Dostojevskij in der Tradition der russischen "Laientheologen"
Konrad Onasch, Halle
Wenn man, wie Ludolf Müller, Dostoevskij unter die
"Laientheologen" des 19. Jahrhunderts zählt, dann wird
man nicht Übersehen dürfen, daß es "Laientheologen"
nicht nur im 19. Jahrhundert gegeben hat. (1) Wir haben
es vielmehr mit einer Erscheinung zu tun, die über eine
lange Tradition und Geschichte zurückblicken konnte. Sie
in gebotener Kürze aufzuzeigen, wird den Aussagen Dostoevskij's über Christentum und Kirche ein nicht unerhebliches historisches Gewicht geben.
Die orthodoxe Kirche besteht als Sozietat aus zwei Ständen: dem geweihten
Klerikat und dem nichtgeweihten Laikat. Beide zusammen bilden eine Einheit, die
Kirche. (2) Ihr Verhältnis zu einander ist aber alles andere denn eine sozietäre
Idylle gewesen. Vielmehr zeichnet es sich bereits im Mittelalter durch eine
bestimmte Dichotomie des kulturellen Bewußtseins aus. Das Konkurrenzverhältnis
zwischen beiden Ständen wird besonders deutlich im Kampf der Laien um das in den
Händen des Klerus liegenden Bildungsmonopol, wie es für den Westen Otto Brunner,
Joachim Matthes u. a. nachgewiesen haben. (3) Aus Zeitgründen können wir hier
nicht auf die Situation in Byzanz eingehen. Immerhin sei daran erinnert, daß
einer der bedeutendsten Hagiographen, Symeon Metaphrastes, ein hoher Beamter und
hochgebildeter Laie gewesen ist, der sich in seinen Mußestunden auch mit
Theologie beschäftigte. Auch unter den byzantinischen Kaisern, deren laikaler
Einfluß auf die Kirche bekannt ist, gab es eine große Zahl, die sich, mehr oder
weniger ambitiös, der Gottesgelahrtheit widmeten. Wenden wir uns Rußland zu, so
artikulierte sich in den Novogoroder Strigolniki (4) eine deutliche
Laienopposition gegen den Anspruch der Kirche auf den alleinigen Anspruch der
Bibelinterpretation, von anderen Punkten der Kritik und offenbaren häretischen
Charakterzügen dieser Bewegung abgesehen. Auf einer sozial und kulturell höheren
Stufe befanden sich die Vertreter einer weithin laikalen Bildungsrenaissance,
die von der Großkirche als "Judaisierende"(5) diskreditiert wurden. Ihr Protest
richtete sich, um eine Formulierung Otto Brunners zu gebrauchen, gegen
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den "Monopolanspruch der institutionalisierten Klerikerkultur". Auch theologisch gebildete Männer, wie Fjodor
Kurizyn und Iwan Wolk Kurizyn, beide als Ketzer 15O4
verbrannt, beschäftigten sich mit der patristischen
und kanonistischen Literatur der alten Kirche und entwarfen aus diesen Quellen das Idealbild einer Art von
"Geistkirche", in der die intellektuelle Beschäftigung
mit dem Bibeltext einen höheren Stellenwert besaß, als
die Kultusemotion und die Hierarchie der Kirche. Für
die eingangs erwähnte Bildungskonkurrenz zwischen Laikat und Klerikat ist es charakteristisch, daß die Bemühungen der "Judaisierenden" um einen authentischen
Bibeltext schließlich die Herausgabe der sogenannten
"Gennadij"-Bibel veranlaßt haben, die erste Vollbibel
Rußlands, die neben die Kultuslektionarien trat. (6)
Damit war die erste, wenn auch noch unzureichende und
später durch die Ostrog- und Elisabethbibel vervollständigte Voraussetzung für das persönliche Bibelstudium
geschaffen, das für Dostoevskij große Bedeutung besaß.
In der "Provokation" der Großkirche durch die Bibel
der "Judaisierenden" spitzte sich im übrigen die Frage
zu, wieweit die erstere sich uneingeschränkt mit der
Bibel identifizierte, - eine typisch laikale Frage, auf
die wir noch einmal zu sprechen kommen werden. In den
Kreisen der "Judaisierenden" beschäftigte man sich auch
intensiv mit dem Problem der Willensfreiheit, der "duschá
ssamowlastnaja", ebenso mit der Frage, ob die physische
Vernichtung von Ketzern nach der Bibel zulässig sein, -
beides Themen, die Dostoevskij stark beschäftigt haben.
