Dostoevsky Studies     Volume 2, 1981

ZU DOSTOEVSKIJS KONZEPTION DES LITERARISCHEN HELDEN IN DEN 1860-er JAHREN. AM BEISPIEL VON "SCHULD UND SÜHNE"

Wilfried Potthoff, Universität Bonn

Es ist bekannt, daß Dostojewskijs vielschichtige Polemik, soweit sie im literarischen Werk stattfindet, besonders über den Helden verläuft. Dies macht einen Aspekt der Problematik der Heldengestalten aus. (1) Daß Dostojewskijs Held vielfach seinen Ausgang vom Problem anderer Autoren nahm, war die Ansicht Boehms. Er bezog dies vor allem auf die Literatur. Die andere Seite der problematischen Erklärung des Helden liegt aber gerade in den disparaten Wurzeln und Begründungen - literarische, biographische, historische -, die in ihn eingehen. Es scheint nun, daß die Motivation des Helden einer Entwicklung unterliegt.

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Der Roman "Schuld und Sühne", am Beginn der großen Romane Dostoevskijs gelegen und selbst schon immer disparat aufgenommen, dürfte in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse sein.

"Ich bin überzeugt, daß nicht einer unserer lebenden oder toten Literaten unter Bedingungen schrieb, wie sie meine Arbeit ständig begleiten. Turgenev würde beim bloßen Gedanken daran sterben." (2)

Diese Äußerung Dostojewskijs aus einem Brief vom 17. Juni 1866, (3) die sich auf seine schwierigen finanziellen Lebensumstände bezieht, indiziert auch den komplizierten Verlauf seiner Auseinandersetzung mit dem Stoff des Romans "SuS", die in dieser Zeit stattfand. Von dem Diktum werden aber auch Erklärungen des Romans als formal oder inhaltlich disparat abgeleitet. Die Frage nach der Einheit des Romans führt auf die Entstehung der Konzeption Dostojewskijs und Grundlagen in Philosophie, Religion, Literatur und Geistesgeschichte zurück.

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Mit dem ideologischen Programm, das Dostojewskij Anfang der 60er Jahre entwickelt, trifft er in eine Situation der allgemeinen Dialektik von russischem Sendungsbewußtsein und sozialem Eudämonismus und abgeleiteten materialistischen wie idealistischen Ideologien und Theoriebildungen. Die Jahrhundertmitte bereits ist eine Zeit der thematischen Literarisierung von Sozialutopien und der Gattungsbildung. Der ideologiekritische Gesichtspunkt ist bei Dostojewskij immer latent vorhanden. Die Formulierung einer eigenen Position rückt ihn dabei oft selbst in die Nähe

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Der Anfang der 60er Jahre bezeichnet bei Dostojewskij die Wendung zu potschwennitschestwo, nationalrussischem Anliegen, religiöser Moral, der Vorstellung der Wiedervereinigung von Adel und Volk. Seine Kritik finden westliche Einflüsse des Sozialismus, Materialismus, der politische Liberalismus und die bürgerlich-kapitalistische Wirtschaftsordnung. Literarisch findet das zunächst seinen Niederschlag in den "Winterlichen Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke" (1863). In den 1864 erschienenen "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" gibt er dem Gedanken Ausdruck, daß der in der zeitgenössischen Wirklichkeit der Ära der Reformpolitik existierende Menschentyp bei weitem komplexer sei, als sich dies die 'sozialistischen Ärzte' der 40er Jahre vorgestellt hätten. Einen besonderen Angriffspunkt stellt Tschernyschewskijs sozialutopischer Roman "Was tun?" von 1863 dar.

Die Entstehungsgeschichte von "SuS" kann die diffizile Struktur des Romans erklären. Sie indiziert bekanntlich, daß Dostojewskij sich anfangs der allgemeinen thematischen Implikationen seines Gegenstandes noch nicht oder anders bewußt war. Der die Konstruktion der Handlung äußerlich bestimmende Mordkomplex wird dabei thematischen Weiterungen nutzbar gemacht. Das Problem des Verbrechens geht eine vielgestaltige Verbindung mit der Analyse des zeitgenössischen gesellschaftlichen Lebens ein. Der thematische Ansatz erfährt Erhellung durch den philosophisch-ideologischen Hintergrund: Sozialismus, Nihilismus, Materialismus, Idealismus, Orthodoxie. Die erhaltenen Notizbücher mit den Vorstudien zum Roman zeigen, daß die Bearbeitung in vier Stufen erfolgte.

In einem Brief an A.N. Maikow vom 18. Januar 1856 berichtet Dostojewskij vom Plan einer größeren Erzählung. (4) 1864 erhält das Projekt den Arbeitstitel "Die Trinker" und wird 1865 von den Redakteuren Korsen und Krajewskij von den "St. Petersburger Nachrichten" bzw. den "Vaterländischen Annalen" verworfen. Gegenstand dieser Fassung sind die sozialen Auswirkungen des Alkoholismus, behandelt auf dem Hintergrund der neuen Alkoholsteuergesetzgebung von 1860 und der Justizreform von 1864. Der Gegenstand hält sich bekanntlich in der Marmeladow-Handlung bis zur endgültigen Fassung.

