Dostoevsky Studies     Volume 4, 1983
 

René Wellek - das Gewissen der Literaturwissenschaft Ein Grusswort zu seinem 80. Geburtstag

Horst-Jürgen Gerigk, Universität Heidelberg

Wenn René Wellek am 22. August 1983 auf einem Schloß in der Normandie (Cerisy-la-Salle) inmitten einer internationalen Kollegenschaft seinen achtzigsten Geburtstag feiern konnte, mit Perlhuhn, Vin rose d'Anjou und dem Trinklied aus "La Traviata", gesungen vom Schloßpersonal, so mag dies Grund genug sein, die bisherigen Stationen seines Lebens und Schaffens in Erinnerung zu bringen.

1903 in Wien geboren, verbringt René Wellek seine Schulzeit in Wien und Prag und studiert schließlich an der tschechischen Universität in Prag hauptsächlich Germanistik und Anglistik. (1) Auffällig ist die von Anfang an erkennbare Neigung, verschiedene National-Literaturen in ihrer Entwicklung zu vergleichen. Als zwanzigjähriger Student besucht er Heidelberg, hört dort Friedrich Gundolf, dessen unausgesprochene Forderung nach restloser geistiger Unterwerfung jedoch nicht seine Zustimmung findet.

Und so wird René Wellek im Juni 1926 an der Universität Prag zum Dr.phil. promoviert mit einer Dissertation Über "Carlyle and Romanticism". (2) Doktorvater ist der Anglist Vilem Mathesius, der uns insbesondere als der Gründer und Vorsitzende des berühmten Prager Linguistischen Zirkels bekannt ist. Bei Mathesius reicht René Wellek auch 1930 seine Habilitationsschrift über "Immanuel Kant in England" ein, die bereits 1931 in Princeton von der Princeton University Press veröffentlicht wird. Schon von 1927 bis 1930 hält er sich als Stipendiat und Dozent in den USA auf, wo er Paul Elmer More in Princeton kennenlernt und Irving Babbitt in Harvard hört.

1930 wieder in Prag und jetzt für englische Literatur habilitiert schließt sich René Wellek sofort dem ein Jahr zuvor von Mathesius begründeten Prager Linguistischen Zirkel an und lernt Roman Jakobson und Jan Mukarovsky persönlich kennen. Ihren Theorien, die stark vom Russischen Formalismus geprägt werden, steht er jedoch reserviert und polemisch gegenüber, da sie das Interesse an philosophischen Implikationen vermissen lassen. Dieses

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Interesse begrüßt er, wenn auch wiederum mit Vorbehalten, in Roman Ingarden, dessen persönliche Bekanntschaft er 1934 in Prag macht.

Im Jahre 1935 geht René Wellek nach England, wo er an der Universität London eine Dozentur für tschechische Sprache und Literatur wahrnimmt. In Cambridge stößt er im Sommer 1936 auf F.R.Leavis, dessen anti-akademisches Auftreten seine tiefe Sympathie findet. Auf sachlichem Gebiet kommt es zu einer harten und schließlich polemischen Auseinandersetzung, als F.R.Leavis mit dem Vorwurf konfrontiert wird, er habe in seinem, damals soeben erschienenen Buch Revaluation Blake, Wordsworth und Shelley völlig mißverstanden. (3)

Als Prag am 15. März 1939 von Hitler besetzt wird, entschließt sich René Wellek, in die USA auszuwandern und nimmt noch im selben Jahr ein Angebot des English Department der University of Iowa an. Hier kommt es zu jener inzwischen historischen Begegnung mit Austin Warren, mit dem zusammen er in den Jahren 1945 bis 1947 das Buch Theory of Literature ausarbeitet, das im Januar 1949 in New York erscheint. (4) Man darf dieses Buch ohne übertreibung als das einflußreichste literaturwissenschaftliche Werk unseres Jahrhunderts bezeichnen. Es wurde bislang in zweiundzwanzig verschiedene Sprachen Übersetzt, unter anderem auch ins Japanische (1954), ins Koreanische (1959), ins Rumänische (1967), ins Finnische (1969), ins Arabische (1976), ins Chinesische (1976), ja, unlängst sogar ins Russische (1978).

1946 wird René Wellek als Professor of Slavic and Comparative Literature an die Yale University berufen. Er baut dort, seit 1952 als Sterling Professor of Comparative Literature, zunächst allein, das Department of Comparative Literature auf, das allerdings erst 1960 institutionalisiert wird. An der Yale University ist René Wellek bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1972 tätig.

