Dostoevsky Studies     Volume 2, 1981

DIE GRÜNDE FÜR DIE WIRKUNG DOSTOJEWSKIJS

Horst-Jürgen Gerigk, Universität Heidelberg

Verschiedentlich ist versucht worden, Dostojewskijs Ästhetik, Dostojewskijs Poetik eigens herauszuarbeiten. All diese Versuche schreiben Dostojewskij Prinzipien zu, die sich öffentlich sehen lassen können: sie zeigen uns einen Künstler, der gleichzeitig ein großer Mensch ist. Das Reich des Schönen, dem sich seine Kunst verpflichtet, wird als eine Verheißung menschenwürdiger Verhältnisse innerhalb der bestehenden Welt geltend gemacht.

So betrachtet etwa Michail Bachtin in seiner Arbeit über Dostojewskijs Poetik (1) die "dialogische Welterfahrung", die allen Äußerungen in der Welt Dostojewskijs zugrundeliege, als motiviert vom Bestreben, die Gefahr der Verdinglichung des Menschen im Zeitalter des Kapitalismus abzuwenden. Bachtin beharrt darauf, genauso wie wenig später Nikolaj Trubetzkoy (2), daß der Künstler Dostojewskij den Ideologen Dostojewskij erfolgreich integriert habe. Das Resultat solcher Integration sei der "polyphone Roman".

Und Julius Meier-Graefe stellt fest: "Dostojewskij steht nicht so hoch, weil seine Werke so bedeutend" sind, sondern "weil er so vollkommen Dichter ist". Ein großer Dichter aber sei immer ein "Fanatiker der Pietät". (3)

In Leonid Grossmans Abhandlung über "Dostojewskij, den Künstler" (1959) W wird die Kluft zwischen dem großen Künstler Dostojewskij und dem inakzeptablen Denker Dostojewski] nicht aufgelöst. Es heißt ausdrücklich, als "großer Künstler" habe Dostojewskij die "richtige Wiedergabe der objektiven Welt" angestrebt, doch als Denker seien ihm die Grundlagen einer realistischen Weltsicht fremd geblieben. Für Grossman bestehen diese Grundlagen im "Materialismus und Atheismus der revolutionären Demokratie". Wir stoßen deshalb auf "unversöhnliche Widersprüche in Dostojewskijs Ästhetik". Auch in Georgij Fridlenders Abhandlung "Die Ästhetik Dostojewskijs" (1972) (5) dient der Begriff des Künstlers Dostojewskij dazu, den Denker Dostojewski) zu entschuldigen. Die poetologische Grundlage solcher Entschuldigung bleibt allerdings ungeklärt.

Und noch ein anderer Versuch, Dostojewskijs Ästhetik in den Griff zu bekommen, sei erwähnt: Robert Louis Jacksons Buch über Dostojewskijs Philosophie der Kunst (1966). (6) Hier liegt eine umfassende Sichtung der Äußerungen Dostojewskijs zu allgemeinen Fragen der Ästhetik und speziell der Dichtkunst vor. Das eigentliche Verdienst seiner Arbeit hat

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jedoch Jackson selber nur angedeutet. Es liegt, wie mir scheint, darin, vor Augen zu führen, daß Dostojewskijs explizite Äußerungen über das Wesen der Kunst gegenüber der eigenen dichterischen Praxis vollkommen unbefriedigend bleiben. Dostojewskijs wertende Unterscheidung zwischen der absoluten Schönheit, in der das Schöne und das Gute zusammenfallen, und der Schönheit Sodoms, dem gültigen Idol des derzeitigen Kulturzustands, entspringt dem Wunschdenken eines Moralisten, das die wirkliche Eigenart des Romanschriftstellers nicht einmal von ferne ahnen läßt.

In systematischer Hinsicht ist festzustellen, daß Bachtin und Jackson die zwei grundsätzlichen Positionen der bisherigen Debatte über Dostojewskijs Poetik bezeichnen. Bachtin geht primär von der dichterischen Praxis Dostojewskijs aus und sieht den gemeinsamen Nenner aller Werke Dostojewskijs, von den "Armen Leuten" bis zu den "Brüdern Karamasow", in der "Polyphonie", das heißt: in der Gleichwertigkeit interferierender Weltanschauungen. Jackson geht von den expliziten Äußerungen Dostojewskijs über sein dichterisches Tun aus und sucht diese mit aller Vorsicht für die Einschätzung der dichterischen Praxis fruchtbar zu machen.

Beide Positionen, die das Feld der bisherigen Bemühungen um eine Klärung der Poetik Dostojewskijs grundsätzlich abstecken, lassen Dostojewskijs expliziten Anspruch, das Schöne an das Gute zu koppeln, unangetastet. Ich möchte deshalb behaupten, daß zur insgeheimen Poetik Dostojewskijs bislang niemand vorgestoßen ist. (7)

Wer die Gründe für die Wirkung Dostojewskijs wirklich benennen will, hat ganz offensichtlich eine Hemmschwelle zu überwinden. Diese Hemmschwelle möchte ich nun bewußt überschreiten. Gewiß wird mancher den dazu notwendigen Überlegungen nur widerstrebend folgen. Es kommt allerdings darauf an, dieses Widerstreben auf seine Ursachen zu befragen.

Ich behaupte: Dostojewskij verfertigte seine fünf großen Romane, die den Gipfel seines Schaffens bilden, nach einer insgeheimen Poetik, einer Poetik, die nur sehr bedingt öffentlichkeitsfähig ist. Er hat deren Prinzipien nirgends ausgesprochen. Ich möchte diese Poetik eine "machiavellistische Poetik" nennen. So wie Machiavelli zeigte, unter welchen Bedingungen politische Macht zu erringen ist und die errungene Macht erhalten werden kann, so zeigt uns die Poetik Dostojewskijs, unter welchen Bedingungen ein Romancier das Zuhören seiner Zuhörer erzwingen kann.

Dostojewskij hatte nur ein einziges Ziel: möglichst viele Leser anzulocken und zu fesseln. Jedes, aber auch wirklich jedes Mittel war ihm dazu recht. Eine solche Poetik läßt sich natürlich durch die historische und persönliche Situation, in der Dostojewskij schrieb, erklären. Sämtliche Werke Dostojewskijs, mit Ausnahme des "Spielers", erschienen in Zeitschriften. Seine großen Romane sind Fortsetzungsromane und wurden auf solche Publikationspraxis eigens angelegt. Dostojewskij war darauf angewiesen, gedruckt zu werden und gelesen zu werden. So reagierte er ganz auf die Zeichen der Zeit und erkennt im sensationslüsternen Zeitungsleser den

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und politischer Thematik sichert er sich zugleich die ihm nötige institutionelle Deckung: nicht ohne den Hintergedanken an einen entsprechenden Nachruhm.

In der Kultivierung des Sensationellen geht Dostojewskij noch über Balzac (1799-1850) und Dickens (1812-1870) hinaus. Sein Interesse am englischen Schauerroman (Gothic novel) und dem französischen Feuilletonroman (Eugene Sue) verrät seine geheimsten Absichten: Er will das breite Publikum erreichen und studiert, so müssen wir sagen, die Mechanismen seiner Manipulation.

Seine "machiavellistische Poetik" ist nicht mit einem Schlage da. Sie entwickelt sich allmählich, ihre einzelnen Elemente fügen sich nacheinander zusammen, sie treten zunächst getrennt auf. Dostojewskij ist Anfang vierzig, als er sein künstlerisches System komplett vorliegen hat. Das erste Resultat dieser Poetik ist "Schuld und Sühne" (1866). Alle weiteren großen Romane sind nach demselben Muster verfertigt: "Der Idiot" (1868/69), "Die Dämonen" (1871/72), "Der Jüngling" (1875) und "Die Brüder Karamasow" (1879/80). Diese fünf Romane bilden das Zentrum seines Schaffens. Sie sind die Verwirklichung der machiavellistischen Poetik. Alles, was Dostojewskij vorher geschrieben hat, ist Vorübung; alles, was Dostojewskij noch neben diesen fünf Romanen schrieb, kann nur als partielle Verwirklichung seiner Poetik angesehen werden.

Betrachten wir nun die Wirkungsfaktoren im einzelnen. Es sind insgesamt sieben. Zunächst ist die konstante Verwendung von fünf Themenbereichen festzustellen. Es sind dies: (1) Verbrechen, (2) Krankheit, (3) Sexualität, CO Religion und (5) Politik. Als weiterer Wirkungsfaktor, der jedoch keinen Themenbereich bedeutet, sondern die überraschende Beleuchtung bereits vorliegender Thematik, kommt (6) die Komik hinzu. Und schließlich ist (7) Dostojewskijs Erzähltechnik zu nennen.

Diese sieben Gründe für die Wirkung Dostojewskijs seien jetzt nacheinander kenntlich gemacht. Vorweg ist festzustellen, daß jeder einzelne dieser Wirkungsfaktoren seine eigene Wirkungsgeschichte hervorgebracht hat.

So hat Dostojewskijs Vorliebe für das Gewaltverbrechen eine juristische Betrachtung seiner Werke nach sich gezogen. Man denke an die Arbeit von Heinz Wagner: "Das Verbrechen bei Dostojewskij. Eine Untersuchung unter strafrechtlichem Aspekt" (Diss.jur., Göttingen 1966).

So hat Dostojewskijs Vorliebe für die Darstellung kranker Menschen und speziell sexueller Hemmungslosigkeit medizinische und tiefenpsychologische Arbeiten ausgelöst; ich nenne nur Hubert Teilenbachs Ausführungen zur Epilepsie des Fürsten Myschkin im "Jahrbuch für Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie" (Jg. 14, 1966) sowie Sigmund Freuds Studie über "Dostojewskij und die Vatertötung" aus dem Jahre 1928.

So hat Dostojewskijs ständige Einbeziehung religiöser Thematik heftige

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theologische Debatten ausgelöst; man denke an Romano Guardinis Stellungnahme aus katholischer Sicht in seinem Buch "Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk" (1939) oder an die protestantische Stellungnahme Martin Doernes in seiner Abhandlung "Gott und Mensch in Dostojewskijs Werk" (1957).