Eine zweite Fassung entsteht, als das Projekt der großen Erzählung über Trunksucht mit dem Kern der späteren Handlung von "SuS" zusammenstößt. In einem Brief an den Verleger Katkow vom September 1856 spricht Dostojewskij von der Geschichte eines Mordes, der aus dem Gefühl der humanitären Pflicht gegenüber einer leidenden Menschheit begangen wird, auf dem Hintergrund von Kriminalberichten über konkrete Mordfälle in der Zeit: ein gewisser G. Tschistow ermordete zwei Frauen, um sie zu berauben; ein gewisser P.F. Lassenaire nahm für seine Tat dabei in Anspruch, sie sei Ausdruck des Kampfes gegen eine allgemeine Lebensungerechtigkeit; ein gewisser A. Danilow verübte aus Habgier einen Mord. (5) Der Zusammenziehung der beiden Handlungslinien mißt Dostojewskij selbst große Bedeutung bei, die mit der Spiegelung Raskolnikows durch die Marmeladow-Handlung zusammenhängt.

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Etwa drei Monate danach verbrennt Dostojewskij den bereits geschriebenen Text und beginnt eine neue Fassung, in der sich der Held als einer der 'Halbgötter der Geschichte' begreift, für die allgemein verbindliche Normen des Rechts und der Moral nicht Gültigkeit haben. Der Held trägt jetzt den Namen Raskolnikow. 1864 hatte Dostojewskij in einer Rezension Schtschedrins vom 'raskol' des neuen Menschen gesprochen, 1865 in einem Brief an Katkow von seinem 'Schwanken' (schatanje) und der 'schatost' seiner Begriffe. (6) Im Entwurf zu "SuS" wie auch in dem zum "Jüngling" taucht nun der sprechende Eigenname Schatow auf; er wird in den "Dämonen" angewendet. N. Strachow schreibt später, daß die Analyse jenes moralischen und geistigen Schwankens, in dem Dostojewskij die Wurzeln des Nihilismus gesehen habe, bei ihm hier in "SuS" beginne. (7) Der Held Raskolnikow wird auch explizit als Schriftsteller und Theoretiker des Nihilismus dargestellt und mit russischen Traditionen 'politischer Hybris' •verbunden: dem Zirkel Raskolnikows gehört ein aus der Verbannung zurückgekehrter ehemaliger Dekabrist an. (8)

In der vierten Stufe wird die zuerst humanitär, dann ideologisch begründete Tat Raskolnikows in ihren Grundlagen zur metaphysischen Rebellion erweitert. Der Held ist nicht mehr fehlgegangener Humanist, sondern die Verkörperung des Stolzes, der ihn gegen die göttliche und menschliche Ordnung führt. Die Begründung des allgemeinen Charakters wird explizit auf die Wurzeln des Helden im Sozialismus und Nihilismus hingeführt. Raskolnikow endet im Selbstmord. Diese Reaktion ist durch die entscheidende Erweiterung der Rolle Swidrigailows, der hier noch den Namen Aristow, also den Namen des Verbrechers aus den "Aufzeichnungen aus einem toten Hause", trägt, unter gleichzeitiger Externalisierung von Zügen Raskolnikows gekennzeichnet. Aristow-Swidrigailow gilt als geistiger Verwandter Raskolnikows, als ein Prototyp der 'Lakaiengestalten' bei Dostojewskij, der die Gedanken Raskolnikows in die Tat umzusetzen imstande wäre. Nach Dostojewskij schwankt Raskolnikow zwischen ihm und Sonja: die Situation des raskol ist da. Swidrigailow inkarniere die zynischste Verzweiflung, Sonja die Hoffnung; Raskolnikow sei "leidenschaftlich" an beide gebunden. (9) Die Fassung enthält zugleich Pläne zur Ausweitung: das Motiv der Wiederkunft Christi, Gedanken über das 'allgemeine Glück' der Menschheit, das irdische Paradies und das Goldene Zeitalter.

Aus den vier Phasen der Entstehungsgeschichte resultiert ein vielfältig verschränkter Aufbau im Themen- und Motivationskomplex des Romans, der in seinem Entwicklungsgang den Weg zum philosophisch-ideologischen Roman beschreibt. Dabei ist es so, daß die Gestalt des Raskolnikow in den letzten Entwürfen gegenüber der Endfassung viel deutlicher einen explizit mit Klischees etikettierten Typus darstellt. Er verlangt als Sozialist seine "Menschenrechte jetzt" und will nicht eine für ihn günstige Wende in der Dialektik der Geschichte abwarten. Er wird als "Bote einer neuen Zeit" und "Prophet eines neuen Wortes" bezeichnet. (10)

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Die Frage nach der Gesamtkonzeption der Endfassung hat eine literarische und eine zeit- und ideengeschichtliche Seite.

Das komplizierte wechselseitige Verhältnis der Teilentwürfe zueinander spiegelt sich auf eigene Weise auch in Hinblick auf einen Entwicklungsprozeß im literarischen Bezugssystem wider.

Der literarische Held bei Dostojewskij ist mit verschiedenen Traditionen in Beziehung gesetzt worden, z.B. von Tynjanow, Tschižewskij, Boehm und A. Rammelmeyer. Am Anfang steht der Held in einer vielgestaltigen und problematischen Spiegelungsbeziehung zu einer russischen Tradition der école frénétique, etwa zu Gogol und Marlinskij, sowie zu E.Th.A. Hoffmann und Byron. So sah es schon zu seiner Zeit, mehr äußerlich, der Literaturkritiker V. Belinskij. Bilder des Wahns stehen im wirkungsvollen Gegensatz zur Welt der Gesunden. Der Zusammenhang hat Dostojewskij bekanntlich besonders beschäftigt und in der Gestalt des 'Petersburger Träumers' oder des kranken Helden seinen Niederschlag gefunden (der Held in "Die Wirtin" oder in "Helle Nächte"). Als sein Bruder Michail ein faustisches Wahnsinnsdrama plant, hegt Dostojewskij noch das 'neueste Projekt', verrückt zu werden. Ein Reflex des Zusammenhangs findet sich im metaphysischen Wahnsinn, den der Aufzeichner aus dem Untergrund der Menschheit als letzte Flucht ins Indeterminierte prophezeit, eine Art Selbstmord der Seele, oder im völligen Kehraus zu Beginn eines neu zu erbauenden Geisteslebens, wie ihn der Chronist der "Erniedrigten und Beleidigten" wünscht.