Ob der Dichter von den "Judaisierenden" gewußt hat, muß
offen bleiben. Immerhin erschienen in derselben Zeit wie
die Quellenpublikationen und Arbeiten über die altrussische apokryphe Literatur, die Dostoevskij gekannt und
verarbeitet hat, auch die ersten Untersuchungen über
diese Gruppe laikaler Nonkonformisten (N. S. Kostomarow,
1863; A. S. Pawlow in Prawoslawnyj Sobessednik 1863/
einige Jahrgänge befanden sich in der Bibliothek Dostoevskij's, leider wissen wir nicht, welche/; A. S. Nikititskij, 1973; I. Panow, 1877). (7) Im Laufe des 16.
Jahrhunderts tritt das Laienelement immer deutlicher
hervor. In der Zeit Wasilij's III. gehört z. B. Fjodor
Karpow (8), ein Diplomat mit Kenntnissen Ovids, Ciceros,
Aristoteles und möglicherweise auch des Thomas von
Aquin. In der Epoche Iwan Grosnyj's erhält der "zweite
Stand" der kirchlichen Sozietät eine Reihe bedeutender
Vertreter. Da ist der Zar selbst, der sich wie seine
Vorbilder, die byzantinischen Kaiser, mehr oder weniger
ambitiös mit Theologie beschäftigt und, wie jene, die
Kirche zu beherrschen sucht. Theologie, Hagiographie
und Kanonistik waren auch Wissensgebiete, in denen sich
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der Gegner Iwans auskannte, der nach Polen emigrierte
Fürst Kurbskij. Der Verwalter der litauischen Güter
Kurbskij's ist Fjodor Iwanowitsch Dostojewskij gewesen,
einer der Ahnen des Dichters. (9) Die Epoche Iwan Grosnyj's
hat überhaupt eine Reihe interessanter Laienpersönlichkeiten hervorgebracht mit mehr oder weniger ausgeprägtem
Nonkonformismus, wie Matfej Baschkin, den Djak Wiskowatij
oder schließlich Feodossij Kossoj, der noch im Mönchsgewand ein laikaler und radikaler Nonkonformist geblieben
ist. (10) In der Ukraine, Wohlhynien und Podolien, wo der
orthodoxe Zweig der Dostoevskij's wohnte, hatte sich
eine bemerkenswerte Laienorganisation entwickelt, die
"Bratstwa". (11) Sie nahmen nicht nur Einfluß auf die
Besetzung der Pfarrstellen und Bischofssitze, sondern
konnten auch auf bedeutende Kulturleistungen verweisen.
Ich nenne nur stichwortartig: die Förderung des Buchdrucks, nachdem Iwan Fjodorow dem Widerstand der Kirche
in Moskau weichen mußte (Stichwort: Ostrog-Bibel); die
Einführung der Liniennotation anstelle der alten Neumen
und die Einführung der Mehrstimmigkeit, des "partesnoe
penie"; die wissenschaftlich-kritische Beschäftigung
mit dem Verhältnis von Liedtext und Melodie (Stichwort:
Chomonija), u. a. m. Im Zusammenhang mit der Ukraine muß
noch eine Laienpersönlichkeit erwähnt werden, die für
die Beurteilung der Religionsphilosophen des 19. Jahrhunderts von Wichtigkeit ist: Grigorij Skoworoda (gest.
1794). (12) Mit der Auflösung der kirchlichen Christologie
in eine Christusmetaphorik und Christusästhetik, mit
seiner Vision vom in Christus erschienenen schönen Menschen und mit seiner inneren kritischen Distanzierung
von der Kirche als Institution unter Beibehaltung des
persönlichen Glaubens nahm Skoworoda Gedanken und Haltungen vorweg, die wir, weiter entwickelt, im 19. Jahrhundert und, nicht zuletzt, auch bei Dostoevskij wiederfinden. Ob dieser den Ukrainer gekannt hat, ist freilich
eine offene Frage. - Mit Peter I. begann der Prozeß zunehmender Einflußnahme des laikalen Elementes auf die
Leitung der Kirche in Gestalt des Oberprokurors des
Heiligsten Regierenden Sinods. Dabei blieben die Reservate des geweihten Klerikats erhalten, zu denen auch
die Lehrvollmacht gehört. Der gleichzeitige Verlust des
Bildungsmonopols veranlaßte die Kirche, sich auf die
Erhaltung interner Werte des Kultus, der an der Tradition orientierten Lehre und der Frömmigkeit zurückzuziehen. In dieser geschwächten Position wurde sie in gefährlicher Weise durch eine sich schnell ausbreitende
