnden nur um seiner selbst willen ausgeführt wird, "für mich allein", wie Raskol'nikov sagt? Er plant ein Verbrechen mit reinem Gewissen, d. h. er denkt noch kurz vor der Tat, daß in Ihm persönlich - im Gegensatz zu gewöhnlichen Kriminellen - "bei seiner Tat ähnlich krankhafte Umschwünge nicht stattfinden könnten, daß sein Verstand und sein Wille während der ganzen Zeit der Ausführung des Vorhabens völlig intakt sein würden,

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einzig aus dem Grunde, weil sein Unternehmen - 'kein Verbrechen' sei..." (S. 100).

Eingewoben in einen wahrhaftig spannenden Kriminalplot, der Realismus und Unwahrscheinlichkeit, die normalerweise unvereinbar sind, unentwirrbar miteinander vermischt, geht es den ganzen Roman hindurch um die Wirkung der Tat auf den Täter selbst. Doch im Gegensatz zum Kriminalroman, der von der Kausalität der Welt lebt und sie geradezu bestätigt, geht es hier um die prinzipielle Unberechenbarkeit der "menschlichen Natur" (S. 341), um die Rebellion der "reaktionären" lebendigen Seele (S. 342) gegen das naturgesetzlich determinierte Menschenbild der Sozialisten: "Mit der Logik allein ist die menschliche Natur nicht zu überspringen! Die Logik sieht drei Möglichkeiten voraus, dabei gibt es ihrer eine Million!" (S. 342).

Zum einen verteidigt Raskol'nikov seine Handlung. Theoretisch und rational habe die Allgemeinheit nur Nutzen durch egoistische Individuen (S. 234). Hochmut, Stolz, Selbstvertrauen und die Meinung, ein Mensch zu sein, "dem mehr als einem anderen erlaubt sei" (S. 731), bestimmen ihn in solchen Momenten. Zum ändern muß er erkennen, daß er zwar die Tat ausführen konnte, mit den inneren Folgen jedoch nicht gerechnet hat. Und diese Folgen sind: Angst (S. 162, 166, 592), Unruhe (S. 589, 592f.) und Ekel (S. 16, 153), die sich warnend schon vor der Mordtat in dem Kindheitstraum von der grausamen Erschlagung des Pferdes in ihm angedeutet hatten, aber auch "Apathie, die dem krankhaft gleichmütigen Zustand Sterbender ähnlich war" (S. 589) und Indifferenz (S. 618, 710, 728f.). Um sich von den gewöhnlichen Menschen abzuheben, genügt die Ausführung der Tat allein nicht. Was ihn von den "Großen", den "Wohltätern der Menschheit" (S. 732) unterscheidet, ist: "Jene Menschen ertrugen ihre Schritte, und darum sind sie im Recht; ich aber habe ihn nicht ertragen, also hatte ich nicht das Recht, mir diesen Schritt zu erlauben." (S. 732). Weil er nicht nur aus rationaler Theorie und Logik besteht, sondern auch aus lebendigen Gefühlen, wird er sich darüber im klaren, daß auch er nur eine Laus ist, wie seine Mordopfer, "wie alle!" (S. 563), wenn auch vielleicht eine "ästhetische Laus" (S. 368).

Theoretisch mag Raskol'nikovs Tat wohl fundiert gewesen sein, aber die praktischen Folgen zeigen ihm, daß er versagt hat. Das konkrete menschliche Leben, die lebendige Seele, will Dostoevskij lehren, sei komplizierter und größer, als es die Theorie der Sozialisten vermeine. Raskol'nikovs späte Erkenntnis ist, daß er gegen das Leben verstoßen hat, und zwar nicht so sehr dadurch, daß er die alte Wucherin getötet hat, als vielmehr sich selbst: "Habe ich denn die Alte getötet? Mich habe ich getötet, aber nicht die Alte!" (S. 563).

Seine Tat ist nicht nur vernichtend für das Opfer, sondern in einem höheren Sinn auch für den Täter, denn nicht die Tat ist ziellos, sondern der Mensch, der sie begeht. Porfirij-Dostoevskij sagt zu Raskol'nikov: "Für wen halte ich Sie denn? Ich halte Sie für einen von jener Sorte Menschen, denen man meinethalben das ganze Eingeweide herausschnei-

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den kann, die aber ruhig dastehen und mit einem Lächeln auf ihre Peiniger blicken - wenn sie nur einen Glauben oder einen Gott gefunden haben. Nun, sehen Sie zu, daß Sie so was finden, und Sie werden leben." (S. 618) Und immer wieder sagt er ihm, dem Doppelmörder: "Ihnen hat Gott ein Leben vorbereitet" (S. 619).

