Dostoevsky Studies     Volume 4, 1983

Dostojevskij in der Tradition der russischen "Laientheologen"

Konrad Onasch, Halle

Wenn man, wie Ludolf Müller, Dostoevskij unter die "Laientheologen" des 19. Jahrhunderts zählt, dann wird man nicht Übersehen dürfen, daß es "Laientheologen" nicht nur im 19. Jahrhundert gegeben hat. (1) Wir haben es vielmehr mit einer Erscheinung zu tun, die über eine lange Tradition und Geschichte zurückblicken konnte. Sie in gebotener Kürze aufzuzeigen, wird den Aussagen Dostoevskij's über Christentum und Kirche ein nicht unerhebliches historisches Gewicht geben.

Die orthodoxe Kirche besteht als Sozietat aus zwei Ständen: dem geweihten Klerikat und dem nichtgeweihten Laikat. Beide zusammen bilden eine Einheit, die Kirche. (2) Ihr Verhältnis zu einander ist aber alles andere denn eine sozietäre Idylle gewesen. Vielmehr zeichnet es sich bereits im Mittelalter durch eine bestimmte Dichotomie des kulturellen Bewußtseins aus. Das Konkurrenzverhältnis zwischen beiden Ständen wird besonders deutlich im Kampf der Laien um das in den Händen des Klerus liegenden Bildungsmonopol, wie es für den Westen Otto Brunner, Joachim Matthes u. a. nachgewiesen haben. (3) Aus Zeitgründen können wir hier nicht auf die Situation in Byzanz eingehen. Immerhin sei daran erinnert, daß einer der bedeutendsten Hagiographen, Symeon Metaphrastes, ein hoher Beamter und hochgebildeter Laie gewesen ist, der sich in seinen Mußestunden auch mit Theologie beschäftigte. Auch unter den byzantinischen Kaisern, deren laikaler Einfluß auf die Kirche bekannt ist, gab es eine große Zahl, die sich, mehr oder weniger ambitiös, der Gottesgelahrtheit widmeten. Wenden wir uns Rußland zu, so artikulierte sich in den Novogoroder Strigolniki (4) eine deutliche Laienopposition gegen den Anspruch der Kirche auf den alleinigen Anspruch der Bibelinterpretation, von anderen Punkten der Kritik und offenbaren häretischen Charakterzügen dieser Bewegung abgesehen. Auf einer sozial und kulturell höheren Stufe befanden sich die Vertreter einer weithin laikalen Bildungsrenaissance, die von der Großkirche als "Judaisierende"(5) diskreditiert wurden. Ihr Protest richtete sich, um eine Formulierung Otto Brunners zu gebrauchen, gegen