laikale Bewegung bedroht, das massonstwo. Wie Walentina
Wetlowskaja(13) gezeigt hat, gab Dostoevskij Iwan Karamsow die Züge eines Großmeisters dieser Geheimgesellschaft. Damit hat der Dichter selbst seine Einstellung
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zum massonstwo eindeutig klar gestellt. Unter diesem
Vorbehalt sind trotzdem einige Vergleiche und Gegenüberstellungen interessant. Typisch für das Laienverständnis kirchlichtraditioneller Vorstellungen ist der
Begriffswandel von "prosweschtschenie" als Synonym für
"Taufe" zu "Aufklärung", "Bildung". (14) Dostoevskij
notiert sich in seinen tetrjady von 1876-77: "Eine
große Tat der Liebe und echter Aufklärung. Das ist meine Utopie"(Welikoje delo ljubwi i nastojaschtschewo
prosweschtschenija, Wot moja utopija). (15) Vor einiger
Zeit hat Erich Bryner in einer sehr differenzierten
Untersuchung auf die komplizierten Zwischenbeziehungen
zwischen Karamsin und dem massonstwo hingewiesen. Danach
haben in Karamsins Geschichte des russischen Reiches,
die zur unvergeßlichen Jugendlektüre Fjodor Michailowitsch's und seiner Geschwister gehörte, weder die Person Christi noch die Fundamentaldogmen der orthodoxen
Kirche einen Platz gefunden. Statt dessen spielt der
"tschelowekoljubivyj duch Christianstwa"(17) die tragende Rolle seiner historischen Darstellung, durchaus
im Sinne des "prosweschtschenije". Während Dostoevskij
in diesem Punkt dem großen Historiographien gefolgt ist,
steht die Person Christi ohne Zweifel im Mittelpunkt
seiner religionsphilosophischen Überlegungen, im Gegensatz zu Karamsin. Übrigens hält Karamsin die physische
Vernichtung der Judaisierenden für nicht vereinbar mit
dem "tschelowekoljubiwyj duch Christianstwa" und will
sie nur im äußersten Falle angewendet wissen. Dostoevskij war in dieser Frage konsequenter und lehnte Ketzerverbrennungen prinzipiell ab. Mit einem der bedeutendsten und gebildetsten Freimaurer, Nikolaj Iwanowitsch
Nowikow, befinden wir uns ebenfalls im unmittelbaren
Bereich der Biographie Dostoevskij's. G. A. Fjodorow
hat auf persönliche Kontakte zwischen Nowikow und dem
Urgroßvater Dostoevskij's mütterlicherseits, Michail
Fjodorowitsch Kotelnizkij, hingewiesen. (18) Dieser war
ein hochgebildeter Mann und konnte als Korrektor an
der Moskauer Geistlichen Druckerei Nowikow Handschriften
und Drucke für dessen Drewnaja Rossijskaja Wifliofika
vermitteln, in der sich auch patristische u. a. geistliche Literatur befand. G. A. Fjodorow(19) und Wera
Netschajewa(2O) haben für die Zeit des Besuches der
Moskauer Pension Tschermak durch die Brüder Dostoevskie
von 1834-37 eine Persönlichkeit namhaft gemacht, den
Lehrer Bilewitsch, der ein begeisterter Anhänger Nowikows
und seiner Aufklärungsideen war und diese seinen Schülern
vermittelte. Die Nachwirkungen lassen sich, nach Wera
Netschajewa, bis in die Notizen zum Roman Der Jüngling
(und im Roman selbst) und zum Leben eines großen Sünders
nachweisen, ohne daß der Name Bilewitsch auftaucht.
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Die hier nur skizzierte Tradition einer bedeutenden Laienbildung innerhalb der Geschichte der russischen orthodoxen
Kirche fand ihren Abschluß durch die "Laientheologen" des
19. Jahrhunderts von Iwan Kirejewskij und Chomjakow bis
zu Wladimir Solovjov. Ihnen allen sind folgende Charakteristika gemeinsam: t. Ein deutliches Unbehagen an der.
philosophischen Unbeweglichkeit der offiziellen Schultheologie, deren Gründe wir kennengelernt haben, und
an der ängstlichen Aussparung offengebliebener Fragen
spekulativer aber auch sozialer Art. 2. Eine gewisse
innere Distanziertheit gegenüber der Kirche bei gleichzeitiger genauer Beobachtung ihrer Riten und Vorschriften.