Raskol'nikovs Aufgabe ist es, sein Leben wiederzugewinnen. Zunächst muß er die Versuchung, Selbstmord zu begehen, überwinden. Der Erzähler kommentiert: Raskol'nikov "konnte nicht verstehen, daß er vielleicht schon damals, als er am Wasser stand, in sich selbst und seinen Überzeugungen eine tiefe Lüge geahnt hatte. Er begriff nicht, daß diese Vorahnung ein Vorbote sein konnte einer künftigen Umwälzung in seinem Dasein, seiner zukünftigen Auferstehung, einer neuen Anschauung vom Leben." (S. 732) Raskol'nikov muß durch die Wiederaufstehung zu einem "neuen Leben" (S. 740) gelangen - so wie es das immer wiederkehrende Motiv der Auferweckung des Lazarus zeigt (S. 349, 435-440, 740). Tatsächlich, eines Tages, kurz nach Ostern (!) fällt Raskol'nikov Sonja zu Füßen und weint. "In diesen kranken und bleichen Gesichtern leuchtete schon die Morgenröte einer neuen Zukunft, der völligen Auferstehung zu neuem Leben. Die Liebe hatte sie erweckt, das Herz des einen enthielt unerschöpfliche Lebensquellen für das Herz des anderen." (S. 739)

Raskol'nikovs Hinwendung zum Leben befreit ihn von der schlimmsten Folge seines Verbrechens: von der Isoliertheit. Seine Tat verursachten ihm zu keinem Zeitpunkt Reue, aber sie macht ihm sein "Abgespaltensein" von den anderen Menschen bewußt. "Am meisten begann ihn jener furchtbare, jener unüberbrückbare Abgrund zu wundern, der zwischen ihm und all den anderen Menschen lag" (S. 733). Kaum ist Raskol'nikov "auferstanden", wendet er sich wieder seinen Mitmenschen zu, und in gleichem Maße wird ihm sein bisheriges Verhalten "etwas Fremdes" (S. 740). Durch seine ziellose und individualistische Tat, durch die er sich über die anderen hat erheben wollen, ist er für seine Mitwelt zu einem Fremden geworden. Sonjas Gefühl und Liebe führen ihn nun in das Leben zurück. "Er konnte nur fühlen", heißt es jetzt von ihm; und "An Stelle der Dialektik begann das Leben" (S. 740).

Dem gesellschaftlichen Gesetz nach sühnt Raskol'nikov sein Verbrechen dadurch, daß er sich dem Gericht stellt und zu acht Jahren sibirischem Arbeitslager verurteilt wird, dem "Naturgesetz des Menschen" ("Ras'kol-nikovs Tagebuch") nach jedoch erst dadurch, daß er sich "den Menschen wieder anschließt" (ebd.).

Die endgültige Absage an Dialektik, Denken, Logik, "Bücherphantasien" (S. 613), ratio, Theorie und die Hinwendung zu Leben, Gefühl und Mitmenschen erfolgt jedoch erst mit der Annahme des Leidens. "Das Leiden auf sich nehmen und sich dadurch erlösen, das ist es, was man tun muß", rät ihm Sonja (S. 564). Pofirij präzisiert: "Das bedeutet nicht etwa, für jemand anderen zu leiden, sondern einfach, man muß selber gelitten haben, muß es deshalb 'auf sich nehmen'." (S. 612) So wie Raskol'nikov "für sich allein " das Verbrechen begangen hat, darf er nun "um seiner selbst

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willen dem Leiden nicht ausweichen" (S. 612). So wie hinter seiner Tat eine Theorie stand, hält ihm nun Porfirij entgegen: "Im Leiden liegt eine Idee" (S. 621). "Schuld" und "Sühne" sind also direkt aufeinander bezogen. In den Schlußsätzen des Romans korrigiert der Erzähler den möglichen Eindruck, mit der Erweckung zum Leben (wie bei Lazarus) sei Raskol'nikovs Hinwendung zu einer Vita Nuova vollendet. "Er wußte noch nicht einmal", heißt es von dem glücklichen Raskol'nikov, "daß ein neues Leben sich ihm doch nicht umsonst schenken werde, daß er es noch teuer werde erkaufen müssen, es mit einer großen künftigen Tat werde bezahlen müssen..." (S. 740/41).