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den "Monopolanspruch der institutionalisierten Klerikerkultur". Auch theologisch gebildete Männer, wie Fjodor Kurizyn und Iwan Wolk Kurizyn, beide als Ketzer 15O4 verbrannt, beschäftigten sich mit der patristischen und kanonistischen Literatur der alten Kirche und entwarfen aus diesen Quellen das Idealbild einer Art von "Geistkirche", in der die intellektuelle Beschäftigung mit dem Bibeltext einen höheren Stellenwert besaß, als die Kultusemotion und die Hierarchie der Kirche. Für die eingangs erwähnte Bildungskonkurrenz zwischen Laikat und Klerikat ist es charakteristisch, daß die Bemühungen der "Judaisierenden" um einen authentischen Bibeltext schließlich die Herausgabe der sogenannten "Gennadij"-Bibel veranlaßt haben, die erste Vollbibel Rußlands, die neben die Kultuslektionarien trat. (6) Damit war die erste, wenn auch noch unzureichende und später durch die Ostrog- und Elisabethbibel vervollständigte Voraussetzung für das persönliche Bibelstudium geschaffen, das für Dostoevskij große Bedeutung besaß. In der "Provokation" der Großkirche durch die Bibel der "Judaisierenden" spitzte sich im übrigen die Frage zu, wieweit die erstere sich uneingeschränkt mit der Bibel identifizierte, - eine typisch laikale Frage, auf die wir noch einmal zu sprechen kommen werden. In den Kreisen der "Judaisierenden" beschäftigte man sich auch intensiv mit dem Problem der Willensfreiheit, der "duschá ssamowlastnaja", ebenso mit der Frage, ob die physische Vernichtung von Ketzern nach der Bibel zulässig sein, - beides Themen, die Dostoevskij stark beschäftigt haben. Ob der Dichter von den "Judaisierenden" gewußt hat, muß offen bleiben. Immerhin erschienen in derselben Zeit wie die Quellenpublikationen und Arbeiten über die altrussische apokryphe Literatur, die Dostoevskij gekannt und verarbeitet hat, auch die ersten Untersuchungen über diese Gruppe laikaler Nonkonformisten (N. S. Kostomarow, 1863; A. S. Pawlow in Prawoslawnyj Sobessednik 1863/ einige Jahrgänge befanden sich in der Bibliothek Dostoevskij's, leider wissen wir nicht, welche/; A. S. Nikititskij, 1973; I. Panow, 1877). (7) Im Laufe des 16. Jahrhunderts tritt das Laienelement immer deutlicher hervor. In der Zeit Wasilij's III. gehört z. B. Fjodor Karpow (8), ein Diplomat mit Kenntnissen Ovids, Ciceros, Aristoteles und möglicherweise auch des Thomas von Aquin. In der Epoche Iwan Grosnyj's erhält der "zweite Stand" der kirchlichen Sozietät eine Reihe bedeutender Vertreter. Da ist der Zar selbst, der sich wie seine Vorbilder, die byzantinischen Kaiser, mehr oder weniger ambitiös mit Theologie beschäftigt und, wie jene, die Kirche zu beherrschen sucht. Theologie, Hagiographie und Kanonistik waren auch Wissensgebiete, in denen sich

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der Gegner Iwans auskannte, der nach Polen emigrierte Fürst Kurbskij. Der Verwalter der litauischen Güter Kurbskij's ist Fjodor Iwanowitsch Dostojewskij gewesen, einer der Ahnen des Dichters. (9) Die Epoche Iwan Grosnyj's hat überhaupt eine Reihe interessanter Laienpersönlichkeiten hervorgebracht mit mehr oder weniger ausgeprägtem Nonkonformismus, wie Matfej Baschkin, den Djak Wiskowatij oder schließlich Feodossij Kossoj, der noch im Mönchsgewand ein laikaler und radikaler Nonkonformist geblieben ist. (10) In der Ukraine, Wohlhynien und Podolien, wo der orthodoxe Zweig der Dostoevskij's wohnte, hatte sich eine bemerkenswerte Laienorganisation entwickelt, die "Bratstwa". (11) Sie nahmen nicht nur Einfluß auf die Besetzung der Pfarrstellen und Bischofssitze, sondern konnten auch auf bedeutende Kulturleistungen verweisen. Ich nenne nur stichwortartig: die Förderung des Buchdrucks, nachdem Iwan Fjodorow dem Widerstand der Kirche in Moskau weichen mußte (Stichwort: Ostrog-Bibel); die Einführung der Liniennotation anstelle der alten Neumen und die Einführung der Mehrstimmigkeit, des "partesnoe penie"; die wissenschaftlich-kritische Beschäftigung mit dem Verhältnis von Liedtext und Melodie (Stichwort: Chomonija), u. a. m. Im Zusammenhang mit der Ukraine muß noch eine Laienpersönlichkeit erwähnt werden, die für die Beurteilung der Religionsphilosophen des 19. Jahrhunderts von Wichtigkeit ist: Grigorij Skoworoda (gest. 1794). (12) Mit der Auflösung der kirchlichen Christologie in eine Christusmetaphorik und Christusästhetik, mit seiner Vision vom in Christus erschienenen schönen Menschen und mit seiner inneren kritischen Distanzierung von der Kirche als Institution unter Beibehaltung des persönlichen Glaubens nahm Skoworoda Gedanken und Haltungen vorweg, die wir, weiter entwickelt, im 19. Jahrhundert und, nicht zuletzt, auch bei Dostoevskij wiederfinden. Ob dieser den Ukrainer gekannt hat, ist freilich eine offene Frage. - Mit Peter I. begann der Prozeß zunehmender Einflußnahme des laikalen Elementes auf die Leitung der Kirche in Gestalt des Oberprokurors des Heiligsten Regierenden Sinods. Dabei blieben die Reservate des geweihten Klerikats erhalten, zu denen auch die Lehrvollmacht gehört. Der gleichzeitige Verlust des Bildungsmonopols veranlaßte die Kirche, sich auf die Erhaltung interner Werte des Kultus, der an der Tradition orientierten Lehre und der Frömmigkeit zurückzuziehen. In dieser geschwächten Position wurde sie in gefährlicher Weise durch eine sich schnell ausbreitende laikale Bewegung bedroht, das massonstwo. Wie Walentina Wetlowskaja(13) gezeigt hat, gab Dostoevskij Iwan Karamsow die Züge eines Großmeisters dieser Geheimgesellschaft. Damit hat der Dichter selbst seine Einstellung

