Dostoevsky Studies     Volume 5, 1984

NOTE
 James Joyce und Dostojewskij

Horst-Jürgen Gerigk, Universität Heidelberg

Wer Richard Ellmanns große Joyce-Biographie kennt und mit der dreibändigen Sammlung der Briefe von James Joyce vertraut ist, muß zweifellos den Eindruck gewinnen, daß Dostojewskij für James Joyce (1882-1941) keinerlei Bedeutung besessen hat. Ellmann referiert eine Anekdote, wonach Joyce gesagt habe, Crime and Punishment sei ein sonderbarer Titel für ein Werk, in dem es weder ein Verbrechen noch eine Strafe gebe. (1) Sowohl in Joyces Briefen (2) als auch in seinen kritischen Schriften (3) wird man den Namen Dostojewskij vergeblich suchen. Es ist bezeichnend, daß in den Erinnerungen des Bruders Stanislaus zwar Tolstoj und Turgenjew genannt werden, nicht aber Dostojewskij. (4)

Angesichts dieser Sachlage verdienen die von Arthur Power aufgezeichneten Conversations with James Joyce (London 1974) ein besonderes Interesse. (5) Schauplatz ist das Paris der zwanziger Jahre, das für uns durch Gertrude Steins Autobiography of Alice B. Toklas (1933), Malcolm Cowleys Exile's Return (1934), Sylvia Beachs Shakespeare and Company (1960) längst zur Legende geworden ist: als Moveable Feast (Hemingway) der Künstler und Narren.

Der junge Arthur Power (geboren 1891 in Waterford, Irland) lernt James Joyce per Zufall im Bal Bullier kennen: an jenem denkwürdigen Tag um den 10. April des Jahres 1921, als Joyce und Sylvia Beach den Vertragsabschluß für die Veröffentlichung des Ulysses festlich begingen. Joyce und Power, der sich soeben als Kunstkritiker des New York Herald einen Namen machte, freunden sich an, verbunden durch ihre irische Herkunft, ihre Abkehr von der Katholischen Kirche und die Liebe zur Literatur. Im Verlauf ihrer zahlreichen Begegnungen kommt es zu einer ganzen Reihe von Unterhaltungen über literarische Themen, die nun nachzulesen sind. Es fehlt leider eine genaue Datierung der einzelnen Gespräche, die sich ganz offensichtlich über einen Zeitraum von fast zehn Jahren verteilen.

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Das sechste Kapitel der Aufzeichnungen Powers ist ganz der russischen Literatur gewidmet. (6) Joyce mokiert sich über Puschkins Hauptmannstochter ("... not a pin's worth of intellect in it"), meldet tiefe Skepsis gegenüber Turgenjew an ("... an amiable person, but I cannot admire him as a great writer"), lobt allerdings die Aufzeichnungen eines Jägers ("his best work"), läßt verschiedentlich seine Bewunderung für Tolstoj durchblicken und preist dann Tschechows Bühnenwerke ("he brought something new into literature. He is the first dramatist who relegated the external to its proper significance: and yet with the most casual touch he can reveal tragedy, comedy, character and passion").

Und nun fragt Arthur Power: "But since we are talking about Russian literature, what do you think of Dostoevski? Does he appeal to you?"

'Of course', replied Joyce, 'for he is the man more than any other who has created modern prose, and intensified it to its present-day pitch. It was his explosive power which shattered the Victorian novel with its simpering maidens and ordered commonplaces; books which were without imagination or violence. I know that some people think that he was fantastic, mad even, but the motives he employed in his work, violence and desire, are the very breath of literature'.

Dostojewskij als der Überwinder des viktorianischen Romans! Das überraschende Argument zeigt deutlich, daß Joyce den russischen Kollegen als Mitstreiter in einem gemeinsamen Kampf betrachtet. Nur wenig vorher vermerkt Joyce, sein Ulysses habe die Literatur von ihren "age-old shackles" befreit. Gegen solch unzweideutige Hochschätzung Dostojewskijs führt Arthur Power, nicht ohne eine maliziöse Freude am Widerspruch, das Urteil George Moores (1852-1933) ins Feld, wonach Dostojewskij nichts anderes biete als "vapour and tumult". Zustimmend zitiert Power Moores Diktum: "His farrago is wonderful but I am not won. " Sofort rüstet Joyce zum Gegenangriff, nennt die Heroen Moores, Balzac und Turgenjew, "traditionalists like Moore himself with all the inherited wariness of the traditionalists". Joyce zeigt sich insbesondere von den Brüdern Karamasow begeistert. Dostojewskij ist ihm ein Schöpfer unvergeßlicher Szenen:

Do you remember when Alyosha goes to see his father after Dmitri has attacked him; his father's head is still wrapped up in a red silk

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scarf, and he gets up every now and then to examine his wounds in the mirror while he declares he will go on living as he has always lived, passionately, evilly; his pride, his boasting; his desire for the young Grouschenka, the strumpet and virgin in one.

Man sieht: Ein solches Interesse rückt ganz und gar nicht Dostojewskij, den Moralisten, ins Rampenlicht, sondern den Spezialisten für "violence" und "desire". Arthur Power indessen will sich von solchen Überlegungen nicht überzeugen lassen. Für ihn haben Dostojewskijs Gestalten nichts mit der Wirklichkeit zu tun, und er winkt ab: "they are mad, all of them. "

Fazit: Die zunächst naheliegende Annahme, daß Joyce Dostojewskij keine ernsthafte Beachtung geschenkt habe, wird durch die Aufzeichnungen Arthur Powers widerlegt. In rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht ist bedeutsam, daß Joyce die hohe Einschätzung Turgenjews, wie sie für Henry James und für Ezra Pound typisch ist (7), nicht mitgemacht hat. (8)

NOTES

  1. Vgl. Richard Ellmann: James Joyce, New York: Oxford University Press 1959, S. 499.
  2. Vgl. Letters of James Joyce, ed. Stuart Gilbert. London: Faber & Faber 1957; Bde II u. III, ed. Richard Ellmann, London: Faber & Faber 1966. Joyce lobt durchgehend Tolstoj, auch findet sich eine sehr anerkennende Passage zu Lermontows Ein Held unserer Zeit (Bd. II, S. 111), die mit der Feststellung endet: "The book impressed me very much. It is much more interesting than any of Turgenieff's. "
  3. Vgl. The Critical Writings of James Joyce, ed. Ellsworth Mason and Richard Ellmann, London: Faber & Faber 1959.
  4. Vgl. Stanislaus Joyce: My Brother's Keeper, ed. Richard Ellmann. With a preface by T. S. Eliot, London: Faber & Faber 1958.
  5. Vgl. Arthur Power: Conversations with James Joyce, ed. Clive Hart. London: Millington 1974, 111 Seiten. Die Ausgabe läßt leider einen kritischen Apparat vermissen. So fehlen jegliche bibliographischen Hinweise auf bereits vorliegende Äußerungen Arthur Powers zum Thema, wie etwa auf sein Buch From an Old Waterford House (London, o. J. ), seinen Artikel
     

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    "James Joyce — The Man" in der Irish Times (1944) und auf ein Gespräch mit Joyce, auf das schon Ellmann Bezug nimmt.
  6. Vgl. Arthur Power: Conversations with James Joyce, S. 51-60. Sämtliche Zitate sind im folgenden diesem Kapitel entnommen.
  7. Ezra Pound wiederum macht die Zurückweisung Dostojewskijs, wie sie für Henry James kennzeichnend ist, nicht mit. Vgl. Pound/Joyce. The Letters of Ezra Pound to James Joyce with Pound's Essays on Joyce, ed. Forrest Read, London: Faber & Faber 1968, S. 52; sowie Pounds Äußerungen zu Wyndham Lewis' Roman Tarr, in: The Literary Essays of Ezra Pound, ed. T. S. Eliot, London: Faber & Faber 1954, S. 424.
  8. Es sei in diesem Zusammenhang insbesondere auf die neueste Arbeit René Welleks verwiesen: "The Nineteenth-Century Russian Novel in English and American Criticism", in: John Garrard (ed. ), The Russian Novel from Pushkin to Pasternak, New Haven and London: Yale University Press 1983, S. 241-273. - James Joyce wird dort nicht erwähnt, so daß diese "Notiz" eine kleine Ergänzung liefert.
University of Toronto