Im weiteren soll der schwache oder schwankende Held mit anderen Traditionen in Berührung gekommen sein, für die etwa Diderot, Voltaire und Rousseau reklamiert werden. (11) Die Entwicklung soll mit der Wendung zum philosophischen Roman zusammenhängen, als dessen erste Verkörperung dann "SuS" gilt.

Doch zeigt "SuS" am Beginn der dritten Schaffensperiode Dostojewskijs noch auf verschiedene Weise den romantischen Ansatz. In den Entwürfen ist von der "dämonischen Kraft" des Helden die Rede, die byronisch diffus formuliert ist, als Gewalt über Menschen oder Kraft, unerhörte Taten zu vollbringen. Die Werkgeschichte zeigt, daß eine Entwicklung vorn romantischen Helden weg zur Externalisierung der Gespaltenheit Raskolnikows erfolgt. Diesem Gang entspricht auch die Hinwendung zu neuen literarischen Mustern. Boehm prägte das Wort von 'Dostojewskij, dem genialen Leser'. Als in den Konzepten Dostojewskijs die Vorstellung von der 'leidenden Menschheit' auftaucht, erfolgt der Verweis auf Victor Hugos "Les Misérables", den Dostojewskij auf der Auslandsreise 1863 Band für Band sofort nach Erscheinen erwarb und las. Die Leidensgeschichte der Marie-Antoinette findet dann unter dem Stichwort "Die Witwe Capet" in den Entwürfen Dostojewskijs Eingang in die exemplarisch reihende Darstellung der Menschheitsgeschichte. Die Präzisierung der diesbezüglich relevanten Gedanken Raskolnikows im dritten Entwurfsstadium erfolgt im

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Anschluß an Charles Nodiers Roman "Jean Sbogar" von 1818 und Victor Hugo zugleich: in der Hinwendung zur französischen Revolution, zur aktuellen historischen Fragestellung bzw., dort auf Nodier allein fußend, in der Ausgestaltung der Züge Raskolnikows. Der Held Nodiers und Raskolnikow stimmen im Selbstverständnis des 'welthistorischen Individuums' und in der negativen Beurteilung der Rolle der Masse in der historischen Dialektik überein - ihr wird eine konservative Trägheitsbestimmung zugegeben: wen sie heute noch bestraft, den erhebt sie morgen aufs Piedestal. Beide Helden werden mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht. Beiden ist als Widerspruchsmotiv eigen, daß sie an die Vorsehung glauben - ein Aspekt, der in der Endfassung bei Dostojewskij christlich verstärkt durch den Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch eingebracht wird. Nodier wie Dostojewskij entwickeln im Zusammenhang mit dem Helden eine Typologie des 'ewigen Aufrührers' als eines archetypischen Musters. In Dostojewskijs Zeitschrift "Die Zeit" wird unmittelbar vor der Arbeit an "SuS" Louis Blancs Analyse des Romans Nodiers unter dem thematischen Gesichtspunkt der 'Rolle des Individuums in der Geschichte' vorgestellt.

Bei Nodier wie Dostojewskij leiden nun die Helden, wenn sie außerhalb der anderen menschlichen Seelen gestellt sind. An diesem Punkt erfolgt bei Dostojewskij die Aufgabe der Begründung des Helden nach dem literarischen Muster Byrons und seine Hinüberleitung zur realen Gegenwart, d.h. zu der Verbindung mit der zeitgenössischen Ideologie des Nihilismus und des Utilitarismus. Die Selbstzweifel Raskolnikows werden in den Entwürfen noch unter Bezugnahme auf die ältere literarische Tradition formuliert, wenn Raskolnikow sich fragt, warum die Großen der Geschichte nicht schwankten, und sich selbst antwortet:

Weil sie stark waren (...) Ich kann das alles nur aus Feigheit des Charakters nicht ertragen (...) Die Arithmetik (gemeint ist seine Losung für den Mord: "ein Tod für 100 Leben" - W.P.) ist richtig, doch ich bin schwach. Ich kann diese byronischen Qualen nicht ertragen. (12)

Dämonische Kraft und Macht fallen nun Swidrigailow zu. Der bemerkbaren Tendenz entspricht eine gewisse Befreiung von pathetischsentimentalen Schwulstmotiven, etwa der Art, daß die mehr zufällig ermordete Schwester der Pfandleiherin, Lisaweta, auch noch schwanger war, zudem just von jenem Arzt, der dann Raskolnikow untersucht, oder daß Raskolnikow eine intime Beziehung mit einer Tochter eben jener Lisaweta verband, oder daß die Kinder Marmeladows nach dem Tode der Eltern ins Kinderheim müssen. Aber auch die Aufgabe der Tagebuchform des Romans und des bekennenden Ich-Erzählers bestätigen das Bild der allmählichen Entfernung von der Tradition der literarischen Romantik. Auch sollte beispielsweise Luschin ursprünglich durch Bezüge zur romantischen Literatur gekennzeichnet sein: in den Entwürfen heißt es noch, sein Geiz habe etwas von jenem Ritter Puschkins.