3. Eine typisch laikale Unbekümmertheit gegenüber der
kirchlichen Lehrtradition bei gleichzeitigem, z. T. (wie
bei Kirejewskij) intensivem Studium der Patristik auf
der Grundlage eines ausgeprägten Bildungsselbstbewußtseins. Alle diese Züge mußten, wie Reinhard Slenszka einmal schrieb, "zu einem mehr oder minder offenen Konflikt
mit der offiziellen Kirche und ihrer Theologie führen". (21)
Aus Gründen der Zeitökonomie können wir, was die Zwischenbeziehungen zu Dostoevskij anbetrifft, hier nur einige
Beispiele bringen. So schuf Kirejewskij (22) aus seinem
Studium der Patristik die Vorstellung von der Ganzheit,
der zelnost, von Vernunft (um) und An-schauung
(srenije)
im Erkenntnisvermögen des Menschen. Diese, in einem umfassenden Sinne zu begreifende Ästhetik Kirejewskij's
gehört ebenso zu den Voraussetzungen von Dostoevskij's
poetischen Anschauungen wie des ersteren Theorie vom
"inneren Bewußtsein", vom "dunklen Ahnen" der Grenzen
des Intellektes. Diese Theorie findet sich, poetisch gestaltet, bei Dostoevskij im Erlebnis "anderer Welten"
(Aljoscha Karamsow, Myschkin, der "mistitscheskij uschas"
im Wlas). Am deutlichsten aber wird der Durchbruch laikalen religiös-theologischen Denkens und einer jahrhundertealten Konkurrenzsituation zur kirchlichen Schultheologie bei einem Vergleich zwischen Dostoevskij und
Alexei Chomjakow. (23) Dabei muß ganz allgemein festgestellt werden, daß Dostoevskij weit weniger theologisch
reflektiert als Chomjakov. Dafür besitzt er aber eine
größere religiöse Unmittelbarkeit, das, was er selbst
ganz im Sinne der "zelnost" Kirejewskij's, das "tschuwstwo" nennt. Im Mittelpunkt des theologischen Denkens
Chomjakows findet sich ein typisch laikaler Begriff,
der "amour mutuel". Er erinnert nur auf den ersten
Blick an die Humanitätsreligion des massonstvo. Denn im
Unterschied etwa zu Karamsin offenbart sich der "amour
mutuel" im "Etre moral unique", d. h. in der Person Christi.
Aus beiden resultiert die Vorstellung Chomjakows von der
Kirche als freier Liebesgemeinschaft. Das hatte zur Folge,
daß für Chomjakow nicht die vertikal-autoritäre Struktur
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der Kirche, sondern die einer horizontal-partnerschaftlich-dialogischen von entscheidender Bedeutung gewesen
ist. (Erst von 1906 an wurde für diese ekklesiologischen
Vorstellungen Chomjakows der Begriff "sobornost" geprägt,
zunächst nicht ohne scharfe Kritik durch die offizielle
Schuldogmatik). Da ich an anderer Stelle, ohne auf Chomjakow einzugehen, auf Entsprechungen zwischen ihm und
Dostoevskij hingewiesen haben, darf ich hier Ihre Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt lenken. Die Ekklesiologie Chomjakows beinhaltet - und die innerkirchlichen
Diskussionen um die "sobornost" von 1906-1917 können
das nur bestätigen - eine von Natur aus laikale Frage
an die Kirche, die nach ihrer inneren Identität. Identifiziert sie sich mit einer durch Lehramt, Kirchenrecht
und vertikaler Hierarchie gekennzeichneten äußeren Autorität, oder mit der horizontalen und freien "communion
d'amour"? Dostoevskij hat dieser Frage, weit über Chomjakow und die Slawophilen hinaus, eine außergewöhnliche
Tiefendimension gegeben, indem er die Frage nach der
Identität der Kirche mit dem Erscheinen des "ssamoswanez"
verband. Anders als der Doppelgänger, den man als mechanische Dublette bezeichnen könnte, ist der "ssamoswanez",
wie erst jüngst Boris Uspenskij(25) gezeigt hat, eng mit
den religiösen Vorstellungen der russischen Kultur am
Ausgang des Mittelalters verbunden. Als "Lügenikone"
usurpiert der "ssamoswanez" das göttliche Urbild einer
Person, nimmt mit ihrem Namen auch ihr Wesen ein. Weit
über ihre reine Verdoppelung wird er mit ihr identisch
in einem ontologischen Sinne. Boris Uspenskij gebraucht
den, auch für die Poetik dieses Themas bei Dostoevskij
fruchtbaren Begriff der "mythologischen Identifikation"
(mifologitscheskoe otoschdestwlenije). Nachdem sich der
junge Dostoevskij bereits in seinen frühen Briefen mit
dem Problem der Identität seiner eigenen Persönlichkeit