Worin diese "große künftige Tat" bestehen werde, wird hier nicht gesagt. Vom Erzähler wird nur soviel angedeutet, daß es "die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Verwandlung, des allmählichen Übergangs aus einer Welt in eine andere" sei (S. 741). Doch hat Raskol'nikov mit seinem Verbrechen - formal und theoretisch gesehen - nicht das gleiche gewollt? Der Untersuchungsrichter Porfirij, der immer wieder Dostoevskijs Ideen ausspricht, stellt einen deutlichen Bezug zwischen der negativen und der positiven "großen Tat" her:

"Wer weiß, vielleicht will Gott Sie für etwas Bestimmtes aufsparen? Sie aber haben ein großes Herz zu hüten und sollten sich weniger fürchten. Ihnen ist bange vor der Größe dessen, was jetzt zu geschehen hat? Nein, in diesem Fall muß man sich schämen, bange zu sein. Wenn Sie schon einen solchen Schritt getan haben (= das Verbrechen begangen), so haben Sie sich jetzt zusammenzunehmen." (S. 619)

Die Intention Raskol'nikovs ist die gleiche geblieben: Durch seine Untat hat er sich heroengleich aus der verachteten Masse der Menschen herausheben wollen und beschlossen, "dies alles gleich groß und radikal auszuführen, um eine vollkommen neue Laufbahn zu beginnen und einen neuen, unabhängigen Weg einschlagen zu können" (S. 558). Und jetzt verleiht ihm Porfirij das für den Heroenmythos typische Sonnenattribut: "Werden Sie eine Sonne, und alle werden Sie sehen! Eine Sonne muß zuerst eine Sonne sein." (S. 620) Raskol'nikov ruft den Menschen zu: "Oh, ihr Verneiner und Weisen von Groschenwert, warum bleibt ihr auf halbem Wege stehen!" (S. 732) Auch in seiner "großen Tat" der "Erneuerung" und "Verwandlung" im Leid wird er ein besonderer Mensch bleiben.

Worin die "Idee" des Leidens bzw. die "große künftige Tat" der Erlösung bestehen könnten, die, wie der Erzähler abschließt, "das Thema zu einer neuen Erzählung abgeben" (S. 741) kann, wird im Romantext nur angedeutet. Der Person des betrunkenen Ex-Beamten Marmeladov fällt dabei zu Beginn des Romans eine wichtige Hinweisfunktion zu. In einer Kneipe knüpft er mit Raskol'nikov ein Gespräch an. Einerseits bezeichnet er sich als "ein geborenes Vieh" (S. 24) und als "eines Tieres Ebenbild" (S. 23), andererseits "genießt" er Schmerz und Leiden und trinkt, weil er "doppelt leiden will" (S. 24). "Ecce homo!" kommentiert er sein eigenes Verhalten

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(S. 23). Schließlich steigert er sich in Ekstase und ruft aus: "Kreuzigen sollte man mich, ans Kreuz nageln und nicht Mitleid haben! Ja, kreuzige, Richter, kreuzige ihn, aber nachdem du ihn gekreuzigt hast, habe Mitleid mit ihm!" (S. 34) Marmeladov vereinigt in sich "Tierheit" (S. 34) und Christussein.

Neben den Motiven der Auferweckung des Lazarus und des Leid-auf-sich--Nehmens gibt es durch den gesamten Roman das Leitmotiv der Christusnachfolge. Nach Raskol'nikovs Mordbekenntnis rät ihm Sonja sofort, seinen "Kreuzweg" zu gehen (S. 564), und als sie ihm ein Holzkreuzchen um den Hals legt, kommentiert er selbst: "Das ist nun wohl sozusagen das Symbol dafür, daß ich das Kreuz auf mich nehme " (S. 705). Dann erfüllt er Sonjas Sühneauftrag: mitten auf dem Marktplatz kniet er nieder, beugt sich bis auf den schmutzigen Boden und küßt ihn; eine Handlung, die ihm Spott und Verachtung der Umstehenden einbringt, aber auch den aufschlußreichen Kommentar eines Halbbetrunkenen: "Er pilgert nach Jerusalem" (S. 709).