Mit der allgemeinen Tendenz der Entwicklung zur gegenwartsbezogenen

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Aktualisierung des Raskolnikow-Stoffes geht die zunehmende Einarbeitung literarischer Muster wie Bentham, Smith sowie Tschernyschewskij, Pomjalowskij (dessen Held im Roman "Bruder und Schwester" von 1864 hat die Idee Raskolnikows: er will durch Verbrechen reich werden), Pissarew, aber auch ein Rückgriff über die Romantik hinaus auf Rousseau, Schiller und Kant zur Begründung des Helden einher. Indem Raskolnikow Züge der schwankenden, wurzellosen Intelligenz beigegeben werden, wird der schwankende Held aus der älteren literarischen Tradition neuen Bezügen nutzbar gemacht. Das Schillersche Konzept des 'schönen Menschen' aus den "Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" und der Abhandlung "Über das Schöne" wird erst durch die in den Entwürfen spät erscheinende Gestalt des Swidrigailow eingebracht, der Raskolnikow in den Zusammenhang Schillerscher Motive stellt, die den Helden des "Idioten" und die späteren Karamasows antizipieren. Nach dem ersten Auftritt Swidrigailows wird Raskolnikow in den Entwürfen erstmals als Schillersche 'schöne Seele', "Der reine Schiller! Unser Schiller! Ja, das ist Schiller" bezeichnet, die die Wahrheit nicht ertragen könne, andererseits sich in Widersprüche zu sich selbst verwickle: man dürfe also nicht an Türen lauschen (ein Vorwurf, den Raskolnikow an Swidrigailow richtete), wohl aber alte Witwen mit dem Beil erschlagen? Das Problem der Strafe wird dabei auf Kant hingeführt, der Untergang von Raskolnikow abgewendet und auf Swidrigailow übertragen.

Es wird der Schluß nicht fehlgehen, daß der Held der literarischen Tradition, also der 'schöne Mensch' Schillers, mit der thematisierten zeitgenössischen Ideologie in Widerspruch gerät. Die Auseinandersetzung mit Schiller, in den "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" eingeleitet, wird hier begonnen. Es scheint dabei, daß bis zur Endfassung des Romans mehr und mehr individuelle Züge von der Gestalt des Raskolnikow abgelöst und mehr die allgemeinen Aspekte gespiegelt werden. Daraus entsteht der philosophisch-ideologische Roman. Das private Schwanken des Raskolnikow wird externalisiert und anderen Plänen und Entwürfen geöffnet. Dies wird ermöglicht durch die Konzeption des Helden selbst. Der psychische Prozess erfährt dabei eine Durchdringung mit philosophischer Fragestellung, religiöser und sozialer Problematik, der Frage der Rechtsprechung. Die Veränderungen, die die Einbindung literarischer Traditionen betreffen, sind dabei bloßes Indiz für einen anderen Prozeß: die Entwicklung zum dialektisch konzipierten Roman und die Bildung antinomischer Reihen.

Die antinomische Struktur des Romans ist mit der Gestalt des Helden selbst in Zusammenhang zu bringen. Motschulskij schon geht bei seiner Interpretation von der Beschreibung Raskolnikows aus, die im Roman Rasumichin gibt: "Es ist, als ob sich zwei widersprüchliche Charaktere wechselweise in ihm ablösten". (13) Die Interpretationen von Perewersew und Peace haben aufgrund der schicksalhaften Verbindungen und Zufälle im Roman, wie die Interpretationen von "SuS" als eines psychologischen Romans generell, von einer allgemeinen überzeitlichen Typologie gesprochen. In der Exteriorisierung des Kampfes, den Raskolnikow ausficht, weisen die Hauptpersonen über ihre autonome Funktion im

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Roman hinaus im Verhältnis zu Raskolnikow - Reflex des problematischen Helden - einen komplementären Aspekt auf: jede spiegelt und bricht Charakterzüge des Helden.

So können den Antinomiereihen egoistische Agressivität - Altruismus -Personen der Handlung zugeordnet werden. In die Reihe des agressiven Prinzips fallen dann Swidrigailow, der Übertreter jeglicher sittlicher Norm, Luschin, der Repräsentant eines 'aufgeklärten' Egoismus und Utilitarismus, und Lebesjatnikow, der - wenngleich zur Karikatur verzerrte - Protagonist nihilistischer Ideen. Dem altruistischen Prinzip wären zuzuordnen: Sonja, die die Macht der Liebe und Selbstverleugnung am reinsten verkörpert, Dunja, die Schwester Raskolnikows, und seine Mutter, die beide bereit sind, sich für ihn aufzuopfern, der Anstreicher Mikolka, den der Glaube an eine Ursünde und eine allen gemeinsame Mitschuld dazu treibt, sich der von ihm nicht begangenen Tat zu bezichtigen, und schließlich Marmeladow. Wir erwähnen zur Erläuterung das Beispiel Swidrigailows: Sich über alle sittlichen Schranken hinwegsetzend, einem depravierten Hedonismus sui generis huldigend, ist Swidrigailow den Weg Raskolnikows zu Ende gegangen. Die Manifestation von Stärke und Macht durch Übertretung sittlicher Normen, die Raskolnikow im Traum mißlang, vollzieht Swidrigailow dabei schon bei seinem Eintreten ins Zimmer Raskolnikows: "Plötzlich trat er vorsichtig über die Schwelle." Der feine metaphorische Bezug, der in der Deutung des "trat vorsichtig über die Schwelle" liegt, ist nicht zu übersehen.