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zum massonstwo eindeutig klar gestellt. Unter diesem Vorbehalt sind trotzdem einige Vergleiche und Gegenüberstellungen interessant. Typisch für das Laienverständnis kirchlichtraditioneller Vorstellungen ist der Begriffswandel von "prosweschtschenie" als Synonym für "Taufe" zu "Aufklärung", "Bildung". (14) Dostoevskij notiert sich in seinen tetrjady von 1876-77: "Eine große Tat der Liebe und echter Aufklärung. Das ist meine Utopie"(Welikoje delo ljubwi i nastojaschtschewo prosweschtschenija, Wot moja utopija). (15) Vor einiger Zeit hat Erich Bryner in einer sehr differenzierten Untersuchung auf die komplizierten Zwischenbeziehungen zwischen Karamsin und dem massonstwo hingewiesen. Danach haben in Karamsins Geschichte des russischen Reiches, die zur unvergeßlichen Jugendlektüre Fjodor Michailowitsch's und seiner Geschwister gehörte, weder die Person Christi noch die Fundamentaldogmen der orthodoxen Kirche einen Platz gefunden. Statt dessen spielt der "tschelowekoljubivyj duch Christianstwa"(17) die tragende Rolle seiner historischen Darstellung, durchaus im Sinne des "prosweschtschenije". Während Dostoevskij in diesem Punkt dem großen Historiographien gefolgt ist, steht die Person Christi ohne Zweifel im Mittelpunkt seiner religionsphilosophischen Überlegungen, im Gegensatz zu Karamsin. Übrigens hält Karamsin die physische Vernichtung der Judaisierenden für nicht vereinbar mit dem "tschelowekoljubiwyj duch Christianstwa" und will sie nur im äußersten Falle angewendet wissen. Dostoevskij war in dieser Frage konsequenter und lehnte Ketzerverbrennungen prinzipiell ab. Mit einem der bedeutendsten und gebildetsten Freimaurer, Nikolaj Iwanowitsch Nowikow, befinden wir uns ebenfalls im unmittelbaren Bereich der Biographie Dostoevskij's. G. A. Fjodorow hat auf persönliche Kontakte zwischen Nowikow und dem Urgroßvater Dostoevskij's mütterlicherseits, Michail Fjodorowitsch Kotelnizkij, hingewiesen. (18) Dieser war ein hochgebildeter Mann und konnte als Korrektor an der Moskauer Geistlichen Druckerei Nowikow Handschriften und Drucke für dessen Drewnaja Rossijskaja Wifliofika vermitteln, in der sich auch patristische u. a. geistliche Literatur befand. G. A. Fjodorow(19) und Wera Netschajewa(2O) haben für die Zeit des Besuches der Moskauer Pension Tschermak durch die Brüder Dostoevskie von 1834-37 eine Persönlichkeit namhaft gemacht, den Lehrer Bilewitsch, der ein begeisterter Anhänger Nowikows und seiner Aufklärungsideen war und diese seinen Schülern vermittelte. Die Nachwirkungen lassen sich, nach Wera Netschajewa, bis in die Notizen zum Roman Der Jüngling (und im Roman selbst) und zum Leben eines großen Sünders nachweisen, ohne daß der Name Bilewitsch auftaucht.