beschäftigt hatte (26), wird das Thema des "ssamoswanez"
zum ersten Mal im Dwojnik dichterisch entfaltet. Zwar
trägt Goljadkin II noch die Züge einer mechanischen
Dublette, aber der Ausgang mit seinem Gerichtscharakter
macht religiöse Implikationen deutlich. Außerdem wird
Goljadkin II von Goljadkin I sowohl in der Erzählung wie
in den späteren Entwürfen ausdrücklich als Grischka
Otrepew angesprochen. (27) In der Wirtin von 1847 mit
ihren, wie Rudolf Neuhäuser s. Z. gezeigt hat (28), zahlreichen symbolischen Anspielungen, bedroht Murin, bereits
mit Zügen des späteren Großinquisitors ausgestattet, die
innere lichte Schönheit Katharinas als Symbolfigur des
"amour mutuel". Zum vollen Durchbruch des "ssamoswanez"-
Motivs kommt es in den "Teufeln" von 1872. Marija Timofejewna Lebjadkina, diese durch ihr Hinken und das
Jurodstwo verfremdete Symbolgestalt einer reinen Liebes-
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kirche, anathematisiert den, expressis verbis als
"ssamoswanez" und "Lügendimitrij" bezeichneten Stawrogin
und jagt ihn hinaus in die Nacht der Verdammnis. (29) Im
Traum eines lächerlichen Menschen von 1877 spielt Dostoevskij das Thema andeutungsweise durch, indem er seinen
Helden die Usurpation des Leidens Christi vollziehen
läßt. Im Leben eines großen Sünders entfaltet der Dichter die Frage der personalen Identität in voller Breite
und Tiefe, - einer Identität, die ständig von Innen her
bedroht wird. Dabei ist bezeichnend, daß der Held und
sein Schöpfer sich intensiv mit den Repräsentanten des
"ssamoswanstwo" innerhalb der Chlystowschtschina und
des Skoptschestwo beschäftigen. (30) In der für Dostoevskij charakteristischen Ideen- und Figurensukzession erscheint mit innerer Logik am Ende der erwähnten Prototypen schließlich in den
Brüdern Karamasow die Gestalt
des Großinquisitors. Dostoevskij übernimmt die Vorstellung Chomjakows vom Identitätsverlust des Christentums durch den Katholizismus. Aus dieser mehr oder weniger konstruiert-abstrakten Geschichtsphilosophie
schafft der Dichter im Hirn Iwan Karamasows, des. wie
wir sahen, "Großmeisters" des massonstvo, die Gestalt
des Großinquisitors, der, wie jener, die deutlichen Züge
eines "ssamoswanez" der Kirche trägt. Er tritt mit seiner,
in sich logischen, aber, wie Dostoevskij in den Notizen
der Jahre 188O-81 einmal schreibt, "unsittlichen Lehre"
der Gewalt und der Herrschaft über die Seelen dem schweigenden Christus gegenüber. (31) Mit dem Stifter einer
Kirche der "ssvobodnaja ljubow tscheloweka", wie sie der
Großinquisitor ironisch nennt, identifiziert sich der
Dichter, - auch auf die Gefahr hin, mit ihm der Kirche
des Großinquisitors gegenüber im Irrtum zu bleiben. (32)
Über den Charakter eines zeitgenössischen antikatholischen Pamphlets hinaus, als Kunstwerk, besitzt das Poem
einen überzeitlichen, paradigmatischen Sinninhalt. Dieser
schließt, überaus aktuell, die Frage an jede Kirche vertikaler Institutionalität nach ihrer wahren Identität ein.
Dostoevskij sah die neue Kirche visionär in der um Aljoscha
Karamasow sich sammelnden Gemeinschaft junger Menschen. (33)
Nicht mehr Petrus mitsamt der auf ihm sich gründenden
apostolischen Sukzession (Matth. 16, 18), sondern Aljoscha
ist der Fels, der "kamen", auf dem sich die neue Liebeskirche gründen wird. (34) Er sollte auch, jedenfalls nach
dem gewiß nicht überzubewertenden mündlichen Entwurf vom
2O. Februar 1880, ihr erster Märtyrer werden. -
Unser Überblick hat gezeigt, daß Dostoevskij's Vorstellungen über Christus und Kirche im Kontext einer bedeutsamen Traditionsgeschichte der russischen Laientheologie
gelesen werden sollten. Das in seinem Werk vorhandene
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Spannungsverhältnis zwischen dieser Laientheologie einer
Intelligenzija, soweit sie religiös orientiert gewesen
ist, und der offizielle Schultheologie sollte wenige
Jahrzehnte nach seinem Tode in den Petersburger religiös-philosophischen Versammlungen von 1902-1903 in dramati-
scher Weise zum Durchbruch kommen. (35)
ANMERKUNGEN
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