Und schließlich hat Dostojewskijs Vorliebe für die Darstellung politischer Diskussionen regelrechte Kriege und Kleinkriege zwischen seinen verschiedenen Lesern ausgelöst. Von sowjetrussischer Seite wird alles getan, um das falsche Bewußtsein Dostojewskijs durch Aufdeckung seiner sozioökonomischen Bedingtheit unschädlich zu machen, wohingegen uns Albert Camus versichert: "Lange Zeit hat man Marx für den Propheten des 20. Jahrhunderts gehalten. Heute weiß man, daß, was er prophezeite, auf sich warten läßt. Und wir erkennen, daß Dostojewskij der wahre Prophet war. Er hat die Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit vorausgesehen." (8)

Zu Dostojewskijs Nutzung komischer Elemente und dem an ihr sich zeigenden Verfahren der Dosierung des Ernstes zur Steigerung des schaurigen Effektes liegen bislang nur punktuelle Einsichten vor; dieser Wirkungsfaktor ergreift den Leser derart unmittelbar, daß er regelrecht unsichtbar bleibt und deshalb das Interesse des Poetologen besonders reizt. Ich erinnere nur daran, daß Thomas Mann die "Lustigkeit des Geistes" an Dostojewskij nachdrücklich hervorgehoben hat und eigens hinzufügte: "Denn unter anderem war dieser Gekreuzigte ein ganz großer Humorist". (9)

Als siebter und letzter Wirkungsfaktor hat Dostojewskijs Erzähltechnik einen eigenen Forschungszweig hervorgebracht. Es sei hier insbesondere auf die bereits erwähnten Arbeiten Grossmans und Bachtins verwiesen, sowie auf Johannes Holthusens "Prinzipien der Komposition und des Erzählens bei Dostojewskij" (1969).

Schon diese kurze Charakteristik der sieben Wirkungsfaktoren Dostojewskijs mag erkennen lassen, daß jeder von ihnen die Versuchung nahelegt, ihn allein für ausschlaggebend zu halten. So wird der Theologe gewiß nicht hinter dem Juristen zurücktreten wollen und der Psychologe gewiß nicht dem Theologen den Vortritt lassen. Weitere Konfrontationen lassen sich leicht ablesen. Und am Ende könnte uns der Theoretiker des Erzählverfahrens auf Grund seines Rechtes versichern, in der ausgeklügelten Technik des Erzählens liege die wahre Leistung Dostojewskijs beschlossen.

Sich in solchen Streit, der ja die Dostojewskij-Forschung seit je kennzeichnet, parteinehmend einzuschalten, scheint mir die Sache zu verkennen, um die es geht. Dostojewskijs insgeheime Poetik, die "machiavellistische Poetik", läßt alle Themenbereiche immer nur als Reizmittel zu, sie sind so viel wert, wie das Engagement, zu dem sie provozieren. Als Themenbereich kommt überhaupt nur in Frage, was den Menschen zu jeder Zeit etwas angeht, weil er es zu keiner Zeit von sich abschütteln kann. Dostojewskij läßt schließlich als "seine" Themen nur zu,

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was seinen menschheitlich obsessiven Charakter bewiesen hat. Die Sachhaltigkeit, mit der diese thematischen Bereiche erfüllt werden, steht aber ganz unter dem durchschauten Diktat seiner Zeit. Und nicht weniger skrupellos wird die Darstellungstechnik gehandhabt.

Man darf sagen: Niemals zuvor und auch niemals später ist der sensationslüsterne Zeitungsleser so ernst genommen worden. Dostojewskijs Kunst ist sein Leser in Gedanken erfaßt. Und dieser Leser ist der idealtypisch begriffene Repräsentant des modernen Massenpubiikums in seiner russischen Variante. Nicht nur wird den geheimsten Erwartungen dieses von unverhohlener Neugier und uneingestandenen Vorlieben getriebenen Zeitgenossen entsprochen, es wird ihm zugleich mit solcher Aufmerksamkeit eine Seriosität im sachlichen Bereich zuteil, die einer ausgesprochenen Huldigung gleichkommt. Dostojewskij belohnt seinen von ihm vollkommen durchschauten Leser, auf den er angewiesen ist, durch eine gleichsam unter der Hand mitgelieferte professionelle Durcharbeitung aller gewünschten Inhalte.

Das Resultat sind die fünf großen Romane als kalkulierte Mixtur aus Verbrechen, Krankheit, Sexualität, Religion und Politik, dargeboten mit einer unablässigen "Lustigkeit des Geistes" und einer Erzähltechnik, die alles in den Dienst einer einzigen zentralen Situation stellt und uns ständig zwingt, den Hals zu recken, weil uns gleichzeitig etwas gezeigt und etwas vorenthalten wird.

Sobald Dostojewskijs insgeheime Poetik erkannt wird, stellt sich die Frage, inwieweit er überhaupt seine Inhalte ernst genommen hat. Zweifellos müssen wir nun sagen: Es war ihm mit ihnen nur deshalb ernst, weil er den Ernst als Wirkungsbedingung erkannt hat, nicht aber, weil er innerhalb der aufgesuchten Sachbezirke von einem wirklichen Erkenntnisinteresse getragen wurde. Daß Dostojewskij trotzdem zur Erkenntnis der gestalteten "Sachen" beiträgt, liegt daran, daß sein Sachverstand einfach keine schlechte Arbeit tun konnte. Anders ausgedrückt: Die auf Grund der machiavellistischen Poetik in ihrer Allgemeinheit fixierten Themen hatten zur Bestimmtheit gebracht zu werden, um ihre wirkliche Wirkung zu tun. Der so aufkommende sachliche Anspruch bleibt aber ganz Mittel zur Faszination des Lesers, ist nur unumgänglicher Vorwand für die gezielte Auslösung von Emotionen. Es kommt offensichtlich darauf an, in solchem Zusammenhang T. S. Eliots Begriff des "objektiven Korrelats" neu zu überdenken. (10)

Die Weltanschauung Dostoevskijs, wie sie für seine fünf großen Romane maßgebend wird, ist zweifellos das Resultat einer autosuggestiven Beschwichtigung. Im sibirischen Zuchthaus wandelt sich der Zarenfeind zu einem mustergültigen Untertanen. Nicht nur das: Nach seiner Rückkehr ins literarische Leben wirft sich Dostojewskij zum Chefideologen eines "Heiligen Rußland" der Zukunft auf! Von solch monströser Strategie des Überlebens profitiert allerdings der Künstler in ihm ganz auf seine Weise: ihm sind noch die parteiischen Resultate der eigenen Zwangslage als explosives Material willkommen. Non olet!

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Schon jetzt wird deutlich; Die Unterstellung einer machiaveüistischen Politik läßt weder den Wahrheitsanspruch der benutzten Inhalte die Oberhand gewinnen, noch reduziert sie das künstlerische Tun auf eine pure Formungsleistung.

Wenden wir uns nun den geltend gemachten Gründen für die Wirkung Dostojewskijs im einzelnen zu.

1. Das Verbrecher

Wenn irgend etwas mit Dostojewskijs Namen unausweichlich assoziiert wird, so ist es das Verbrechen. Dostojewskij ist der Dichter des Verbrechens. Zu Recht heißt es in der bekannten Passage d " "Gefangenen" aus Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit": "Die Romane, die ich von ihm (= Dostojewskij) kenne, könnten alle "Die Geschichte eines Verbrechens' heißen. Er ist offenbar ganz besessen von dieser Vorstellung, es ist nicht natürlich, daß er immer nur von so etwas spricht." (11) Albertine ist es, die das sagt, und wir können ihrer Beobachtung nur zustimmen. Des Mordes schwere Tat steht im Zentrum des dichterischen Tuns Dostojewskijs. Nur im "Jüngling" wird sie durch Zufall nicht vollzogen. Die Gewitterwolke einer möglichen Katastrophe lastet jedoch bis zuletzt über diesem Werk. In den anderen vier großen Werken kommt es zum Vollzug des Gewaltverbrechens. Raskolnikow in "Schuld und Sühne" ermordet zwei Frauen mit dem Beil, Rogoshin im "Idioten" ersticht seine Geliebte, Pjotr Werchowenskij in den "Dämonen" erschießt Schatow, und Smerdjakow in den "Brüdern Karamasow" schlägt Fjodor Karamasov. mit einem gußeisernen Briefbeschwerer den Schädel ein.

Jeder dieser Morde sieht anders aus, jedesmal ist die Täterpersönlichkeit eine andere, jedesmal ist die Tatwaffe eine andere: Beil, Messer, Revolver, Briefbeschwerer. Und doch haben all diese Morde, sobald man sie im einzelnen ansieht, etwas gemein.

In "Schuld und Sühne" beugt sich die Wucherin Aljona Iwanowna gerade über ein angebliches Pfand, das sie auswickeln will, als Raskolnikow mit der stumpfen Seite seines Beils auf ihren haßlich eingefetteten Scheitel einschlägt; und sein zweites Opfer, Lizaweta, die unversehens auf der Mordstatt erscheint, hebt nicht einmal die Hand zur Abwehr, als Raskolnikows Beil sie mit der Schneide an der Schläfe trifft.

Im "Idioten" wird uns die Ermordung Anastasija Baraschkowas zwar nicht im Detail geschildert, daß jedoch das fragile Opfer gegenüber dem vitalen und aggressiven Rogoshin körperlich hilflos ist, steht außer Frage.