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Die hier nur skizzierte Tradition einer bedeutenden Laienbildung innerhalb der Geschichte der russischen orthodoxen Kirche fand ihren Abschluß durch die "Laientheologen" des 19. Jahrhunderts von Iwan Kirejewskij und Chomjakow bis zu Wladimir Solovjov. Ihnen allen sind folgende Charakteristika gemeinsam: t. Ein deutliches Unbehagen an der. philosophischen Unbeweglichkeit der offiziellen Schultheologie, deren Gründe wir kennengelernt haben, und an der ängstlichen Aussparung offengebliebener Fragen spekulativer aber auch sozialer Art. 2. Eine gewisse innere Distanziertheit gegenüber der Kirche bei gleichzeitiger genauer Beobachtung ihrer Riten und Vorschriften. 3. Eine typisch laikale Unbekümmertheit gegenüber der kirchlichen Lehrtradition bei gleichzeitigem, z. T. (wie bei Kirejewskij) intensivem Studium der Patristik auf der Grundlage eines ausgeprägten Bildungsselbstbewußtseins. Alle diese Züge mußten, wie Reinhard Slenszka einmal schrieb, "zu einem mehr oder minder offenen Konflikt mit der offiziellen Kirche und ihrer Theologie führen". (21) Aus Gründen der Zeitökonomie können wir, was die Zwischenbeziehungen zu Dostoevskij anbetrifft, hier nur einige Beispiele bringen. So schuf Kirejewskij (22) aus seinem Studium der Patristik die Vorstellung von der Ganzheit, der zelnost, von Vernunft (um) und An-schauung (srenije) im Erkenntnisvermögen des Menschen. Diese, in einem umfassenden Sinne zu begreifende Ästhetik Kirejewskij's gehört ebenso zu den Voraussetzungen von Dostoevskij's poetischen Anschauungen wie des ersteren Theorie vom "inneren Bewußtsein", vom "dunklen Ahnen" der Grenzen des Intellektes. Diese Theorie findet sich, poetisch gestaltet, bei Dostoevskij im Erlebnis "anderer Welten" (Aljoscha Karamsow, Myschkin, der "mistitscheskij uschas" im Wlas). Am deutlichsten aber wird der Durchbruch laikalen religiös-theologischen Denkens und einer jahrhundertealten Konkurrenzsituation zur kirchlichen Schultheologie bei einem Vergleich zwischen Dostoevskij und Alexei Chomjakow. (23) Dabei muß ganz allgemein festgestellt werden, daß Dostoevskij weit weniger theologisch reflektiert als Chomjakov. Dafür besitzt er aber eine größere religiöse Unmittelbarkeit, das, was er selbst ganz im Sinne der "zelnost" Kirejewskij's, das "tschuwstwo" nennt. Im Mittelpunkt des theologischen Denkens Chomjakows findet sich ein typisch laikaler Begriff, der "amour mutuel". Er erinnert nur auf den ersten Blick an die Humanitätsreligion des massonstvo. Denn im Unterschied etwa zu Karamsin offenbart sich der "amour mutuel" im "Etre moral unique", d. h. in der Person Christi. Aus beiden resultiert die Vorstellung Chomjakows von der Kirche als freier Liebesgemeinschaft. Das hatte zur Folge, daß für Chomjakow nicht die vertikal-autoritäre Struktur