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Über den Komplex des psychologischen Romans hinaus wird das formale Konzept der antinomischen Reihen aber nun für den philosophisch-ideologischen Roman und dessen aktuelle Problematik nutzbar gemacht. Dabei ist es in eine antithetische Rahmenkonstruktion von Träumen eingebracht, die von dem von Rousseau inspirierten Traurn vorn Goldenen Zeitalter und dem bekannten Pferdetraum getragen wird und ein Bild der depravierten Welt, des korrumpierten Glückszustandes entwirft, das die Zerrissenheit des Raskolnikow zwischen menschlichem Gefühl und planem Rationalismus indiziert.

Am Beginn des Jahres 1865, ein halbes Jahr vor dem Beginn der Arbeit Dostojewskijs an "SuS", schreibt N.N. Strachow in der Zeitschrift "Epocha" über das aufkommende Interesse am 'neuen Menschen', dem Typus des Nihilisten, das sich in der russischen Literatur manifestiere:

Zuerst unternahm dies der hellhörige Turgenew, der in seinem Basa-row dem neuen Menschen Gestalt zu geben versuchte. Dann schrieb Herr Pissemskij "Das aufgewühlte Meer", in dem nun notwendig auch Figuren des neuen Menschen auftreten mußten (...) Im "Russischen Boten" erschien der Roman "Marewo", im "Zeitgenossen" der Roman "Was tun?"... All das dreht sich um einen Fixpunkt, nämlich das Bild des neuen Menschen, und wenn die Sache in der gleichen Weise weitergeht, erwarten uns in der Zukunft noch einige Romane dieser . Art.(14)

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Dostojewskij nahm in "SuS" auf seine Weise an der Polemik der 60er Jahre um den 'neuen Menschen' Anteil, indem er auf der einen Seite die literarische Gestalt des reflektierenden Nihilisten Raskolnikow, auf der anderen als satirisch gestaltete Träger einer 'Straßenphilosophie1 Luschin und Lebesjatnikow schuf. Gezielt war diese Konstruktion auf den zeitgenössischen Nihilisten als polemisch dargestellter, widersprüchlicher Verquickung persönlicher Hybris und sozialistischer Ideen. In die Vertiefung der Gestalt des Raskolnikow geht Dostojewskijs intensive Beschäftigung mit den Werken Carlyles, Stirners und anderer Repräsentanten einer so begriffenen westlichen Philosophie des Individualismus ein. Carlyle stand seit 1856 in der ersten russischen Übersetzung von V. Botkin, unter dem Titel "Geroitscheskoje snatschenije poeta", zur Verfügung. (15) Stirner lag ihm auf Russisch seit 1865 vor. Das Jahr 1865 gab Dostojewskij Gelegenheit, die Idee des 'Übermenschen' mit der Chiffre 'Napoleon' zum Ausdruck zu bringen. Im März des Jahres erschien in Paris der erste Band der "Histoire de Cesar" von Louis Napoleon. Der große Erfolg des Buchs trug dazu bei, daß wenig mehr als einen Monat später eine russische Übersetzung vorgelegt werden konnte, die dann noch 1865 von der Zeitschrift "Die Stimme" rezensiert wurde.

Die Argumentation des Autors löste heftige Auseinandersetzungen der russischen Intelligenz in der Presse aus. Der unbekannte Rezensent der Petersburger Zeitschrift "Der Zeitgenosse" nimmt dabei in seiner Kritik bekanntlich die Worte Porfirijs aus "Schuld und Sühne" vorweg:

So gibt es also eine Art Logik und eine Art Gesetze, nach denen man die Taten gewöhnlicher Menschen zu beurteilen hat, und eine andere Logik und andere Gesetze, nach denen man universelle Genies, Helden, Halbgötter beurteilen soll... Wenn aber die großen Genies der Geschichte nicht den gewöhnlichen Gesetzen unterliegen, wenn die Gesetze der gewöhnlichen Logik auf sie nicht anzuwenden sind, dann stellt sich die Frage, wie soll man solche Persönlichkeiten erkennen? (16)

Die künstlerische Analyse des zeitgenössischen Helden entwickelt sich bei Dostojewskij über die Dialektik von Gut und Böse, die der Selbsterprobung des Helden zugrundeliegende Opposition von 'welthistorischem Individuum' im Sinne Hegels und 'zitternder Kreatur' - die Formel hat er Puschkins "Imitationen des Koran" entnommen - und führt zur Vorstellung der Rettung der Persönlichkeit, eine Art eigene Lehre, durch sittliche Wiedergeburt in der Wiedervereinigung mit der Menschheit, in der Versöhnung mit dem 'Boden', in der Arbeit und dem Leiden. Den Topos von der 'Vereinzelung' verdankt er den russischen Propagatoren der Philosophie des Idealismus, vor allem dem Fürsten Odojewskij und A. Grigorjew als Interpreten Schellings. Dabei verbinden sich das Problem des Verbrechens und das Problem der Empörung ob sozialer Ungerechtigkeit zu einem Komplex, die Lösung des einen ist eng mit der des anderen verknüpft. Sie erfolgt über die - z.T. grotesk pervertierte, polemisch-karikaturistisch gestaltete - Decouvrierung der eschatologischen Ansprüche sozialistischer

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und utilitaristischer Denkgebäude. Dabei wird noch etwas mehr vom ideellen Hintergrund Dostojewskijs klar.