Und dann die Ermordung Schatows. Schatow selber ist untersetzt und kräftig; was er an Aggression leisten kann, demonstriert uns die massive Ohrfeige, die er aus tiefster Überzeugung Stawrogin gibt. Vor seiner Ermordung wird Schatow von Tolkatschenko, Liputin und Erkel niedergeschlagen. Sie drücken ihn zu Boden. Pjotr Werchowenskij springt mit seinem Revolver hinzu. "Es wird erzählt, Schatow habe noch den Kopf

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umdrehen, ihn ansehen und erkennen können. Drei Laternen beleuchteter die Szene. Schatow stieß plötzlich einen kurzen verzweifelten Schrei aus aber man ließ ihm zum Schreien gar keine Zeit: Pjotr Werchowenski setzte ihm akkurat und energisch den Revolver mitten auf die Stirn preßte ihn fest an - und drückte ab." (12)

In den "Brüdern Karamasow" schließlich beugt sich Fjodor Karamasow. zum Fenster hinaus, um in den nächtlichen Garten zu spähen, in dem et Gruschenka vermutet. Smerdjakow, der hinter ihm im Zimmer steht, ergreift den gußeiseren Briefbeschwerer und schlägt plötzlich auf sein ahnungsloses Opfer ein: mit der Kante genau auf den Scheitel. Smerdjakow selbst berichtet darüber dem atemlos lauschenden Iwan Karamasow; "Er schrie nicht einmal auf. Er sackte nur jäh zusammen, und ich schlug ein zweites- und dann ein drittesmal zu. Beim drittenmal fühlte ich, daß ich ihm den Schädel eingeschlagen hatte. Er fiel plötzlich rücklings hin, mit dem Gesicht nach oben, ganz von Blut überströmt." (13)

Man sieht: Die Morde, die uns Dostojewskij schildert, haben ein gemeinsames Charakteristikum: sie zeigen uns das Opfer stets im Zustand der totalen Wehrlosigkeit. Durch solche Konstruktion veranschaulicht Dostojewskij das freiheitliche Tun des Täters. Das heißt: die Konstruktion des Tatbestandes gestaltet immer den "intelligiblen" Menschen (im Sinne Kants), niemals den "empirischen" Menschen. (14) Andererseits wird niemand leugnen, daß das Schreckliche eines Mordes dann zur höchsten Wirkung gelangt, wenn das Opfer völlig wehrlos ist. Man könnte also im Sinne der machiavellistischen Poetik sagen: Dostojewskij überlegt sich, unter welchen Bedingungen die Schilderung eines Mordes ihren höchsten Effekt erzielt und kommt zu dem Schluß, daß die Schilderung eines Mordes uns dann am meisten ergreift, wenn das Opfer wehrlos ist und der Täter freiheitlich handelt. In einer vollkommen amoralischen Welt hört das Verbrechen auf, interessant zu sein. Dostojewskij überantwortet seine Täter deshalb einer Wirklichkeit, die vom "kategorischen Imperativ" bestimmt wird. Nur eine Welt, in der das Sittengesetz nirgends seinen Anspruch auf Geltung verliert, liefert dem Verbrechen die wirksamste Folie.

Dostojewskijs Verbrecher hat nach vollzogener Tat drei Möglichkeiten: Er kann ins Ausland fliehen, er kann Selbstmord begehen, und er kann durch Annahme der gesetzlich vorgesehenen Strafe in die menschliche Gemeinschaft zurückkehren, die er durch sein Verbrechen verlassen hat. Die Todesstrafe wird als Möglichkeit von Strafe ausgeschlossen. Man sieht: Flucht ins Ausland und Selbstmord bedeuten ein Ausscheiden aus der sittlichen Welt, die mit "Rußland" gleichgesetzt wird. Eine Rückkehr in die sittliche Welt, die durch den Vollzug des Verbrechens verlassen wurde, ist nur möglich, wenn das Urteil des "inneren Richters" von einem staatlichen Richter übernommen und vom Täter akzeptiert wird. In diesen festen Bezugsrahmen verspannt Dostojewskij seine sämtlichen Täterpersönlichkeiten.

In jedem der fünf großen Romane wird das Verbrechen auf eine jeweils

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besondere Weise in den Blick gebracht. So liegt in "Schuld und Sühne" der Akzent auf der Situation des Täters nach der Tat, so liegt in den "Dämonen" der Akzent auf der Situation des Täters während der Tat, und so liegt in den "Brüdern Karamasow" der Akzent auf der Situation des Täters vor der Tat. Der "Idiot" visiert die Wirklichkeit des Verbrechens aus größtmöglicher Ferne an, und im "Jüngling" taucht die Möglichkeit einer herostratischen Untat nur am Horizont auf, ohne Wirklichkeit zu werden. Das heißt: Jeder der fünf großen Romane bezieht mit seiner zentral gestalteten Situation eine bestimmte raumzeitliche Position zum Verbrechen.

Neben der Gewalttätigkeit des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen gestaltet Dostojewskij ebenso kontinuierlich, wenn auch stets mit nur sekundierender Funktion, die Gewalttätigkeit des Menschen gegen sich selbst: den Selbstmord. In "Schuld und Sühne" erleben wir Swidrigajlows regelrecht rituell betriebenen Abschied von der Welt, seine Reise in den selbstgewählten Tod.

Im "Idioten" führt uns Ippolit Terentjew an sich selber die Hölle einer sich steigernden Weltverneinung vor. Sein öffentlich demonstrierter Selbstmordversuch scheitert allerdings.

In den "Dämonen" begehen zwei zentrale Gestalten Selbstmord: Kirillow erschießt sich und Stawrogin erdrosselt sich mit einer Seidenschnur.

Im "Jüngling" wird eine ganze Serie von Selbstmorden gestaltet: herausgehoben der Krafts. Die tödliche Einsicht Krafts, der deutscher Abstammung ist, besteht paradoxerweise darin, daß das russische Volk zweitrangig sei.

In den "Brüdern Karamasow" schließlich erhängt sich Smerdjakow, nachdem er noch seinen Tod als die Vollendung einer teuflischen Rache an seiner Mitwelt verplant hat. Wenden wir uns nun dem zweiten Wirkungsfaktor zu.

2. Die Krankheit

Neben dem Gewalttäter ist es der kranke Mensch, der Dostojewskijs ständige Aufmerksamkeit findet. Turgenjew, Dostojewskijs verärgerter Zeitgenosse, bemerkt anläßlich der Lektüre des "Jünglings" regelrecht angeekelt: "Mein Gott, was ist das für ein saures Zeug, dieser Krankenhausgeruch, dieses unersprießliche Gemurmel und psychologische Strohdreschen" (Brief an Saltykow-Schtschedrin, 1875). (15) Und Sir Galahad stellt in ihrem "Idiotenführer durch die russische Literatur" (1925) fest: "Käme nur ein einziges Mal in einem Roman Dostojewskijs jemandem die Erleuchtung, ein Fenster aufzumachen, zwei Drittel aller Psychologie entwichen mit den Anwesenden "auf der Stelle". Diese "verjauchten Seelen" seien "wie von einem heimlichen, inneren Sekret befressen." (16)

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In der Tat befinden sich die Gestalten Dostojewskijs fast ausnahmslos in physio-psychologischen Ausnahmezuständen. Immer wieder führt uns Dostojewski) Formen mißglückten Daseins vor. Was innerhalb unserer Lebenswirklichkeit sich verbirgt, holt Dostojewskij ins Rampenlicht. Die Krankheit der Gestalten Dostojewskijs reicht von der nervösen Überreizung bis zum schweren epileptischen Anfall. Keine seiner Hauptgestalten reagiert berechenbar: alle wesentlichen Szenen finden gleichsam in bengalischer Beleuchtung statt. 3eden Augenblick kann etwas Schreckliches passieren. Die Gesichter sind bleich, ja gelb oder grünlich. Iwan Karamasow benimmt sich als Zeuge vor Gericht so sonderbar , daß ihn der Vorsitzende fragt: "Sind Sie bei Verstand oder nicht?" (17) Und die Überspanntheit einer Lisa Chochlakowa drückt sich in der Zwangsvorstellung aus, einem Knaben die Finger abzuschneiden und ihn eigenhändig an der Wand zu kreuzigen. "Er hängt da und stöhnt", so bekennt Lisa, "und ich sitze ihm gegenüber und esse Ananaskompott." Ihr gelbliches Gesicht verzerrt sich bei diesem Bekenntnis, und ihre Augen glühen auf. (18)

Auffällig ist, daß Dostojewskijs Gestalten immer wieder Phasen der Bewußtlosigkeit durchmachen. Raskolnikow verliert nach dem Vollzug seines Verbrechens das Bewußtsein: ganze drei Tage dämmert er dahin. Er wird zuvor von Fieberschauern geschüttelt, hat einen Schnupfen und trinkt im schwülen und staubigen Petersburg kaltes Bier, das seine nervöse Überreizung nicht dämpfen kann. In solchem Zusammenhang müssen wir auf Dostojewskijs Zeitbehandlung genau achten. Raskolnikows Handlungen, die fast sechshundert Seiten füllen, umspannen nur knappe fünfzehn Tage. Das heißt: Hinweise auf körperliche Zustände bleiben über Hunderte von Seiten in Kraft. Wer von Balzac und Dickens herkommt, in deren Romanen die Zeit oft rasch fortschreitet, wird von Dostojewskij zu besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet.

Man mache sich klar, was das für ein Held ist, der an Schnupfen leidet und ohnmächtig wird, ohne auch nur für einen Augenblick lächerlich zu werden. Könnten wir uns die Antigone eines Sophokles mit einer Erkältung vorstellen?

Dostojewskij bezieht alle Krankheit auf besondere Weise ein. Für Dostojewskij bedeutet Krankheit in jeglicher Erscheinungsform falsches Bewußtsein, niemals das factum brutum einer äußerlichen Natur. Krankheit ist hier immer Anzeichen dessen, was im Bewußtsein geschieht. Alles Körperliche, alles Leibliche wird hier zum Ausdruck eines geistigen und seelischen Geschehens. Alle physio-psychologischen Sonderzustände sind Anzeichen einer bedrohten Sittlichkeit. Die Bewußtlosigkeit etwa, wie sie Raskolnikow durchmacht, zeigt, daß sein Körper die Einsicht in die Unhaltbarkeit der von ihm gelebten Maximen gleichsam vorwegnimmt. Krankheit ist falsches Bewußtsein, allerdings darf solcher Begriff nun nicht marxistisch gehört werden.

Dostojewskij stellt sozusagen eine Direktverbindung zwischen dem Körper und dem Gewissen her. Dies zeigt sich besonders deutlich am Schicksal Smerdjakows. Smerdjakow plant, wie man sich erinnert, seinen leiblichen

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Vater, der ihn jedoch nicht als Sohn anerkannt hat, umzubringen. Um sich für die Tatzeit vorsorglich ein Alibi zu verschaffen, simuliert Smerdjakovs einen epileptischen Anfall und läßt sich ins Bett bringen. Im Schütze dieses vorsorglichen Alibi ermordet er Fjodor Karamasow. Und nun geschieht das Merkwürdige: der simulierte epileptische Anfall geht nach der Tat plötzlich in einen echten epileptischen Anfall über. Smerdjakow jedoch weiß nicht, was das bedeutet. Sein teuflischer Plan bezieht sogar den eigenen Selbstmord mit ein, durch den er allen Verdacht endgültig auf Dmitrij Karamasow lenkt. Der simulierte Anfall wird zum echten, ohne daß der Betroffene das Geschehen seines Körpers als Geschehen seiner Innerlichkeit deuten könnte. So gestaltet Dostojewskij in Smerdjakow die vollkommene Selbstentfremdung.