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der Kirche, sondern die einer horizontal-partnerschaftlich-dialogischen von entscheidender Bedeutung gewesen ist. (Erst von 1906 an wurde für diese ekklesiologischen Vorstellungen Chomjakows der Begriff "sobornost" geprägt, zunächst nicht ohne scharfe Kritik durch die offizielle Schuldogmatik). Da ich an anderer Stelle, ohne auf Chomjakow einzugehen, auf Entsprechungen zwischen ihm und Dostoevskij hingewiesen haben, darf ich hier Ihre Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt lenken. Die Ekklesiologie Chomjakows beinhaltet - und die innerkirchlichen Diskussionen um die "sobornost" von 1906-1917 können das nur bestätigen - eine von Natur aus laikale Frage an die Kirche, die nach ihrer inneren Identität. Identifiziert sie sich mit einer durch Lehramt, Kirchenrecht und vertikaler Hierarchie gekennzeichneten äußeren Autorität, oder mit der horizontalen und freien "communion d'amour"? Dostoevskij hat dieser Frage, weit über Chomjakow und die Slawophilen hinaus, eine außergewöhnliche Tiefendimension gegeben, indem er die Frage nach der Identität der Kirche mit dem Erscheinen des "ssamoswanez" verband. Anders als der Doppelgänger, den man als mechanische Dublette bezeichnen könnte, ist der "ssamoswanez", wie erst jüngst Boris Uspenskij(25) gezeigt hat, eng mit den religiösen Vorstellungen der russischen Kultur am Ausgang des Mittelalters verbunden. Als "Lügenikone" usurpiert der "ssamoswanez" das göttliche Urbild einer Person, nimmt mit ihrem Namen auch ihr Wesen ein. Weit über ihre reine Verdoppelung wird er mit ihr identisch in einem ontologischen Sinne. Boris Uspenskij gebraucht den, auch für die Poetik dieses Themas bei Dostoevskij fruchtbaren Begriff der "mythologischen Identifikation" (mifologitscheskoe otoschdestwlenije). Nachdem sich der junge Dostoevskij bereits in seinen frühen Briefen mit dem Problem der Identität seiner eigenen Persönlichkeit beschäftigt hatte (26), wird das Thema des "ssamoswanez" zum ersten Mal im Dwojnik dichterisch entfaltet. Zwar trägt Goljadkin II noch die Züge einer mechanischen Dublette, aber der Ausgang mit seinem Gerichtscharakter macht religiöse Implikationen deutlich. Außerdem wird Goljadkin II von Goljadkin I sowohl in der Erzählung wie in den späteren Entwürfen ausdrücklich als Grischka Otrepew angesprochen. (27) In der Wirtin von 1847 mit ihren, wie Rudolf Neuhäuser s. Z. gezeigt hat (28), zahlreichen symbolischen Anspielungen, bedroht Murin, bereits mit Zügen des späteren Großinquisitors ausgestattet, die innere lichte Schönheit Katharinas als Symbolfigur des "amour mutuel". Zum vollen Durchbruch des "ssamoswanez"- Motivs kommt es in den "Teufeln" von 1872. Marija Timofejewna Lebjadkina, diese durch ihr Hinken und das Jurodstwo verfremdete Symbolgestalt einer reinen Liebes-

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kirche, anathematisiert den, expressis verbis als "ssamoswanez" und "Lügendimitrij" bezeichneten Stawrogin und jagt ihn hinaus in die Nacht der Verdammnis. (29) Im Traum eines lächerlichen Menschen von 1877 spielt Dostoevskij das Thema andeutungsweise durch, indem er seinen Helden die Usurpation des Leidens Christi vollziehen läßt. Im Leben eines großen Sünders entfaltet der Dichter die Frage der personalen Identität in voller Breite und Tiefe, - einer Identität, die ständig von Innen her bedroht wird. Dabei ist bezeichnend, daß der Held und sein Schöpfer sich intensiv mit den Repräsentanten des "ssamoswanstwo" innerhalb der Chlystowschtschina und des Skoptschestwo beschäftigen. (30) In der für Dostoevskij charakteristischen Ideen- und Figurensukzession erscheint mit innerer Logik am Ende der erwähnten Prototypen schließlich in den Brüdern Karamasow die Gestalt des Großinquisitors. Dostoevskij übernimmt die Vorstellung Chomjakows vom Identitätsverlust des Christentums durch den Katholizismus. Aus dieser mehr oder weniger konstruiert-abstrakten Geschichtsphilosophie schafft der Dichter im Hirn Iwan Karamasows, des. wie wir sahen, "Großmeisters" des massonstvo, die Gestalt des Großinquisitors, der, wie jener, die deutlichen Züge eines "ssamoswanez" der Kirche trägt. Er tritt mit seiner, in sich logischen, aber, wie Dostoevskij in den Notizen der Jahre 188O-81 einmal schreibt, "unsittlichen Lehre" der Gewalt und der Herrschaft über die Seelen dem schweigenden Christus gegenüber. (31) Mit dem Stifter einer Kirche der "ssvobodnaja ljubow tscheloweka", wie sie der Großinquisitor ironisch nennt, identifiziert sich der Dichter, - auch auf die Gefahr hin, mit ihm der Kirche des Großinquisitors gegenüber im Irrtum zu bleiben. (32) Über den Charakter eines zeitgenössischen antikatholischen Pamphlets hinaus, als Kunstwerk, besitzt das Poem einen überzeitlichen, paradigmatischen Sinninhalt. Dieser schließt, überaus aktuell, die Frage an jede Kirche vertikaler Institutionalität nach ihrer wahren Identität ein. Dostoevskij sah die neue Kirche visionär in der um Aljoscha Karamasow sich sammelnden Gemeinschaft junger Menschen. (33) Nicht mehr Petrus mitsamt der auf ihm sich gründenden apostolischen Sukzession (Matth. 16, 18), sondern Aljoscha ist der Fels, der "kamen", auf dem sich die neue Liebeskirche gründen wird. (34) Er sollte auch, jedenfalls nach dem gewiß nicht überzubewertenden mündlichen Entwurf vom 2O. Februar 1880, ihr erster Märtyrer werden. -