Sein Gang zur Polizeiwache, um sich selbst anzuzeigen, zu einem Zeitpunkt, als ihn kein Verdacht mehr belastet, wird als "Passionsweg" (S.709) bezeichnet. Er selbst redet sich zu: "Wenn man schon diesen Kelch leeren muß, ist dann nicht alles schon gleichgültig? Je häßlicher, um so besser" (S. 710). Wie vorher seine autonome Tat ("einzig um meinetwillen", S. 562) widergöttlich bzw. teuflisch war (5. 561), so ist nun sein Kreuzweg zur "großen künftigen Tat" der Erlösung göttlich.

Um sich selbst als autonomes Individuum zu konstituieren - abgehoben von der Menge, isoliert und unverstanden von den Mitmenschen, führt Raskol'nikov eine Handlung aus, die sich zur gesellschaftlichen Moral bewußt indifferent verhält, die gegen die allgemeine Norm und Ordnung revoltiert und die sich über die Gesetze stellt. Die Handlung ist einerseits am absolutistisch-vorbürgerlichen Ideal der Heldentaten herausragender historischer Persönlichkeiten ausgerichet, ist andererseits strukturanalog der Luziferischen Rebellion gegen Gott. Sie will den Handelnden gottgleich machen, doch in ihrer extrem individualistischen, nur auf Selbstsetzung bezogenen mitmenschlichen und sozialen Ziellosigkeit führt sie ihn letztlich zum Scheitern.

Raskol'nikov versagt auf zwei Ebenen: Erstens wird sein Verbrechen öffentlich bekannt; die Psychologie Porfirijs ist stärker. "Ohne uns können Sie nicht auskommen" (S. 620), kann der Kriminalkommissar zu Raskol'nikov sagen. Tatsächlich stellt sich Raskol'nikov und wird von der Gesellschaft, vertreten durch das Gericht, bestraft.

Raskol'nikovs Theorie versagt zweitens gegenüber dem "Naturgesetz" der menschlichen Seele, wie es Dostoevskij nennt.

Auf einer dritten Ebene läßt jedoch Dostoevskij seinen Helden nicht versagen: in seiner Größe.

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Von ihrer kriminellen inhaltlichen Richtung abgesehen - die, wie Dostoevskij meint, nur als das Ergebnis einer teuflischen Irreleitung durch sozialistische Ideen zu werten sei - findet Raskol'nikovs Tat keine Ablehnung. Der Wille zur außergewöhnlichen Tat, das Formale und Intentionale bleiben in der Kritik Dostoevskijs unberührt, werden im Gegenteil lediglich umkanalisiert in eine "große künftige Tat, in der Raskol'nikov so groß ist wie in seinem Verbrechen. Sein Versagen wird vom Erzähler nicht zum Anlaß genommen, sein sozialabgewandtes und individualistisches Tun prinzipiell zu kritisieren, sondern soll durch eine inhaltlich unbestimmte, aber im voraus glorifizierte, in die Zukunft projizierte Tat wettgemacht werden.

Raskol'nikovs Handeln entspricht nicht der herrschenden Norm, weder im Bösen noch im Guten. Ob er einen Doppelmord begeht oder sein letztes Geld verschenkt, er handelt "aus eigenem Antrieb" und nicht "mathematisch in der Art der Logarithmentafeln" vorausberechenbar ("Aufzeichnungen aus dem Untergrund").

Als Svidrigajlov, zugleich Eben- und Gegenbild Raskol'nikovs, kurz vor seinem Selbstmord (dem Zeichen eines endgültigen Versagens gegenüber dem Leben) seinen Reichtum den Kindern Marmeladovs verschenkt, fragt ausgerechnet Raskol'nikov: "Welche Absichten verfolgen Sie mit diesen übergroßen Guttaten?" Svidrigajlov, der "zufällig" Raskol'nikovs Mordgeständnis gegenüber Sonja mitangehört hat, setzt sein Tun ausdrücklich in Beziehung zu Raskol'nikovs Tat: "Einfach aus Menschlichkeit, aber das lassen Sie bei mir wohl nicht gelten? Sie war doch keine 'Laus' (er wies auf die Verstorbene), wie irgendeine alte Wucherin" (S. 584).