An dieser Stelle ist zweifellos ein Wort zum Fürsten Myschkin gefordert. Wenn die Krankheit in der von Dostojewskij entworfenen Welt immer ein falsches Bewußtsein signalisiert, wie haben wir dann die Epilepsie des Fürsten Myschkin einzuschätzen? Hat der Fürst Myschkin etwa ein falsches Bewußtsein? Gewiß nicht! Myschkins epileptische Anfälle setzen immer dann ein, wenn er sich gezwungen sieht, seiner Urnwelt die Wirklichkeit einer bösen Absicht anzulasten. Es wäre völlig verkehrt, in Myschkins Krankheit den Boten seiner vom Bewußtsein verdrängten Fähigkeit zum Bösen zu sehen. Myschkins Krankheit ist der sichtbar gewordene Ausdruck der nachempfundenen Bosheit der Anderen. Myschkin als der "restlos schöne Mensch" ist der Seismograph aller sittlichen Erschütterungen seiner Umwelt, die er mit seinem nackten Ich auszuhalten sucht, was ihm, wie wir wissen, mißlingt.

Und noch ein Beispiel sei angeführt. Wer wollte leugnen, daß Pjotr Werchowenskij, der politische Fanatiker aus den "Dämonen", ein vollkommen amoralischer, gewissenloser Mensch ist. Trotzdem aber ist er nicht krank. Ja, es heißt ausdrücklich, er sei vollkommen gesund und sogar niemals krank gewesen. Hat Dostojewskij hier sein eigenes System vergessen? Keineswegs! Er führt uns nur die äußerste Ausprägung des unsittlichen Charakters vor: einen Menschen, der sogar seinen Körper de facto dem bösen Willen unterworfen hat. Und doch heißt es: "Sein Gesicht sieht aus wie von Krankheit gezeichnet, aber das scheint nur so. Auf beiden Wangen hat er nahe den Augenknochen dürre Furchen, wodurch der Eindruck entsteht, als erhole er sich gerade von einer schweren Krankheit". (19) Dostojewskij, der Systematiker, schläft keinen Augenblick. Indem hier eine kriminelle Persönlichkeit konzipiert wurde, die mit ihrem falschen Bewußtsein ungestört und vital lebt, mußte der entsprechende somatische Ausdruck zum bloßen Schein erstarren. Aber er ist als Schein da.

Aus diesen wenigen Hinweisen mag deutlich werden, daß Dostojewskij die nirgends ausgesprochene, aber überall veranschaulichte These: "Krankheit ist falsches Bewußtsein" in ihren verschiedensten Anwendungsmöglichkeiten durchspielt. Nicht die Krankheit löst ein falsches Bewußtsein aus, sondern Krankheit ist Folge eines falschen Bewußtseins. Auf Grund dieser Prämisse wird es Dostojewskij möglich, den "intelligiblen" Menschen zu

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veranschaulichen! Alles Körperliche kommt ausschließlich als Ausdruck sittlichen Geschehens in Betracht. Mit realistischer Psychologie ist deshalb Dostojewskij nicht beizukommen. Raskolnikows enges Zimmer und seine fiebrige Erkältung sind die Folgen seiner inneren Disponiertheit zum Frevel und nicht deren Ursache!

Damit vollzieht Dostojewskij eine gezielte dogmatische Abstraktion gegenüber dem Menschen, wie er in der Realität vorkommt. Die Misere des determinierten Daseins wird zu einem Geschehen der Freiheit verklärt.

Eine besondere Erläuterung ist an dieser Stelle zu Dostojewskijs Einbeziehung der Schwindsucht notwendig. Mit dieser Krankheit wird nicht eine Schuld des Betroffenen veranschaulicht, sondern die Kollektivschuld der Mitwelt an der Verelendung der in sozialer Hinsicht Schwachen. Aber auch dieser Krankheit wird keinerlei Autonomie gegenüber dem Bewußtsein des von ihr Betroffenen eingeräumt. So wird im "Idioten" der Versuch Ippolit Terentjews, aus der unabweislichen Tatsache seiner Schwindsucht einen Rechtfertigungsgrund für sein unglückliches Bewußtsein zu beziehen, als verwerflich gekennzeichnet: als Mißachtung nämlich seiner Freiheit. Über dieselbe Krankheit triumphiert Ilja Snegirjow in den "Brüdern Karamasow". Die bereits getroffene Feststellung: Krankheit ist falsches Bewußtsein, ist zu ergänzen durch den Satz: Erst falsches Bewußtsein ist Krankheit.

Dostojewskijs programmatische Vorliebe für die Darstellung exzeptioneller Gemütszustände wirkt sich in der Praxis als absolute Furchtlosigkeit beim Betreten der Niederungen des literarischen Geschmacks aus. Immer wieder finden sich Szenen von geradezu schamloser Rührseligkeit. Man denke an die Darstellung der Marmeladows in "Schuld und Sühne", an die Schilderung der armen Marie im "Idioten", an die Begegnung Stepan Werchowenskijs mit der Bibelverkäuferin in den "Dämonen", an den Auftritt des frommen Gärtners Makar Dolgorukij im "Jüngling" oder an das weinerliche Geschehen um Ilja Snegirjow und seinen Vater in den "Brüdern Karamasow". Mit derartigen Schaustücken dramatischer Empfindsamkeit wirbt Dostojewskij um den Kitsch-Menschen in uns. Auch der naive Leser sieht sich von Dostojewskij jederzeit ernst genommen. Es genügt, daran zu erinnern, mit welcher Selbstverständlichkeit Dostojewskij von der Gemütskälte krimineller Wahrnehmung Gebrauch macht (Raskolnikow, Stawrogin, Smerdjakow), um auch in den sentimentalen Übersteigerungen das Kalkül zu erkennen. - Und nun gelangen wir zum dritten Wirkungsfaktor.

3. Die Sexualität

In Briefen an Saltykow-Schtschedrin und Pawel Annenkow bezeichnet Turgenjew Dostojewskij mit Ironie und Verachtung als "unseren de Sade". (20) Turgenjew kann es nicht fassen, daß Dostojewskij sogar von russischen Bischöfen wegen seiner allumfassenden Liebe gepriesen wird. Mit tiefer Zustimmung liest Turgenjew, kurz nachdem Dostojewskij gestorben ist,

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jene umfängliche Abhandlung des Kritikers Nikolaj Michajlowskij, die schon im Titel Dostojewski) als "Talent der Grausamkeit" (1882) kenntlich macht. (21) Turgenjew sieht hier den Grundzug Dostojewskijs adäquat beschrieben und fügt hinzu, Michajlowskij hätte "daran erinnern sollen, daß ein ganz ähnliches Phänomen in der französischen Literatur vorhanden ist, nämlich der berüchtigte Marquis de Sade".

Und in der Tat wird in Dostojewskijs großen Romanen an einschlägigen Stellen explizit auf de Sade Bezug genommen. In den "Dämonen" fragt Schatow Stawrogin: "Ist es wahr, daß der Marquis de Sade von ihnen noch hätte lernen können?" (22) Auch Fjodor Karamasow wird uns ausdrücklich als der Gesinnungsgenosse des Marquis de Sade kenntlich gemacht, und gewiß lassen sich auch ohne Direktverweis in der Gestalt Swidrigajlows echt "sadistische" Züge erkennen.

Selbst wenn wir Turgenjews Feststellung, Dostojewski] sei der russische Marquis de Sade als Übertreibung empfinden, müssen wir einräumen, daß sich in den fünf großen Romanen auf Schritt und Tritt sadistische Elemente finden.

In jedem dieser fünf Romane gibt es eine herausragende Gestalt, die ganz im Sog ihres hemmungslosen Trieblebens steht. In "Schuld und Sühne" ist es der an die fünfzig Jahre alte Arkadij Swidrigajlow, der an seinen düsteren sexuellen Verstrickungen schließlich zugrundegeht. Petersburg als Stätte großstädtisch anonymer Vergnügungen wird ihm zum Paradies, das ihm den Tod bringt. Nach einem depressiv üppigen Traum, der auf die rituellen Vorlieben eines Luis Bunuel vorausweist, begeht Swidrigajlow Selbstmord. Man beachte zudem, daß "Schuld und Sühne" mit entscheidenden Szenen im Petersburger Bordellviertel spielt, ja, die weibliche Hauptgestalt dieses Romans, Sonja Marmeladowa, ist eine Prostituierte.

Im nachfolgenden Roman "Der Idiot" ist es Parfenij Rogoschin, der die Last zügelloser Leidenschaft mit sich herumträgt. Rogoschins libidinöse Exzesse werden jedoch ganz im Prisma der vorsichtigen Andeutung dargeboten. Dostojewskij hinterlegt sozusagen Sprengsätze, die erst in der Phantasie des Lesers zur Detonation kommen. Wir müssen René Wellek zustimmen, wenn er gegen Wjatscheslaw Iwanow geltend macht, daß die Schlußszene des "Idioten" einen sadistischen Lustmord impliziert, den Dostojewskij aufgrund der Konventionen seiner Zeit allerdings sorgfältig kaschieren mußte. (23)

War Sonja Marmeladowa eine Prostituierte der untersten Stufe, so nähert sich Anastasija Baraschkowa, die weibliche Hauptgestalt des "Idioten", dem Typus der höchst prekären Kurtisane: nicht zufällig wird sie explizit in Analogie zur Kameliendame gesehen.

Mit der Romantisierung der Prostituierten, wie sie sowohl für "Schuld und Sühne", als auch für den "Idioten" typisch ist, entspricht Dostojewskij regelrecht begeistert dem Zug der Zeit.