In der Szene des Zusammentreffens Luschins mit Raskolnikow beispielsweise bemüht sich Dostojewskij, polemisch auf Berührungspunkte zwischen der Ethik des 'vernünftigen Egoismus' Feuerbachs und Tscherny-schewskijs und dem Utilitarismus von Malthus, Bentham und Mill hinzuweisen. Dem 'Lakaien' Lebesjatnikow werden eine Reihe von Gedanken Tschernyschewskijs zur Frauenfrage und zur Institution der Ehe in den Mund gelegt. Lebesjatnikows Meinung, daß Kanalreinigen eine höhere, da nützlichere Arbeit sei als die schöpferische Tätigkeit eines Raffael oder Puschkin, parodiert Ansichten Pissarews.

Luschin, der bornierte Parvenü niedriger Gesinnung, der es versteht, einige virulente zeitgenössische Ideen geschickt zu adaptieren und für seine Zwecke einzuspannen, ganz und gar der Typus des 'poschlyj tschelowjek', legt die utilitaristische Wurzel kapitalistischen Zweckdenkens bloß. Zum Teil werden seine Ansichten auch Lebesjatnikow zugeordnet. Er ist Russe, spricht aber ein gebrochenes Russisch, was wohl die westeuropäische, fremdsprachige Provenienz seiner Ideen andeuten soll. Von daher Rasumichins Beschreibung seines Freundes Raskolnikow: er sei "die Übersetzung eines fremdsprachigen Originals". (17) Luzide spürt Raskolnikow bei Lebesjatnikow die Schwachstellen eines reduzierten Menschen- und Weltbildes auf. Der plane Rationalismus, der im nach dem Modell eines vulgarisierten Sozialismus entworfenen Utopia Lebesjatnikows das Leben bestimmen soll, greift auf das alte, seit Gogol wiederbelebte Symbol 'Paris' als historischer Inkorporation einmal verwirklichter Vernunftherrschaft zurück: er suggeriert ein neues Wissenschaftsmodell, nach dem menschlicher Wahnsinn nur ein logischer Irrtum, nicht eine Krankheit sei: in Paris heile man "Wahnsinn durch Logik". Auch der Szientismus Lebesjatnikows unterteilt in superiore und inferiore Menschen und macht sich dabei ein depraviertes Bild virulenter Vorstellungen Darwins, Buckles und Royers in Rußland zu eigen. Dostojewskij parodiert Ansichten von Utilitaristen wie Malthus und Bentham, wenn er Marme-ladow, das Objekt des Mitgefühls Raskolnikows, erklären läßt, Lebesjatnikow, der den neuen Wissenschaften folge, habe ihm gesagt, daß in der gegenwärtigen Zeit das Mitleid sogar von den Wissenschaften verboten sei (eine Anspielung speziell auf Owen) und daß man in England so verfahre, wo die politische Ökonomie herrsche. Als Widersprüche gegenüber dem bloßen Utilitarismus artikuliert Dostojewskij Raskolnikows Mitleid, im Pferdetraum - eine Parallele stellt dann der bislang noch nicht adäquat gewürdigte 'Ophelia-Traum' Swidrigailows dar - und bei Raskolnikows Einsatz als Lebensretter, die ihm in den Entwürfen noch die Erfahrung einbrachten: "Die Rettung. Hurra! Es gibt Leben!" Dostojewskij macht dabei in kämpferischer Auseinandersetzung auch nicht vor der Decouvrierung durch groteske Kasuistik und Entgrenzung (wie später beim vernünftelnden Aufklärer Iwan Karamasow, der darüber räsoniert, daß ein genügend kräftig und hoch geworfenes Beil in eine Umlaufbahn um die Erde eintreten müsse) halt. In diesem Zusammenhang erhebt Dostojewskij hier zum ersten Mal seine warnende Stimme gegen jene "Liebe zu den Fernen',

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die die Humanität im Namen der Zukunft verrate. Der Begriff rekurriert auf Belinskijs Vorstellung von der 'Übergangszeit' oder 'Übergangsphase' und wird in den "Brüdern Karamasow" im Zusammenhang des Schillerschen Menschen wieder aufgenommen, am Beginn des 20. Jahrhunderts bei der Aktualisierung des Übergangsdenkens und im Zusammenhang der Rezeption Nietzsches (18) wieder rezipiert. Den Carlyleschen Aspekt des Gedankens - Hunderttausend leben nur für einen Großen - wird Maxim Gorkij in der Formulierung Dostojewskijs 1902 ins "Nachtasyl" einbringen.

Die Hinführung Raskolnikows zu einer Ablösung von individueller Leidenschaft und von der 'napoleonischen Idee' auf dem Wege durch das Leiden, das man auf sich nehmen müsse, ist natürlich nicht ohne Sonjas evangelisches Ideal des Mitleids und der Nächstenliebe (sie liest ihm die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus vor) möglich. Ist damit eine christliche Lösung erreicht? Erschließt sich in "SuS" das Wesen der Orthodoxie, wie es dies nach einem thematischen Entwurf Dostojewskijs einmal tun sollte? In wesentlichen Teilen sicher nicht, wie schon Onasch sah. (19) Das Schuldempfinden Raskolnikows mündet nicht darin, daß er laut in alle Himmelsrichtungen ruft: "Ich habe getötet!" Vielmehr legt Raskolnikow bis zum Schluß kein ausdrückliches Schuldbekenntnis ab. Wie wenig die irdische Gerechtigkeit und die von ihr verhängte Strafe für ihn bedeuten, wie Dostojewskij auch selbst gegenüber Katkow betonte, ist daran abzulesen, daß er auch in der Katorga noch aufbegehrt und in seiner Tat nichts wirklich Schuldhaftes, sondern allenfalls einen Irrtum, einen 'Schnitzer', sehen kann. Vielmehr sind seit Leontjew immer mehr Hinweise entdeckt worden, die auf einen Typus christlicher Religiosität ausserhalb der kirchlichen Auffassung hinweisen. Darauf scheint auch hinzudeuten, daß im ganzen Roman nur einmal ein orthodoxer Priester vorkommt, ansonsten aber ständig Sektierer, Häretiker und Schismatiker erscheinen. Insofern erfolgt im Roman nicht eine östlich-orthodoxe Versöhnung des westlich-stolzen Menschen, der, wie Dostojewskij später schrieb, mit dem Schwert in der Hand sein Recht fordere.