Unser Überblick hat gezeigt, daß Dostoevskij's Vorstellungen über Christus und Kirche im Kontext einer bedeutsamen Traditionsgeschichte der russischen Laientheologie gelesen werden sollten. Das in seinem Werk vorhandene

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Spannungsverhältnis zwischen dieser Laientheologie einer Intelligenzija, soweit sie religiös orientiert gewesen ist, und der offizielle Schultheologie sollte wenige Jahrzehnte nach seinem Tode in den Petersburger religiös-philosophischen Versammlungen von 1902-1903 in dramati- scher Weise zum Durchbruch kommen. (35)

ANMERKUNGEN

  1. S. den Übersichtsartikel "Russische Religionsphilosophie" in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Tübingen 1961, 1224-1229.
  2. N. Afanasev, Служение мирян в церкви, Paris 1955; H. -G. Beck, Kirche und Theologische Literatur im Byzantinischen Reich, München 19772, Reg. Klerus, Laien; Ders., "Kirche und Klerus im staatlichen Leben von Byzan", in: Ders., Ideen und Realitäten in Byzanz, London 1972 (Variorum Reprints), Nr. XIV; P. Trembelas, Le Laicat dans l'Eglise, Athènes 1976. Weitere Literatur s. K. Onasch, Liturgie und Kunst der Ostkirche in Stichworten, Leipzig 1981 (Wien-Köln-Graz 1981), Reg.
  3. O. Brunner, Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956; J. Matthes, Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Hamburg 1969; da in der Ständeordnung zwischen der katholischen und der Ostkirche keine Unterschiede bestehen s. auch New Catholic Encyclopedia, 3. Bd.; New York, St. Louis, San Francisco, Toronto, London, Sidney 1967, 948-950 (Clerical State); 8. Bd., 1967, 327-335 (Laity). Zur Soziologie s. International Encyclopedia of the Social Sciences, 13. Bd. 1968 (Religious Specialists, socio- logical study, 444-453, vor allem 449-450.
  4. Da es unmöglich ist, in unserem Zusammenhang die sehr umfangreiche und über zahlreiche Zeitschriften verstreute Spezialliteratur zu den russischen Ketzerbewegungen anzuführen (sie findet sich bei E. Hösch), sollen hier nur folgende Monographien genannt werden: E. Hösch, Orthodoxie und Häresie im alten Rußland, Wiesbaden 1975; Kasakowa, N. A. u. Luàe, Ja., S., Антифеодальные, еретические движения на Руси XIV начала XVI века, Moskau-Leningrad 1955; Klibanov, А., I., Реформационные движения в России в XIV- первой половине XVI вв., Moskau 1960. Luàe, Ja., S., Идеологическая борьба в русской публицистике конца
     