Zwölf Universitäten haben ihm die Ehrendoktorwürde verliehen, darunter Oxford, Harvard, Rom, Leuven, München und Columbia; seine internationale Reputation wird des weiteren bezeugt durch die Mitgliedschaft in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Königlichen Niederländischen Akademie, der Accademia Nazionale dei Lincei in Rom, der British Academy, der Connecticut Academy, der Philosophical Society of America und in anderen wissenschaftlichen Institutionen,

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Sein zweites Hauptwerk neben der Theory of Literature ist der Geschichte der Literaturkritik von 1750 bis 1950 gewidmet. Der erste Band dieser History of Modern Criticism erschien 1955 in New Haven und London bei der Yale University Press. Bislang liegen vier Bände vor. Insgesamt sind sechs Bände geplant. Der fünfte Band, der kurz vor der Publikation steht, wird die englische und amerikanische Literaturkritik unseres Jahrhunderts behandelns W.B.Yeats, A.C.Bradley, Walter Raleigh, Clive Bell, Virginia Woolf, John Middleton Murry, F.R.Leavis und Ezra Pound, T.S.Eliot, Edmund Wilson, Cleanth Brooks, Xenneth Burke .., Dieser Band wird mit. größter Spannung erwartet. Der sechste und letzte Band befindet sich in Arbeit und wird dem europäischen Kontinent gewidmet sein: Mario Praz, Cesare Pavese, Albert Thibaudet, Jean-Paul Sartre, Friedrich Gundolf, Max Kommereil, Ortega y Gasset ... Aus dem Umkreis dieses letzten Bandes erschien unlängst bereits das Buch Four Critics: Croce, Valéry, Lukács, Ingarden (Seattle und London, 1981).

Neben der Theory of Literature und der History of Modern Criticism veröffentlichte René Wellek verschiedene Aufsatzsammlungen, von denen Concepts of Criticism (1963), Discriminations (1970) und The Attack on Literature (1982) eine ganz besondere Hervorhebung verdienen, weil sie zentrale Fragen der iiteraturwissenschaftlichen Diskussion in der jeweils unmittelbaren Gegenwart behandeln.

Eine kleine, aber repräsentative Auswahl der zahlreichen Schriften René Welleks zur tschechischen Literatur erschien 1963 in Den Haags Essays on Czech Literature.

Speziell zur russischen Literatur ist, neben einem Vorwort René Welleks zu einer amerikanischen Ausgabe der Toten Seelen (New York, 1948), insbesondere seine inzwischen klassische Anthologie Dostoevsky: A Collection of Critical Essays (Englewood Cliffs, 1962) zu nennen, in deren vielbeachteter Einleitung die verschiedenen Richtungen der europäischen und amerikanischen Dostojewskij-Forschung kritisch gesichtet werden. (5) Des weiteren sei verwiesen auf die kürzeren Arbeiten "Russian Formalism" (1971), (6) "Bakhtin's View of Dostoevsky" (198O), (7) "Ivanovs Schriften über Dostoevsky" (1983), (8) sowie auf die neueste umfangreiche Abhandlung "The Nineteenth-Century Russian Novel in English and American Criticism (1983). (9) In diesen Zusammenhang gehören natürlich auch die insgesamt zehn Kapitel über die Entwicklung der russischen Literaturkritik im dritten und

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vierten Band der History of Modern Criticism, in denen Puschkin, Belinskij, Tschernyschewskij, Dobroljubow, Pisarew, Apollon Grigorjew, Dostojewskij, Strachow, Potebnja und Veselovskij, sowie Lew Tolstoj behandelt werden. (10)

In den vielen Jahrzehnten seiner wissenschaftlichen Tätigkeit hat René Wellek die verschiedensten Schulen in persönlichem Kontakt mit ihren Vertretern kennengelernt: den symbolistischen Ansatz in Friedrich Gundolf, den amerikanischen New Humanism in Irving Babbit und Paul Elmer More, die Prager Schule mit Vilem Mathesius, Roman Jakobson, Jan Mukarovsky, die Gruppe um F.R.Leavis in Cambridge und den amerikanischen New Criticism mit Cleanth Brooks, Allen Tate, Robert Penn Warren, W.K. Wimsatt.

Jedoch hat er sich keiner dieser Schulen angeschlossen und in stets militanter Skepsis seine ihm eigene Integrität bewahrt. Wir dürfen sagen? René Wellek ist zum lebendigen Gewissen der Literaturwissenschaft unseres Jahrhunderts geworden, unbestechlich warnend, tadelnd oder verurteilend, aber auch bestätigend und fördernd. Sein einziges Ziel ist es, jene Antennen in uns intakt zu halten, die untrüglich reagieren, sobald das literarische Kunstwerk in Gefahr gerät, sachfremd vereinnahmt zu werden. Was aber in einem solchen Zusammenhang "sachfremd" heißt, das hat René Wellek immer wieder unermüdlich dargelegt: getragen von der an Kant orientierten Einsicht, daß die ästhetische Erfahrung eine Erfahrung eigener Art ist, die das Reich der Kunst vom Leben als dem Reich der Zwecke trennt. (11)