In der Unerreichbarkeit Raskolnikows durch menschliche Strafe kommt die Problematik des Romans zum Ausdruck, die mit der Frage 'kann der Mensch strafen?' verbunden ist. Z.T. nur findet sie eine religiös begründete Beantwortung. Ihre Betrachtung erschließt noch mehr vom ideellen Hintergrund des Romans. Sie wird in der Auseinandersetzung mit der neuen westlichen, bloß individualistischen, voluntaristischen Ethik Ben-thams, Mills und Spencers auf ein von einem individuellen Willen unabhängiges allgemeines Sittengesetz hingeführt, das in Teilen von der Philosophie Immanuel Kants her begründet ist, damit Freiheit und Humanität voraussetzt und seine Begründung in der Natur des Menschen hat. Es scheint, daß sich beispielsweise die Rede Swidrigailows über das 'natürliche Laster1 (er rechnet es sich gegenüber Raskolnikow zum moralischen Vorzug an, daß seine Unmoral nicht aus einer Theorie abgeleitet sei, sondern aus seiner 'Natur' rühre) erst in der vielgestaltigen Auseinandersetzung Dostojewskijs mit Kant und Schiller erschließt. Eine polemische Anwendung Rousseaus gegen Raskolnikow erscheint allenfalls r. dürfte aber Dostojewskijs Bild von Rousseau strapazieren.

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Doch scheint die kantianische Vorstellung, das 'natürliche Laster vernichtet sich selbst", in die Begründung des Selbstmords Swidrigailows eingegangen zu sein. Hier dürfte noch weitere philologische Kärrnerarbeit zur Untersuchung des Niederschlags der kantianischen Begriffe 'Intelligenz', 'intelligibles Wesen', 'Humanität1 - "wer Humanität hat, leidet, wenn er sich eines Fehltritts bewußt wird", sagt Raskolnikow im Gespräch mit Porfirij - zu leisten sein. Daß Kant in "SüS" aber und im Freiheitsbegriff allgemein seinen Niederschlag gefunden hat, scheint inzwischen außer Frage zu stehen. (20) Er wird sich bis zum Entwurf der Gestalt des Dmitrij Karamasow, der von sich sagt: "Haltlos war ich, doch liebte ich das Gute", weiter verstärken.

Der Schluß scheint historisch-russische und individuelle Aspekte einer idealistischen Weltsicht, die z.T. auf Schelling zurückführen (dessen "Philosophie der Mythologie und Offenbarung"), mit diffusen, besonders dem slawophilen Gedankengebäude nahen Konzepten einer eigenen Lehre (z.B. der Versöhnung mit dem 'Boden') zu einem Spektrum zu verquicken, dessen weitere Ausformung die konzeptionelle Gemeinsamkeit der Romane Dostojewskijs ausmacht. Die Konzeption der Lösung für Raskolnikow schließt insbesondere an christliche und allgemeine Ethik an. Sie scheint dabei aber auch wesentlich literarisch bestimmt zu sein: eine gewisse Anleitung zumindest durch Charles Nodier, dessen Held durch das Motiv des Neuen Jerusalem wie Raskolnikow in Widersprüche verwickelt wird, ist offenkundig.

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Die beschriebene Entwicklung zeigt in verschiedenen Aspekten den Gang zum gegenwartsbezogenen, ideologisch bestimmten Roman. Das Tertium comparationis, der einigende Zug, in dem sich kämpferische Humanität und ideologischer Traktat verbinden, ist der des polemischen Schriftstellers. Die Konzeption der antinomischen Reihen und die Aneignung des dialektischen Verfahrens verweisen darauf. Das Bild fügt sich in den Zusammenhang des verbreiteten Antinihilismus der 60er Jahre: Achscha-rumow ("Mudrenoje delo"), Leskow ("Nekuda"), Askotschenskij ("Asmodej naschewo wremeni") lassen einen ehemaligen Radikalen, einen Sozialrevolutionär und einen Nihilisten scheitern.