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    XV- начала XVI века, Moskau-Leningrad 1960. Siebe schließlich auch Философская Энциклопедия, Bd. 1-5, Moskau 1960-1970. über den neuesten Stand der Ketzerforschung orientiert laufend: "Russia Mediaevalis" (ed. J. Fenneil, L. Müller, A. Poppe), die in München erscheint.
  5. Lit. s. Anm. 4.
  6. Eine gründliche Übersicht der Geschichte der Bibel- übersetzung in Rußland gab. R. A. Klostermann, Probleme der Ostkirche. Untersuchungen zum Wesen und zur Geschichte der griechisch-orthodoxen Kirche, Göteborg 1955, 361-416. S. auch P. Hauptmann, Die Katechismen der russisch-orthodoxen Kirche, Göttingen 1971, Reg. Bibelübersetzungen. Auf die, für die Orthodoxie problematische Rolle der Russischen Bibelgesellschaft, hat bereits L. Müller in Russischer Geist und Evangelisches Christentum, Witten/Ruhr o. J., aufmerksam gemacht.
  7. Zu den Ausgaben s. Luàe, Идеологическая борьба Arm. 4), Reg.
  8. Философская Энциклопедия 2, 1962, 465.
  9. L. Grossman, Жизнь и труды Ф. М. Достоевского. Биография в датах и документах, Moskau-Leningrad 1935, 15 f.
  10. S. Философская Энциклопедия, Reg. - Aus der umfangreichen Lit. zu Feodosij Kossoj nenne ich nur die in Anm. 4 gen. Arbeit von Klibanow und R. M. Mainka, Sinowij von Oten. Ein russischer Polemiker und Theologe der Mitte des 16. Jahrhunderts, Roma, 1961. Dazu K. Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, Göttingen 1967, 54 f. u. H. -D. Döpmann, Die Russische Orthodoxe Kirche in Geschichte und Gegenwart, Berlin 19812, 78 f.
  11. Полный православный богословский энциклопедический словарь, 1913 (Variorum Reprints, London 1971), 407. Zu Byzanz, Beck, Kirche... (Anm. 2), 139 f. Schließlich sei noch genannt: E. N. Medynskij, Братские шолы Украины и Белоруссии в XVI-XVII вв., Moskau 1954.
  12. Философская Энциклопедия 5, 1970, 24-25; Die Religion .... (Anm. 1), Bd. 6, Tübingen 1962, 105; A. Angyal, Die Slawische Barockwelt, Leipzig, 303-305; Grigorij Skoworoda. Сочинения в двух томах, Bd. 1 f.,
     