Alle Schriften René Welleks präsentieren uns eine unendliche Fülle von Einzelkenntnissen, stehen dabei jedoch immer im Licht einer einsichtigen und gleichzeitig suggestiven Zuspitzung, so daß das Schwere plötzlich leicht erscheint. All seine Darlegungen haben die Eigenheit, uns sofort mit der Vertrautheit des Vernünftigen anzusprechen. Wer eine beliebige Schrift René Welleks zur Hand nimmt, wird immer sofort das Gefühl haben, ein helles Zimmer zu betreten.

Die Glückwünsche, die René Wellek zu seinem 80. Geburtstag erreichen, gelten in gleicher Weise dem großen Gelehrten und dem großen Menschen. Denn kennzeichnend für sein Wesen ist eine ganz spezielle Heiterkeit, die auch in seinen Schriften immer wieder plötzlich hervorbricht und jede persönliche Begegnung mit ihm zu einer unvergeßlichen Bereicherung werden läßt. Auf die Frage, wie

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er sich nach seiner Emeritierung fühle, gab er zur Antwort: "Ich vermisse die Semesterferien."

ANMERKUNGEN

     
  1. Es sei hier nicht versäumt, René Welleks Bruder, Albert Wellek (1904-1972), zu erwähnen, der, Professor der Psychologie in Breslau (seit 1943) und Mainz (seit 1946), sich auch zu literarästhetischen Fragen geäußert hat, insbesondere in seiner Aufsatzsammlung Witz, Lyrik, Sprache (Bern und München: Francke, 1970), die René Wellek gewidmet ist. Zu Albert Wellek vgl. die Eintragung im Wörterbuch der Psychologie, ed. Hehlmann (Stuttgarts Kröner, 1974), S. 597.
  2.  
  3. Leicht überarbeitet unter dem Titel "Carlyle and German Romanticism"„ in: Wellek, Confrontations. Studies in the Intellectual and Literary Relations Between Germany, England, and the United States During the Nineteenth Century, Princeton: Princeton University Press, 1965, S. 34-81.
  4.  
  5. Zu dieser Auseinandersetzung vgl. Welleks eigene Darstellung in "Prospect and Retrospect" in: Wellek, The Attack on Literature, and Other Essays, Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 1982, S. 154.
  6.  
  7. René Wellek and Austin Warren: Theory of Literature, New York: Harcourt, Brace and Company, 1949. Später (seit 1956) stets ohne das letzte Kapitels "The Study of Literature in the Graduate School".
  8.  
  9. Diese Einleitung wurde unter dem Titel "A Sketch of the History of Dostoevsky Criticism" in Welleks Aufsatzsammlungs Discriminations, Further Concepts of Criticism, New Haven und London: Yale University Press, 1970, übernommen.
  10.  
  11. Jetzt in: Wellek, The Attack on Literature, S. 119-134.
  12.  
  13. In: Dostoevsky Studies, I (1980), S. 31-40.
  14.  
  15. In: H. Rothe (ed.), Dostojevskij und die Literatur. Kölns Böhlau, 1983, S. 264-274.
  16.  
  17. In: J. Garrard (ed.) The Russian Novel from Pushkin to Pasternak, New Haven und London: Yale University Press, 1983, S. 241-273.
  18.  
  19. Vgl. A History of Modern Criticism, Bd. 3, The Age of Transition, New Haven und London, 1965, S. 240-264; Bd. 4, The Later Nineteenth Century, New Haven und London, 1965, S. 238-291.
  20.  
  21. Über Leben und Werk informiert ausführlich Martin Bucco: René Wellek, Boston: Twayne Publishers, 1981,

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    Seiten. Eine fortlaufende Bibliographie der Schriften René Welleks liefern die Anhänge seiner Aufsatzsammlungen: Concepts of Criticism (New Haven und London, 1963), S. 365-37; Discriminations (New Haven und London, 1970), S. 363-368; The Attack on Literature (Chapel Hill, 1982), S. 171-180. Arbeiten über Wellek verzeichnet Martin Bucco, op. cit., S. 172-173. Zu ergänzen sind: Lothar Fietz, "René Welleks Literaturtheorie und der Prager Strukturalismus", in: R. Ahrens und B. Wolff (eds.), Englische und amerikanische Literaturtheorie, 2 Bde., Heidelberg: Carl Winter, 1978, Bd. 2, S. 500-523; sowie: Peter Demetz, "Lehrmeister der Kritik. Der Literaturwissenschaftler René Wellek wird achtzig", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. August 1983.

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