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In den "Dämonen" wird die Verstrickung ins Libidinöse von der Hauptgestalt selbst getragen. Nikolaj Stawrogin, der seine Seele durch vernunftwidriges Handeln mutwillig verkrüppelt, hält den Satanismus als aktive Antwort auf die durchschaute Misere der conditio humana nicht aus und erdrosselt sich schließlich mit einer Seidenschnur. Was er zuvor an Ornamenten des Schreckens speziell im Bereich sexueller Zuwendung arrangiert hat, wird uns durch gezielte Andeutungen nahegebracht. Lediglich die berüchtigte "Beichte Stawrogins" liefert uns, allerdings in Form einer Selbststilisierung, ein Protokoll dessen, was sich allem Aussprechen zu widersetzen scheint. Wie im Falle Swidrigajlows steht auch für Stawrogin der libidinöse Frevel an einem minderjährigen Mädchen im Zentrum.

Im "Jüngling", der uns die Hölle der Pubertät schildert, hat Maurice Lambert die Funktion, eine Welt trivialer Exzesse zu veranschaulichen; und in den "Brüdern Karamasow" schließlich zeichnet Dostojewskij in der Gestalt des alten Karamasow (dem er seinen eigenen Vornamen verliehen hat!), einen gleichzeitig vitalen und reflektierten Triebmenschen, der von keinerlei inneren Anfechtungen heimgesucht wird. Fjodor Karamasow zieht sich jedoch auf Grund seiner lasziven und gleichzeitig zynischen Haltung zur Mitwelt tödlichen Haß zu. Wegen seines Lebenswandels wird er ermordet!

Es läßt sich nun feststellen: Dostojewskij versieht das sexuelle Engagement mit dem Stigma des Verbotenen. Der libidinöse Exzeß wird als der Zwillingsbruder des Verbrechens gestaltet. Swidrigajlow und Stawrogin enden durch Selbstmord. Fjodor Karamasow wird ermordet, und sein Mörder ist das unmittelbare Produkt unwürdiger Leidenschaft. Rogoschin landet infolge seiner egoistischen Ziele im sibirischen Zuchthaus; nur Lambert lebt ungeschoren seine vulgär-sadistische Gesinnung. Auf Grund seiner französischen Herkunft ist er im sittlichen Rußland ohnehin exterritorial.

Wiederum schafft die Realität der Sittlichkeit den wirksamsten Hintergrund für das gestaltete Phänomen. Das inhärente Verdikt wirkt wie ein Vergrößerungsglas für die Eigentümlichkeit der Sache selbst.

4. Die Religion

Nach dem Verbrechen, der Krankheit und der Sexualität ist die Religion als entscheidender Wirkungsfaktor der fünf großen Romane Dostojewskijs anzusehen. Dostojewskij propagiert die christliche Religion in ihrer russisch-orthodoxen Variante. Diese Variante wird aber von ihm wiederum abgewandelt: so vertritt er im Unterschied zum herrschenden Dogma die Meinung, daß der Selbstmörder nicht zu verdammen sei und daß ein Leben in der Zurückgezogenheit der Mönchszelle niemals im Sinne 3esu Christi sein könne.

Im Zentrum der religiösen Diskussionen und der religiös inspirierten

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Handlungen, an denen uns Dostojewskij teilnehmen läßt, steht Christus. Christus hat eine doppelte Funktion. Er ist einmal das sittliche Vorbild, das durch seine gelebte Wirklichkeit zur Befolgung des Sittengesetzes aufruft; zum anderen aber ist Christus zu einem geradezu abgründigen Mitleid auch mit dem schlimmsten Schwerverbrecher fähig. Durch den Rückgriff auf Christus läßt uns Dostojewskij deutlich werden, daß Vernunftgründe allein nicht ausreichen, um uns zum sittlich Guten zu motivieren, und daß die Einsicht in die eigene Schuld nicht ausreicht, um Strafe auszuhalten. Erst die Imitatio Christi läßt den Vollzug der Gerechtigkeit erträglich werden. In der Welt Dostojewskijs gründet die Sittlichkeit in Christus. Die fünf großen Romane Dostojewskijs werden von dieser Prämisse getragen.

Dostojewskij bezieht auch aus dieser Prämisse merkwürdige Effekte. So hören wir im "Idioten" die Anekdote von einem älteren russischen Bauern, der in einem Kleinstadthotel übernachtet und plötzlich seinen Freund, der mit ihm das Zimmer teilt, wegen einer silbernen Uhr ermordet. Wörtlich heißt es: "Er nahm ein Messer, und als der Freund sich abgewandt hatte, schlich er leise von hinten an ihn heran, zielte, hob die Augen gen Himmel, schlug ein Kreuz, und, indem er in bitterem Stoßgebet vor sich hinmurmelte: 'Herr, vergib mir um Christi willen!' - schnitt er dem Freund mit einem Schnitt die Kehle durch wie einem Hammel und nahm ihm die Uhr weg." Myschkin erzählt diese Anekdote; und Rogoschin fällt fast um vor Lachen, als er sie hört: "Das gefällt mir! Nein, das ist das Beste, was ich jemals gehört habe!", schrie er konvulsivisch und erstickte fast ... (24)

Dostojewskij erzielt mit der Einbringung des Religiösen den Effekt des Fremdartigen, ja Abartigen und oftmals Exotischen, immer aber Extravaganten.

Da treffen wir in "Schuld und Sühne" auf die Prostituierte Sonja Marmeladowa, die dem kriminellen Ex-Studenten Raskolnikow aus der Bibel vorliest, eine Verquickung von Schauerromantik und Empfindsamkeit, die Vladimir Nabokov zu puristischem Tadel provozierte: Der "Killer und die Nutte" lesen gemeinsam "das Buch der Bücher - welch ein Unsinn." (25)

Da erleben wir im "Idioten" den sonderbaren Kreuzestausch zwischen Myschkin und Rogoschin. Rogoschin tauscht sein goldenes Kreuz gegen das Zinnkreuz des Fürsten, das dieser einem Soldaten abgekauft hat. Und derselbe Fürst Myschkin versichert uns, daß der Katholizismus keine christliche Religion sei. Wörtlich heißt es: "Der Atheismus predigt nur das Nichts, der Katholizismus aber geht weiter: er predigt einen entstellten Christus, den er verleumdet und beschimpft hat, einen in sein Gegenteil verkehrten Christus! Er predigt den Antichristen ...". Der Papst habe einen irdischen Thron bestiegen, nicht nur das Schwert genommen, sondern noch die Lüge hinzugefügt. "Hinterlist, Betrug, Fanatismus, Aberglaube, Greueltaten" seien die Kennmarken des Katholizismus. (26) Solche Argumentation kommt in der Legende vorn Großinquisitor, die wir in den "Brüdern Karamasow" antreffen, auf ihren Gipfel.

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Die von Dostojewskij präsentierte Skala religiöser Erfahrung ist von erstaunlicher Breite. So wird uns in den "Dämonen" ein junger Unterleutnant geschildert, der plötzlich, im Banne des Unglaubens, zwei Ikonen aus seinem Quartier hinauswirft, eine davon sogar mit dem Beil zerhackt, um dann die Werke von Karl Vogt, Jakob Moleschott und Ludwig Büchner auf drei Lesepulten in seinem Zimmer aufzustellen und vor jedem ein Kirchenlicht anzuzünden. (27) Mit Bewunderung hat Gustave LeBon diese Anekdote in seiner "Psychologie der Massen" (1895) aufgegriffen. (28)

Der Scharfsinn, mit dem Dostojewskij die christliche Religion bedenkt, besticht so manchen Gebildeten unter ihren Verächtern. Man vergegenwärtige sich nur das Argument, auf das sich Schatow gegenüber Stawrogin beruft: "Aber haben Sie nicht selbst zu mir gesagt, daß Sie sogar dann, wenn Sie den mathematischen Beweis dafür hätten, daß die Wahrheit außerhalb Christi liege, lieber bei Christus bleiben würden als bei der Wahrheit?" (29) Solche Redefigur läßt sofort an die Überrumpelungstaktik eines Cicero denken: "Errare mehercule malo cum Platone, quem tu quanti facias scio et quem ex tuo ore admiror, quam cum istis vera sentire" (Tusculanae Disputationes, I).

Jeder der fünf großen Romane zeigt uns entscheidende Gestalten, die aus der Rückbindung an das, was unsere Erfahrung übersteigt, aus der "religio", ihre beirrende Aura beziehen. Ausgesprochen religiöse Gestalten sind Sonja Marmeladowa in "Schuld und Sühne", der "Idiot" Lew Myschkin, Schatow und Kirillow in den "Dämonen", Makar Dolgorukij im "Jüngling" und - last, not least: der Starez Sossima in den "Brüdern Karamasow" als der erfolgreiche Medizinmann der russischen Seele. Der Mensch im Banne des Glaubens wird uns in seiner Fähigkeit, die instrumentelle Vernunft nicht zu achten, vorgeführt. Und nun gelangen wir zum fünften und letzten der von Dostojewskij bevorzugten Themenbereiche.

5. Die Politik

Es läßt sich nicht leugnen, daß Dostojewskijs politische Ansichten höchst sonderbar sind. Im Namen der Zukunft Rußlands wird alles verworfen, was den russischen Interessen entgegensteht. Diese russischen Interessen begreift Dostojewskij im Sinne eines zarentreuen Nationalismus, der im Dienste der christlichen Idee steht. Auffällig ist die Abwertung Westeuropas. Wie man weiß, schlug sich Dostojewskij auf die Seite der Slawophilen. Damit ist jedoch keine Absage an Europa verknüpft. Vielmehr bejaht Dostojewskij ein Europa unter der Führung Rußlands. Die Verneinung trifft das ihm zeitgenössische Westeuropa, das er von falschen Göttern beherrscht sieht, die nach Rußland übergegriffen haben.

Man beachte, daß die fünf großen Romane nur ein einziges Jahrzehnt darstellen: Rußland zwischen 1865 und 1875. Die Analyse dieses Jahrzehnts soll die Zukunftsaussichten Rußlands sichtbar werden lassen. (30) In den fünf großen Romanen ist keine der Hauptgestalten über dreißig Jahre alt; die jüngsten, Arkadij Dolgorukij und Alexej Karamasow, werden uns im Alter von neunzehn und zwanzig Jahren vor Augen geführt, die

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ältesten, Nikolaj Stawrogin und Dmitrij Karamasow, sind Ende zwanzig, und zwischen ihnen befinden sich der dreiundzwanzigjährige Raskolnikow und der schließlich siebenundzwanzigjährige Fürst Myschkin. Die fünf großen Romane haben die Auswirkungen der russischen Wirklichkeit auf die heranwachsende Generation zum Thema.