Schließlich begibt sich Raskol'nikov auf seinen "Passionsweg", führt die öffentliche Sühnetat auf dem Marktplatz aus und "nimmt das Kreuz auf sich" zu einem Zeitpunkt, als ihn nichts mehr von außen dazu zwingt. Die freiwillige Übernahme des Leidens verbindet ihn zwar in einem gewissen, eher geistigen Sinne wieder mit den Menschen, ist jedoch keineswegs identisch mit der "großen künftigen Tat", sondern nur deren Voraussetzung. Bei seinem Verbrechen war Raskol'nikov vorübergehend fehlgeleitet, aber im Prinzip hat er - nach Dostoevskij - Großes und Richtiges gewollt. Wie sein Traum von der großen Pest kurz vor seiner "Auferweckung" andeutet, darf er zu den "einigen sehr wenigen Auserwählten" (S. 735) gerechnet werden. "Retten konnten sich", heißt es dort, "in der ganzen Welt nur einige Menschen, das waren die Reinen und Auserwählten, denen bestimmt war, ein neues Menschengeschlecht und ein neues Leben zu begründen, die Erde zu erneuern und zu säubern" (S. 736). Zu seiner Selbsterneuerung soll Raskol'nikov jenseits von Verbrechen und Strafe durch eine ähnlich große Tat finden, deren Durchführung und Erfolg jedoch vom Erzähler in eine text- und fiktionstranszendierende Realität verwiesen werden.

Das große Individuum Raskol'nikov setzt sich durch sein Handeln - im Guten wie im Bösen - frei, eigengesetzlich und folgenindifferent über die allgemeine Norm hinweg und verwirklicht sich selbst durch genau diesen

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Akt der Revolte. Auflehnung und Untergang, Selbstschöpfung und Scheitern machen die Größe Raskol'nikovs aus ebenso wie der wenigen Einzelnen, die den "Acte gratuit" wagen.

In Dostoevskijs erstem großen Roman sind zwar alle definitorischen Elemente des "Acte gratuit" bereits vorhanden, aber sie sind noch nicht mit der Eindeutigkeit herausgearbeitet, wie dies erst der Literatur des 20. Jahrhunderts gelingen sollte - eine Literatur, die von Dostoevskij und Nietzsche beeinflußt, ihrerseits wiederum viel zum Verständnis dieser zwei großen Vorläufer beitragen sollte. Raskol'nikovs Scheitern bleibt letztlich vage, sein autosoteriologisches Siegen wird in die Sphäre des Traums bzw. in die fiktionsüberschreitende Realität verlagert, das Christusideal wird weitgehend noch als metaphysisch geprägt interpretiert werden müssen, seine Ansätze zu einer weltimmanenten Christologie sollten erst im Existentialismus, insbesondere von Camus, weiterentwickelt werden, und schließlich bleibt auch der Revoltecharakter in Raskol'nikovs Handeln uneindeutig.

Auch die Literatur des 20. Jahrhunderts kennt die Größe des Einzelnen, der in der sozialen, existentiellen oder künstlerischen Revolte zur Selbstverwirklichung und Selbsterlösung findet, aber sie betont eher das Scheitern dieses großen Individuums. Vielleicht liegt die eben erwähnte Uneindeutigkeit der Dostoevskij-Interpretation gerade darin, daß Raskol'nikovs "Acte gratuit" - im Gegensatz zu allen anderen und späteren "Actes gratuits" - der einzig erfolgreiche ist, obwohl oder eher weil er in die literaturtranszendierende Realität verweist, wo das literarische Wort vor dem Problem des Übermenschen, des Charismatikers, des Eingeweihten verstummen muß. So beschreiben auch Dostoevskijs folgende Werke immer nur den Weg, nie aber das Ziel.

Dostoevskijs Romane haben uns mit der Tradition eines mystischen und christologischen Übermenschenideals bekannt gemacht, einer Tradition, die im Gegensatz zur lateinischen Theologie in der östlich-orthodoxen Anthropologie lebendig geblieben war. Darin besteht Dostoevskijs Beitrag 'zur Geistesgeschichte und zur Literatur des "Acte gratuit" in unserem Jahrhundert.

ANMERKUNG

Überarbeitete und um die Fußnoten gekürzte Fassung des III. Kapitels "Dostojewskij - der große Vorläufer" meiner Habilitationsschrift von 1977: "Der Acte gratuit". Revolte und Literatur. Hegel - Dostojewskij -Nietzsche - Gide - Sartre - Camus - Beckett. Heidelberg: C. Winter, 1980 (= Studia Romanica, 37), SS. 79 - 93. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die bei Piper (München 1953) erschienene, von E. K. Rahsin übersetzte Ausgabe "Rodion Raskolnikoff".

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