Das Konzept des polemischen und gegenwartsbezogenen Schriftstellers -als Polemiker par excellence sah ihn Akim Wolynskij, der sein Buch über Dostojewskijs "Dämonen" 1904 "Das Buch vom großen Zorn" betitelte -wird dabei noch manches für das Verständnis Dostojewskijs Wichtige erschließen können. Die Erwähnung der Diskussion um das Verhältnis von Naturrecht zu Gesetzgebung, die "jetzt in Rußland gerade beginnt", führt dabei deutlicher auf die kantianischen Aspekte des Schlusses, eine Moralphilosophie, die auf den Imperativ eines existenten Sittengesetzes zurückgreift. Damit verbunden ist der Hinweis auf die russische Justizreform der 60er Jahre, die in Dostojewskijs "Wremja" breiten Niederschlag fand, so durch W. Popows bekannte Untersuchung "Prestuplenija i nakasanija . Eskisy is istorii ugolownowo prawa", die eventuell dem Roman Dosto-

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jewskijs den Titel gab. (21) Ein anderes Beispiel: die Perfektibilitätsvor-stellungen der utopischen Sozialisten haben auf vielfältige Weise Eingang in den Roman gefunden, einige haben sich dabei als rudimentäre Relikte aus den Entwurfsstadien des Romans erhalten. So erscheint die Szene in 1,6, in der Raskolnikow beim Spaziergang über die Folgen einer Verlängerung Petersburger Parkanlagen und ihrer Ausstattung mit Fontänen und Wasserspielen räsoniert, gerade auf dem Hintergrund der entsprechenden Darstellung des Neuen Rußland Tschernyschewskijs nicht mehr disparat. Aus dem utopiekritischen Charakter wird auch Dostojewskijs Wirkung bei Autoren des 20. Jahrhunderts wie Gor und den Strugazkijs erklärlich; von Majakowski) ist sie ja bekannt. Hier wird man in Zukunft weiter suchen müssen: nach den Quellen in Feuerbachs 'gesundem Egoismus' beispielsweise, bei den utopischen Sozialisten, bei Darwin und Kant. Das Werk erweist sich dabei als komplexes Gefüge von z.T. noch nicht voll erkannten Allusionen auf die Zeit der Reformpolitik und einzelne Erscheinungen des öffentlichen Lebens in Rußland.

Anmerkungen

  1. Vgl. in dem Zusammenhang u.a. A. Bern, Chudozhestvennaja polemika s Tolstym, in: U istokov tvorchestva Dostoevskogo. Prag 1936, S. 192-214; D. Gerhardt, Gogol' und Dostoevskij in ihrem künstlerischen Verhältnis. Leipzig 1941, Nachdruck München 1970; A. Wolynski (Volynskij), Das Buch vom großen Zorn. Frankfurt 1905; A. Rammel meyer zur Frage des 'russischen Candide' in Dostoevskij und Voltaire, in: ZslPh XXVI, 1958, S. 252-278; P. Hodgson, From Gogol to Dostoevsky. München 1976; zur Frage der literarischen Beziehungen des Helden zuletzt R. Neuhäuser, Das FrühwerkdDostoevskijs. Literarische Tradition und gesellschaftlicher Anspruch. Heidelberg 1979, passim.
  2. F.M. Dostoevskij, PSS Bd. VII, L. 1973, S. 323. Alle weiteren Dostoevskij-Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe.
  3. Brief an A.V. Korvin-Krukovskaja.
  4. PSS VII, S. 308,
  5. Der Fall Lassenaire war auch in "Vremja" 1861, Nr. 2, S. 1-56 behandelt. Vgl. zur Entwicklungsgeschichte auch I.Z. Serman, Ot povesti k romanu. (Iz tvorcheskoj istorii "Prestuplenija i nakazanija" F.M. Dostoevskogo), in: Voprosy izuchenija russkoj literatury XI-XX vekov. ML 1958, S. 196-201.
  6. PSS Bd VII, S. 310, 408.
  7. PSS Bd VII, S. 408. S. auch M.S. Al'tman, Imena i prototipy literaturnych geroev Dostoevskogo, in: Uchenye zapiski Tul'skogo ped. instituta 1958, Vyp. 8, S. 139-141.
  8. PSS Bd VII, S. 323.
  9. PSS Bd VII, S. 204.
  10. PSS Bd VII, S. 209.
  11. Zu Voltaire s. den unter (1) zitierten Aufsatz von A. Rammelmeyer.
  12. PSS Bd VII, S. 144,134.
  13. 81

  14. Zur Interpretation des antinomischen Prinzips s. K. Mochul'skij, Dostoevskij. Zhizn' i tvorchestvo. Paris 1947, S. 238 f., 250; R. Peace, Dostoevsky. An Examination of the Major Novels. Cambridge/Mass. 1971, S. 34 ff.; R. Neuhäuser, Fjodor Dostojewskij. Schuld und Sühne, in: Der russische Roman, hrsg. von B. Zelinsky. Düsseldorf 1979, S. 161-187.
  15. Zametki letopisca. Novye ljudi, in: Epocha 1865, Nr. l, S. 5.
  16. V.Botkin, Geroicheskoe znachenie poeta. (Iz T. Karlejlja), in: Sovremennik 1856, Bd 55, Nr. l, otd. II, S. 33-54.
  17. Zitiert nach Neuhäuser, Schuld und Sühne, S. 162.
  18. So dargestellt bei Neuhäuser, Schuld und Sühne, S. 172.
  19. So S.L. Frank, Fr. Nicshe i etika 'ljubvi k dal'nemu', in: Problemy idealizma. Sbornik statej. Red. P.I. Novgorodcev. Moskau 1903, S. 137-195.
  20. K. Onasch, Dostojewski als Verführer. Zürich 1961.
  21. S.Ja. Golosovker, Dostoevskij i Kant. Moskau 1963; zuletzt im Zusammenhang des 'intelligiblen Wesens' H.-J. Gerigk, Schuld und Freiheit: Dostoevskij, Dreiser und Richard Wright, in: Dostoevsky Studies 1980, Bd l, S. 123-139.
  22. V. Popov, Prestuplenija i nakazanija. Eskizy iz istorii ugolovnogo prava, in: Vremja 1863, Nr. 3, S. 17-53.
University of Toronto