Folgen wir dem öffentlich dokumentierten Selbstverständnis Dostojewskijs, so müssen wir jeden dieser fünf Romane als eine gesellschaftstypische Allegorie lesen. Auch die kleinste Nebenlinie im Handlungsgefüge trägt plötzlich einen diagnostischen Charakter. So stirbt etwa Stawrogins Kind, das die Frau Schatows zur Welt bringt, wenige Tage nach der Geburt: denn das Lebensprinzip Stawrogins hat keine Zukunft. So trägt der ehemals leibeigene Gärtner Makar im "Jüngling" den Namen eines russischen Fürstengeschlechts: Dolgorukij. Dostojewskij bringt dadurch zum Ausdruck, daß die kulturschaffende Rolle des Adels jetzt von den wachen Kräften des Volkes übernommen wird. Die im Detail dargestellte Lebensunfähigkeit der beiden Fürsten Sokolskij ist im gleichen Sinne allegorisch gemeint. Und in den "Brüdern Karamasow" vertritt Smerdjakow, der Mörder und Selbstmörder, die Ansicht, es sei zu bedauern, daß Napoleon Rußland nicht besiegt habe.

Dostojewskij zeigt uns den Menschen als politischen Menschen. Er zeigt uns den einzelnen in der Verbindung mit dem Gemeinwesen: dieses Gemeinwesen, Rußland, wird von Dostojewskij zum Ort der Sittlichkeit erhoben. Es kommt dadurch zu einer Gleichsetzung der Interessen Rußlands mit den Interessen der Menschheit. Dostojewskij fusioniert den Begriff des Politischen mit dem Begriff des Ethischen. Das heißt: Der Begriff des Politischen, der, mit Carl Schmitt gesprochen, (31) nur die Opposition Freund und Feind kennt, wird mit dem Begriff des Ethischen, der nur die Opposition Gut und Böse kennt, zur Kongruenz gebracht. Im Resultat bedeutet das: Wer gegen Rußland ist, ist böse, denn Rußland ist der Ort der Sittlichkeit und deshalb sind seine politischen Ansprüche gut. Dostojewskijs Romane demonstrieren uns die ständige Präsenz des Politischen im Ethischen. Sie werden damit zu vollendeter Demagogie.

Insbesondere muß uns der Antisemitismus Dostojewskijs beunruhigen. Bereits seine Zeitgenossen stellten fest, daß er ganz selten von "evrej" spricht, sondern fast immer nur diffamierend von "zhid". Kennzeichnend ist folgende Passage aus "Schuld und Sühne". Dort stellt Swidrigajlow resigniert fest: "Das Volk säuft, die gebildete Jugend verbrennt vor Untätigkeit in unerfüllbaren Träumen und Wahnvorstellungen, sie verliert sich in Theorien, von irgendwoher sind die Juden gekommen und raffen das Geld zusammen, und alle übrigen frönen dem Laster." (32) Wo Juden in Dostojewskijs Werken auftreten, werden sie verächtlich gezeichnet. Man denke an Ljamschin in den "Dämonen", der in der deutschen Fernsehfassung des Romans aus dem Jahre 1977 einfach fortgelassen wurde. (33) Dostojewskij läßt keine Gelegenheit ungenutzt, seine politischen Ansichten ins Werk zu setzen. So findet sich im "Jüngling" eine eigentümliche Anekdote, in der sich die Legende vom Großinquisitor bereits ankündigt.

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Es heißt, "daß im vorigen Jahrhundert vom englischen Parlament eine Kommission von Rechtssachverständigen eingesetzt worden sei, die den gesamten Prozeß Christi vor dem Hohenpriester und Pilatus zu überprüfen hatte, nur um zu sehen, wie das heute bei unseren Gesetzen ausgesehen hätte, und daß man die ganze Sache mit größter Feierlichkeit durchgeführt habe, mit Verteidigern, Staatsanwälten und dergleichen ... nun, und daß die Geschworenen gezwungen waren, ihn schuldig zu sprechen ... Erstaunlich, so etwas!" (34) Hinter solch scheinbar absurder Phantasie zeigt sich der konsequente Ideologe: daß das englische Parlament mit dem Prozeß gegen Christus in Verbindung gebracht wird, hat seinen Grund darin, daß seit 1874 ein Jude englischer Ministerpräsident ist: Benjamin Disraeli.

Neben den Juden sind es die Polen und Franzosen, auf die Dostojewskij sein böswilligstes Augenmerk richtet. Für das russische Sendungsbewußtsein ist Polen unbrauchbar, da es vom Katholizismus geprägt ist. Wo in Dostojewskijs Romanen Polen auftreten, sind es reine Spottgestalten. Man denke an Pan Wrublewski und den "kleinen Polen" in den "Brüdern Karamasow". In Frankreich sieht Dostojewskij eine gefährliche Brutstätte des Atheismus. Der französische Einfluß in Rußland ist ihm verhaßt. Wenn es in den "Dämonen" von Stepan Trofimowitsch heißt, er spreche französisch wie ein Pariser, so ist solche Kennzeichnung ganz und gar verächtlich gemeint. Im "Jüngling" wird Maurice Lambert, dessen Name für sich selber spricht, von kleinlicher Bosheit beherrscht. Und schließlich darf auch die negative Veranschaulichung alles Deutschen nicht unerwähnt bleiben. Es reicht bestenfalls zu herablassender Zustimmung, so etwa bei der Zeichnung des Arztes Herzenstube in den "Brüdern Karamasow". Typischer ist der Gouverneur von Lembke in den "Dämonen" angelegt, auf dem der Makel einer deutschen Herkunft liegt. Das Typische nämlich des Deutschen erblickt Dostojewskij in der Dummheit, während etwa gegen die Türken die Grausamkeit geltend gemacht wird.

Des weiteren darf eine regelrecht rassistische Komponente nicht übersehen werden. Fürst Myschkin als der "restlos schöne Mensch" hat dichtes blondes Haar, große blaue Augen und schmale Backenknochen, sein böser Gegenspieler Rogoshin hingegen hat schwarzes Kraushaar, kleine graue Augen, stark ausgeprägte Backenknochen, und seine Nase, so lesen wir, ist "breit und platt". (35) Ein Cesare Lombroso hätte sich durch solche Schilderung gewiß bestätigt gesehen.

Dostojewskijs politische Vorlieben und Abneigungen resümieren die Interessen des großrussischen Chauvinismus, die mit der elastischen Unbeugsamkeit des versierten Dogmatikers vertreten werden. Die ständige Bereitschaft zum politischen Seitenhieb noch im kleinsten Detail appelliert an die konservative Volksmeinung. Alle Aufklärung, deren notwendiges Resultat der Sozialismus sei, wird als westeuropäische Importware abgelehnt. Zweifellos wollte Dostojewskij als der poeta laureatus des zaristischen Imperialismus in die Geschichte eingehen.

Dostojewskijs religiöse und politische Position wurde von Sigmund Freud

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folgendermaßen kenntlich gemacht: "Nach den heftigsten Kämpfen, die Triebansprüche des Individuums mit den Forderungen der menschlichen Gemeinschaft zu versöhnen, landet er rückläufig bei der Unterwerfung unter die weltliche wie unter die geistliche Autorität, bei der Ehrfurcht vor dem Zaren und dem Christengott und bei einem engherzigen russischen Nationalismus, eine Station, zu der geringere Geister mit weniger Mühe gelangt sind" (Dostojewski) und die Vatertötung, 1928). Deshalb sei Dostojewskij den "Kerkermeistern" der Menschheit zuzurechnen.

Im Lichte der "machiavellistischen Poetik" behält Freuds Feststellung ihr sachliches Recht, jedoch zeigt sich nun das positive Resultat der inkriminierten Gesinnung: nämlich Gut und Böse für jeden Andersdenkenden zu beleidigender Anschaulichkeit zu bringen und gleichzeitig auf dem Boden des moralischen Rigorismus dem Gewaltverbrechen die höchste Leuchtkraft zu sichern.

Ganz offensichtlich hat Dostojewskij noch aus seiner Individuation in religiöser und politischer Anpassung ein künstlerisches Kapital geschlagen, dem mit einer weltanschaulichen Vereinnahmung nicht beizukommen ist. Auch Sigmund Freud hat dies gesehen, denn er leitet seine Stellungnahme mit der erstaunlichen Bemerkung ein: "Leider muß die Analyse vor dem Problem des Dichters die Waffen strecken."

6. Komik

Wir stoßen jetzt auf einen Wirkungsfaktor der Poetik Dostojewskijs, der auf einer völlig anderen logischen Anschauungsebene liegt als die bisher behandelten. Bisher ging es darum, konstant verwendete Themenbereiche kenntlich zu machen. Nun geht es darum, ein für sämtliche dieser Themenbereiche gültiges Prinzip der Einfärbung bestimmter Details kenntlich zu machen. Dostojewskij hält ständig komische Effekte parat. Sie dienen der Verstärkung des Ernstes, indem sie Momente der Entlastung inmitten der Beschwörung des Unerquicklichen schaffen.

Man denke nur an Iwan Karamasows Gespräch mit dem Teufel. Es ist ein Dialog von einer geradezu ausgelassenen Heiterkeit der Oberfläche. Und doch kündigt sich hier Iwans Nervenzusammenbruch, der Bankrott seines falschen Bewußtseins, unabweislich an. Am Ende steht die traumatische Nachricht vom Selbstmord Smerdjakows, die der Teufel selber schließlich ankündigt. Voller Ärger und Beunruhigung spricht Iwan seinem aufsässigen Besucher die Existenz ab: "In Wirklichkeit gibt es dich gar nicht! Du bist mein Phantasiegebilde!" Aber der Teufel kontert: Cogito, ergo sum. (36) Allerdings zitiert er diesen Satz auf französisch und verrät damit seine ausländische Erziehung, die eben nur teuflisch sein kann. Oder, ein anderes Beispiel. Als Swidrigajlow sich zum Selbstmord rüstet und nach einer unruhigen Nacht an einem kalten und feuchten Petersburger Morgen vor einem Feuerwehrturm den Revolver zieht, um sich umzubringen, ruft ihm der Wachtposten zu: "He, das dürfen Sie hier nicht ..." (37) Gewiß, das ist komisch, gerade weil sich Swidrigajlow im nächsten Moment erschießt;

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aber, vergessen wir nicht, Dostojewskij kennzeichnet diesen Wachtposten als Juden, dessen Gesicht "jenen uralten, verdrießlichen Gram" widerspiegle, "der ausnahmslos allen Gesichtern des jüdischen Stammes ein so säuerliches Gepräge verleiht". Man sieht: Der Teufel sitzt im Detail. Immer wieder belustigt Dostojewskij sich und uns auf Kosten derer, die ihm politisch nicht behagen, wobei das politische Argument immer an das religiöse gekoppelt ist.