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      Moskau 1973 f.; B. Zenkovsky, Histoire de la Philosophie Russe, 1. Bd., Paris 1953, 64-82.
  13. V. E. Wetlowskaja, "Творчества Достоевского в цвете литературных и фолклорных параллелей. 'Строительная жертва', " in: Мир-Фолклор-Литература, Leningrad 1978, 81-113 mit ausführlicher Literatur zum масонство.
  14. Vgl. Bryner (Anm. 16), 194-197.
  15. Литературная наследство 83, Moskau 1973, 523.
  16. E. Bryner, N. M. Karamzin, eine kirchen - und frömmigkeitsgeschichtliche  Studie, Erlangen 1974.
  17. Bryner, 166, vgl. S. 183 f.
  18. G. A. Fedorov, "Отец и сын Котельницкие, " in: Памятники культуры.  Новые открытия, 1979, 76-90.
  19. G. A. Fedorov, "Пансион Л.И. Чермака в 1834-1837 фф. /по новым материалам/, in: Достоевский.  Материалы и исследования, 1. Bd., Leningrad 1974, 241-254.
  20. V. S. Netschajewa, Ранний Достоевский 1821-1849, Moskau 1979, 47-54.
  21. R. Slenczka, Ostkirche und Ökumene. Die Einheit der Kirche als dogmatisches Problem in der neueren ostkirchlichen Theologie, Göttingen 1962, 58.
  22. Философская Энциклопедия 2, 1962, 510-511; Zenkovsky (Anm. 12) 1, 232-254: E. Müller, Russischer Intellekt in Europäischer Krise. Ivan Kireevskij (1806-1859), Köln-Graz 1966.
  23. Философская Энциклопедия 5, 1970, 442-444; Theologische Realenzyklopädie 8. Bd., 2-4; P. Baron, Un théologien laic orthodoxe russe in XIXe siècle, Alexis Stépanovitsch Khomiakov, Rom 1940; E. C. Suttner, Offenbarung, Gnade und Kirche bei A. S. Chomjakov, Würzburg 1967; Zenkovsky (Anm. 12) 1, 202-230; Slenczka (Anm. 21), 61-79; A. Gratieux, A. S. Khomiakov) et le mouvement slavophile, 2 Bde., Paris 1939.
  24. Vgl. Slenczka (Anm. 21), 125-141.
  25. B. A. Uspenskij, "Царь и самозванец:  самозванчество в России как культурно-исторический феномен, " in: Художественный язык средневековия, Moskau 1982, 201-235. S. dort auch den Aufsatz von M. B. Pljuchanowa, "О некоторых чертах личностного создания в России XVII в. " s. 184-200.
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  27. Brief vom 9. August 1838 an seinen Bruder Michail (Pisma, Nr. 10; Reclam, Leipzig 1981, Nr. 1), wo von einem "совсем постороннее лицо" die Rede ist, durch das die "Erhabenheit schöner Geistigkeit zur Satire" wird. Im Nachwort erwägt er das Projekt, wahnsinnig zu werden. Wenige Sätze weiter spricht er vom Menschen, der Macht über das Unfaßbare hat und mit Gott wie mit einem Spielzeug umgehen kann. Im Brief vom 31. Oktober 1838 (Pisma, Nr. 12; Reclam, Nr. 2) setzt sich Fjodor Michailovitsch mit den Ansichten seines Bruders über die Bedeutung des Verstandes auseinander, dem er das Gefühl entgegensetzt. Die großen "самозванцы", Stavrogin und der Großinquisitor, in vielem auch bereits Murin, sind kalte Verstandesmenschen, die dem unmittelbar religiösen Gefühl mit Unverständnis gegenüberstehen.
  28. Полн. совр. сочин. (Leningrader Akademieausgabe) 17, 1976, Reg.: Otrepev, G. (statt X, 127-217).
  29. R. Neuhäuser, "The Landlady: A new Interpretation", ins Canadian Slavonic Papers 10, l, 1968. Ders., Das Frühwerk Dostoevskij's, Literarische Tradition und gesellschaftlicher Anspruch, Heidelberg 1979, ???. 20.
  30. Полн. совр. сочин. 10, 1974, 217-219, vgl. Bd. 12, 1975, 298 f.
  31. Полн. совр. сочин. 9, 1974, 515-517; Uspenski (Anm. 25), 203.
  32. "Нравственный образец и идеал есть у меня один, Христос.  Спрашиваю:  сжег ли бы он еретиков, -- нет.  Ну так значит сжигание еретиков есть поступок безнравственный ... Инквизитор уж тем одним безнравственен, что во сердце его, в совести его могла ужиться идея о необходимости сожигать людей." "Wichtig vor allem die voranstehenden Satzes "Сожигающего еретиков я не могу признать нравственным человеком, ибо не признаю ваш тезис, что нравственность есть согласие с внутренними убеждениями.  Это лишь честность /русский язык богат/, но не нравственность" /Литературное наследство 83, Moskau 1971, 675. /
  33. "Христос ошибался - доказано.  Это жгучее чувство говорит:  лучше я останусь с ошибкой, чем с вами, " ebendort, 676. Fast dieselben Worte schrieb Oostoevskij bereits in seinem Brief an
     

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      Frau Fonvisina, Ende Februar 1854 (Pisma, Nr. 23; Reclam, Nr. 61), Vgl. Louis Allain, Dostoievski et Dieu. La Morsure du divin, Lille 1981: "Il existe une sorte de mystère personnel entre Dostoievski et le Christ qui n'est sans doute pas exempt d'une certaine ambiguité... En un sens le Christ devient Dostoïevski à mesure que Dostoievski s'identifie au Christ... L'univers de Dostoievski est par excellence celui des hypostases et des reflets", S. 101, 103.
  34. In einem Brief an L. V. Grigorew vom 21. Juli 1878 schreibt Dostoevskij, daß die heutige Jugend nicht "fault" (gnijot). "Nichts dergleichen, sie sucht die prawda mit der Kühnheit des russischen Herzens und Verstandes, und es fehlen ihr nur die Führer", Grossman (Anm. 9), 35O.
  35. Vgl. Полн. совр. сочин., 1976, 586, 604. Dazu Victor Terras, A Karamazow Companion. Commentary on the genesis, language, and style of Dostoevsky's novel, Madison, Wisconsin 1981, Reg.: Biblical quotations and references, S. 458.
  36. J. Scherrer, Die Petersburger Religiös-Philosophischen Vereinigungen, Berlin(West)-Wiesbaden 1973.
University of Toronto