Man denke in solchem Zusammenhang auch an die bösartige Zeichnung des Schriftstellers Karmasinow in den "Dämonen", der sich alle Achtung verscherzt, weil er sich bei der gottlosen, revolutionären Jugend anzubiedern versucht. Gemeint war Turgenjew, und die Zusammenfassung, die uns Dostojewskij für Karmasinows Kunst anbietet, lautet: "Eine Nixe quiekt im Gebüsch. Gluck spielt im Schilf Geige." (38) Dostojewskijs Skala der komischen Effekte reicht von burlesker Situationskomik bis zu versteckter Ironie, von hintergründiger philosophischer Clownerie bis zur gezielt vulgären Taktlosigkeit, von makabrem Zynismus bis zur kindlichen Freude an satirischer Namensgebung. Von keinem der fünf Romane läßt sich sagen, daß in ihm die komischen Elemente zurücktreten oder in besonderer Häufung vorkommen. Der Sinn für komische Wirkungen begleitet das dichterische Tun Dostojewskijs in ständig gleichbleibender Intensität. Wenden wir uns nun dem letzten der Wirkungsfaktoren Dostojewskijs zu.

7. Die Erzähltechnik

Was jetzt zur Kennzeichnung ansteht, liegt auf einer wiederum anderen logischen Anschauungsebene als die Themenbereiche und deren plötzliche "komische" Beleuchtung. Es geht nun um die Art, wie Dostojewskij das, was erzählt werden soll, aufgliedert und präsentiert.

Dostojewskij hat eine unverkennbare Technik des Erzählens entwickelt, deren Elemente in jedem einzelnen Roman auf besondere Weise kombiniert werden. Nun müssen wir unter "Erzähltechnik" zweierlei verstehen: einmal das Arrangement dessen, was vom Erzähler der Fiktion erzählt werden soll, und zum anderen die Art und Weise, wie der Erzähler auf solches Arrangement angesetzt wird.

Zur Erzähltechnik im ersten Sinne gehört, daß Dostojewskij in jedem seiner fünf großen Romane nur eine einzige Situation, nur eine einzige "Befindlichkeit" (im Sinne Heideggers) zentral gestaltet. Alle Themen dienen dazu, nur diese eine Situation auf dem Boden der Wirklichkeit des Sittengesetzes zu veranschaulichen. Mit dieser zentralen Situation werden die auf immer neue Verwirrung des Lesers angelegten Einzelepisoden zu einem übergreifenden Effekt gebündelt. Durch solches Vorgehen verschafft Dostojewskij jedem seiner fünf großen Romane den Sog einer Mitte, so daß die Sicht unserer Einfühlung eine feste Orientierung bekommt.

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In "Schuld und Sühne" zum Beispiel läßt Dostojewskij die Befindlichkeit eines Mörders nach vollzogener Tat wirklichkeitsschaffend wirksam werden. Die Situation Raskolnikows, die bestimmt ist von der Angst vor dem Entdecktwerden seiner Täterschaft, vom Trotz gegenüber den Einreden seines Gewissens, vom Entsetzen angesichts seiner wachsenden Isolation, und von der Lust an der Grenzüberschreitung, wird von jedem Leser sofort "verstanden" und zwar völlig unabhängig von den möglichen Interpretationen, zu der die aufgewendeten Themenbereiche schließlich aufrufen.

Die zentrale Situation wird von Dostojewskij in jedem seiner fünf großen Romane derart angelegt, daß sie uns mit der Automatik des Selbstverständlichen in Bann schlägt. Gerade deswegen aber ist eine Schulung besonderer Art nötig, um diese Situation "als solche" sehen zu können und sich nicht von den Themen, denen sie ihre Konkretion verdankt, ablenken zu lassen.

Zur Erzähltechnik im ersten Sinne gehört ferner, daß Dostojewskij die zentralen Ereignisse immer in äußerst enge Zeiträume zusammenpreßt. Auf engstem Raum jagt ein Höhepunkt den ändern. Mit Recht ist von der Forschung betont worden, daß Dostojewskijs Romane dramatisch angelegt sind. Dostojewskij liebt es, szenisch zu erzählen. Er bringt seine Personen gern möglichst zahlreich an einem Ort zusammen, der Augenblick wird gedehnt, und plötzlich häufen sich die Katastrophen. Wjatscheslaw Iwanow hat deshalb Dostojewskijs Roman in typologischer Hinsicht als "roman-tragedija" bestimmt, ein Terminus, der im Deutschen hartnäckig falsch wiedergegeben wird. (39) "Roman-tragedija" heißt nicht Roman-Tragödie, wie es uns die deutschsprachige Dostojewskij-Forschung immer wieder einreden will, sondern Tragödienroman. Im Russischen steht ja doch hier das Spezifizierte an erster Stelle und das Spezifizierende nach dem Bindestrich. Wjatscheslaw Iwanow hat also mit seiner Kennzeichnung in gattungspoetischer Hinsicht am Begriff des "Romans" festgehalten!

Sagen wir also, Dostojewskij hat dramatische Romane geschrieben. Er liebt es, den Leser zum Zeugen dramatischer Vorgänge werden zu lassen, deren Anfänge regelrecht verpaßt wurden. Es werden uns sozusagen Ausschnittvergrößerungen der bereitgestellten Realität präsentiert, und zwar ohne wirklich erläuternden Kommentar. Damit stoßen wir auf die Funktion der innerhalb der Fiktion sich meldenden Erzähler. Es geht jetzt um die Erzähltechnik im zweiten Sinne. Dostojewskij verwendet immer wieder Großaufnahmen, die von dem jeweiligen Erzähler miteinander verbunden werden. Damit wird dem Leser gleichzeitig etwas gezeigt: der Ausschnitt, und etwas vorenthalten: nämlich der Kontext, dem die Ausschnittvergrößerung entstammt. Der Erzähler wird von Dostojewskij immer sehr willkürlich eingesetzt. Mal wird er als penibler Sammler von Hinterbringungen vor uns hingestellt, dann wieder mimt er den Augenzeugen, der wie eine Kamera mit dabei ist; doch wenn es darauf ankommt, tritt er ungeniert als privilegierter Hellseher und Gedankenleser vor uns hin. Nur der "Jüngling" hat einen realistisch eingesetzten Ich-Erzähler, nämlich die Titelgestalt selbst. Doch auch hier durchbrechen die wortwörtlich memorierten Szenenfolgen die realistische Prätention. Dosto-

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jewskij stellt mit Hilfe seiner Erzähler eine ausgeklügelte Behinderung des Informationsflusses her, deren Prinzipien, soweit ich sehe, noch gar nicht erforscht wurden.

Ernst Jünger hat vermerkt, daß Dostojewskijs Art zu erzählen etwas Beängstigendes habe. Es sei so, als ob "man sich bei Nacht in einem fremden Hause" bewegte, ohne zu wissen, "ob man den Rückweg finden wird". Denn alle Vorgänge, auch die "Bilder von leuchtender Deutlichkeit" erblicken wir "wie durch einen Spalt". (40)

Mit einem Wort: Dostojewskij hat nicht nur das Erzählte dramatisch angelegt, sondern zudem den Erzählvorgang als solchen dramatisiert und zu einem Geschehen eigener Art werden lassen.

Schlußbemerkung

Der Begriff der "rnachiavellistischen Poetik" leistet Verschiedenes. Zunächst wird durch ihn das Verhältnis Dostojewskijs zu seinem künstlerischen Tun neu bestimmt. Hinter der manifesten Motivation für dieses Tun: der Sorge um die Zukunft Rußlands, wird eine verborgene Motivation angesetzt: die Lust an der Herstellung öffentlicher Aufmerksamkeit durch literarische Provokationen. Die fünf großen Romane unterstehen derart unverhohlen der Autonomie des Effekts, daß die pesönlichen Motive für die Wahl der Inhalte den Charakter des Zufälligen bekommen.

Man darf sagen: Dostojewskijs Wahl seiner Wirkungsmittel gründet ausschließlich in der Erkenntnis dessen, was wirkt. Und "Wirkung" meint hier die Faszination, die von einer "Situation" ausgeht, noch bevor sie im Sinne einer Interpretation verstanden wurde.

Der Begriff der "rnachiavellistischen Poetik" wirft allerdings eine Frage auf, die hier nur gestellt, nicht aber diskutiert werden kann: Inwieweit nämlich die kenntlich gemachten Gründe für die Wirkung Dostojewskijs in unserer Zeit eine andere Wirkung ausüben als zu seiner Zeit. Nur soviel sei gesagt, daß die von Dostojewskij gewählten Wirkungsfaktoren als solche ganz offensichtlich keine nur zeitbedingten sind. Wer uns den Menschen im Schnittpunkt von Verbrechen, Krankheit, Sexualität, Religion, Politik und Komik vorführt - und dies mit Sachverstand und erzähltechnischem Können, darf, wie es scheint, einer Wirkung gewiß sein, die das aktuelle Interesse der eigenen Zeit grundsätzlich übersteigt.

Mit Nachdruck sei darauf hingewiesen, daß der Begriff der "rnachiavellistischen Poetik" primär nicht auf eine Psychologie des künstlerischen Schaffens abzielt, sondern auf eine Ontologie der künstlerischen Wirkung. Das aber soll heißen: Wer die fünf großen Romane Dostojewskijs als Resultate einer "rnachiavellistischen Poetik" begreift, ist dagegen gefeit, sich naiv jenen Wissenschaften anzuvertrauen, die für die von Dostojewskij benutzten Sachbereiche als zuständig zeichnen. Anders ausgedrückt: Der Kriminologe, der Mediziner, der Psychologe, der Theologe, der

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Soziologe kann angesichts der fünf großen Romane Dostojewskijs bestenfalls ein zwar richtiges, immer aber ein nur partikulares Wort sagen. Denn sie alle sind ja ausschließlich den Erkenntniszielen ihrer Wissenschaft verpflichtet. Aber auch der Theoretiker des Erzählverfahrens verfehlt, sobald er sich selber treu bleibt, die lebendige Wirkung Dostojewskijs: Wer überall nur Kunstgriffe sieht, ist genauso kunstblind wie jemand, der die dargestellten Inhalte einer wissenschaftlichen Kritik unterzieht. (41)

In aller Kürze sei festgestellt: Der Begriff der "machiavellistischen Poetik" unterstellt Dostojewskij weder Liebe zur Wahrheit, noch Liebe zum Guten. Auch der bohrende Ernst, mit dem Dostojewskij weltanschauliche Fragen beantwortet und abhandeln läßt, wird jetzt als pures Mittel zur Faszination des Lesers aufgefaßt. Mit solcher Prämisse wird alle wissenschaftlich geführte kritische Auseinandersetzung mit Dostojewskijs Inhalten hinfällig. Es kommt nun aber darauf an, Dostojewskijs Wirkungsfaktoren in ihrer Leistung für die Verwirklichung der zentralen Situation in jedem der fünf großen Romane kenntlich zu machen. Das heißt: Auf der Grundlage der hier durchgeführten Überlegungen sind neue Einzelinterpretationen der fünf großen Romane zu erbringen, die jeweils alle sieben Wirkungsfaktoren als vollendetes Ensemble berücksichtigen.

Eine solche Aufgabe ist nur auf dem Boden einer ganz bestimmten Poetologie möglich: einer Poetologie nämlich, die den höchsten Ernst des künstlerischen Tuns gerade darin sieht, mit unseren verschiedenen Möglichkeiten, engagiert zu werden, nur zu spielen, um uns für einen ewigen Augenblick der Begeisterung an das Kunstwerk zu fesseln. Diesen Augenblick unserer Begeisterung stellt Dostojewskij, so möchte ich sagen, regelrecht ruchlos her. Diese Ruchlosigkeit aber steht ganz im Dienst des unschuldigsten aller Geschäfte: im Dienst des Dichtens.

ANMERKUNGEN

  1. Vgl. Michail Bachtin: Problemy tvorchestva Dostoevskogo. Leningrad 1928. In 2. Aufl. unter dem Titel: Problemy poetiki Dostoevskogo. Moskau 1963.

  2. Vgl. N.S. Trubetzkoy: Dostojewskij als Künstler. Den Haag 1964.
  3. Vgl. Julius Meier-Graefe: Dostojewski, der Dichter. Berlin 1926, S. 500 -501
  4. Vgl. Leonid Grossman; Dostoevskij-khudozhnik. In: N.L. Stepanov (Hrsg.), Tvorchestvo F.M. Dostoevskogo, Moskau 1959, S. 366.
  5. Vgl. Georgij Fridlender: Estetika Dostoevskogo (1972). In: Fridlender, Dostoevskij i mirovaja literatura, Moskau 1979, S. 62 - 140.
  6. Vgl. Robert Louis Jackson: Dostoevsky's Quest for Form: A Study of His Philosophy of Art. New Haven and London 1966.
  7. Eine Sonderstellung nimmt in unserem Zusammenhang Leonid Grossmans Artikelsammlung "Poetika Dostoevskogo" (Moskau 1925) ein. Wir stoßen dort auf das Fazit, Dostoevskijs Romane seien eine Mischung aus "Plato und Eugène Sue" (S. 63). Die Einsicht, die diesem Aphorismus zugrundeliegt, wird von Grossman jedoch nicht ins Grund-

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    sätzliche einer "machiavelüstischen Poetik" vorangetrieben. Besondere Beachtung verdienen auch Wolf Schmids Thesen zu "Problemen einer diachronischen Rezeptionsästhetik, dargelegt am Beispiel Dostoevskijs", in: Russian Literature, IV/1 (1976), S. 47-66. Wolf Schmid postuliert zwar in seinem Kontext zu Recht die Trennung des Guten vom Schönen, bedenkt aber nicht die Möglichkeit einer "machiavelüstischen Poetik", die jenseits von Gut und Schön operiert.

  8. Vgl. Albert Camus' Vorwort zu seinen "Dramen" (Hamburg 1959), S. 13.
  9. Vgl. Thomas Mann: Dostoevski - mit Maßen (1946).
  10. Vgl. T. S. Eliot: Hamlet (1919), in: Eliot, Selected Essays, London: Faber & Faber 1966, S. 141-146.
  11. Vgl. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Deutsch von Eva Rechel-Mertens, 13 Bde., Frankfurt am Main 1965 (= Werkausgabe "edition suhrkamp"), darin: Die Gefangene, Bde. 9/10, S. 512.
  12. Vgl. Die Dämonen, Teil III, Kap. 6.
  13. Vgl. Die Brüder Karamasow, Buch XI, Kap. 8.
  14. Vgl. dazu Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman (1954), in: Adorno, Noten zur Literatur I, Frankfurt am Main 1965 (= Bibliothek Suhrkamp 47), S. 61-72. Es heißt dort, soweit es bei Dostojewski] überhaupt Psychologie gebe, sei es "eine des intelligiblen Charakters, des Wesens, und nicht des empirischen, der Menschen, wie sie herumlaufen". Vgl. dazu des weiteren Horst-Jürgen Gerigk: Die zweifache Pointe der "Brüder Karamasow". Eine Deutung mit Rücksicht auf Kants "Metaphysik der Sitten", in: Euphorion, 69 (1975), S. 333-349.
  15. Vgl. Turgenjew, Werke und Briefe (russ.) 28 Bde., Moskau und Leningrad 1960 f., Breife, Bd. 11, S. 164.
  16. Vgl. Sir Galahad: Idiotenführer durch die russische Literatur. München: Albert Langen 1925, S. 73 und S. 27.
  17. Vgl. Die Brüder Karamasow, Buch XII, Kap. 5.
  18. Vgl. Die Brüder Karamasow, Buch XI, Kap. 3
  19. Vgl. Die Dämonen, Teil I, Kap. 5, Abschnitt 5.
  20. Vgl. Turgenjew: Werke und Briefe (russ.), op. cit., Briefe, Bd. 13/11, S. 49 und S. 50. Vgl. hierzu Robert Louis Jackson: Dostoevsky and the Marquis de Sade, in: Russian Literature, IV/1 (1976), S. 27 - 45.
  21. Vgl. N.K. Mikhajlovskij: Zhestokij talant. In: Dostoevskij v russkoj kritike, Moskau 1956, S. 306 - 385.
  22. Vgl. Die Dämonen, Teil II, Kap. l, Abschnitt 7.
  23. Vgl. Rene Wellek: Wjatscheslaw Iwanows Schriften über Dostojewskij. Unveröffentlichtes Manuskript (1981), 14 Seiten, S. 13.
  24. Vgl. Der Idiot, Teil II, Kap. 4.
  25. Vgl. Vladimir Nabokov: Lectures on Russian Literature. Edited and with an Introduction by Fredson Bowers, London: Weidenfeld & Nicolson 1982, S. 110.
  26. Vgl. Der Idiot, Teil IV, Kap. 7.
  27. Vgl. Die Dämonen, Teil II, Kap. 6, Abschnitt 2.
  28. Vgl. Gustav LeBon: Psychologie der Massen. Stuttgart: Kröner 1961, S. 50.
  29. 26

  30. Vgl. Die Dämonen, Teil II, Kap. 1, Abschnitt 7.
  31. Die ersten vier der fünf großen Romane Dostojewskijs sind Gegenwartsromane im engsten Sinne; ihre Handlung spielt jeweils nur kurze Zeit vor ihrer Publikation. "Schuld und Sühne" erscheint 1866 und spielt 1865. "Der Idiot" erscheint 1868/69 und spielt 1867. "Die Dämonen" erscheinen 1871/72 und knüpfen an die Aktionen Netschajews im Jahre 1869 an. "Der Jüngling" erscheint 1875 und spielt 1873. Mit den "Brüdern Karamasow" setzt Dostojewskij neu an: sie erscheinen 1879/80, spielen aber im Jahre 1866. Dostojewskij wollte seine Diagnose der russischen Gegenwart noch einmal schreiben; der in Aussicht genommene zweite Band dieses Romans sollte die Schicksale der Hauptgestalten bis an die Schwelle der achtziger Jahre weiterverfolgen.
  32. Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vor wort und drei Corollarien. Berlin: Duncker & Humblot 1963.
  33. Vgl. Schuld und Sühne, Teil VI, Kap. 4.
  34. Vgl. Die Dämonen. Vierteiliger Fernsehfilm nach Fjodor M. Dostojewskij. Buch Leopold Ahlsen und Claus Peter Witt. Regie: Claus Peter Witt. Erstsendung: ARD 1977.
  35. Vgl. Der Jüngling, Teil II, Kap. 5, Abschnitt 3.
  36. Vgl. Der Idiot, Teil I, Kap. 1.
  37. Vgl. Die Brüder Karamasow, Buch XI, Kap. 9.
  38. Vgl. Schuld und Sühne, Teil VI, Kap. 6.
  39. Vgl. Die Dämonen, Teil III, Kap. 1, Abschnitt 3.
  40. Vgl. hierzu Wjatscheslaw Iwanow: Dostojewskij. Tragödie, Mythos, Mystik. Aus dem Russischen von Alexander Kresling, Tübingen 1932, darin: Die Roman-Tragödie, S. 6-18. Positiv ist zu vermerken, daß René Wellek in seiner obengenannten, noch unveröffentlichten Arbeit über Wjatscheslaw Iwanow die Bezeichnung "tragischer Roman" benutzt, während Ludolf Müller, wie ich soeben sehe, von einem "tragödischen Roman" spricht. Vgl. Ludolf Müller: Dostojewskij und Tübingen, Tübingen 1981 (= Skripten des Slavischen Seminars der Universität Tübingen, Nr. 22), S. 17.
  41. Vgl. Ernst Jünger: Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Figuren und Capriccios (1938), zitiert nach: Jünger, Werke, 18 Bd., Stuttgart: Klett-Cotta 1978 f., Bd. 9, S. 241/242.
  42. Vgl. hierzu Horst-Jürgen Gerigk: Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes, Berlin und New York: de Gruyter 1975, S. 59-62.
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