Dostoevsky Studies     Volume 7, 1986

Der Mörder Smerdjakow. Bemerkungen zu Dostojewskijs Typologie der kriminellen Persönlichkeit

Horst-Jürgen Gerigk, Universität Heidelberg

In der europäisch-amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts haben sich drei Autoren besonders intensiv mit der kriminellen Persönlichkeit auseinandergesetzt: Edgar Allan Poe (1809 - 1849), Fjodor Dostojewskij (1821 - 1881) und Emile Zola (1840 - 1902). Jeder von ihnen gestaltet das Phänomen des Verbrechens auf eigene Weise. Nebenbei sei vermerkt, daß eine vergleichende Darstellung des Menschenbildes dieser drei Autoren unter besonderer Berücksichtigung der kriminologischen Komponente bislang fehlt.

Die hier vorgelegten Überlegungen sind ausschließlich Dostojewskij gewidmet.(1) Es soll gezeigt werden, daß Dostojewskij die biologisch-medizinischen Vorstellungen von der Eigenart des Verbrechers, wie sie in seinem Jahrhundert zur Herrschaft kamen, aufgreift, um sie durch das Argument zu widerlegen, daß der Verbrecher im Augenblick der Tat frei ist, mögen ihn auch verschiedenste Faktoren zur Bejahung seiner Tat getrieben haben.

Bei der Herausbildung der Leitbegriffe, wie sie innerhalb der Psychiatrie und Kriminologie für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bezüglich der Eigenart der kriminellen Persönlichkeit typisch werden, haben die Physiognomik Johann Kaspar Lavaters (1741 - 1801) und die Phrenologie Franz Joseph Galls (1785 - 1828) eine wichtige Rolle gespielt; hinzu kommt der Einfluß der von Benedict Augustin Morel (1809 - 1873) systematisch ausgearbeiteten Lehre von der Entartung.(2)

In solchem Zusammenhang darf vor allem der 1835 von James Cowles Prichard (1786 - 1848) geprägte Begriff der "moral insanity" nicht unerwähnt bleiben, der von der Sache her auf Philippe Pinel (1745 - 1826) zurückgeht und seine Wurzeln im 18. Jahrhundert hat. (3) Richard von Krafft-Ebing (1840 -1903) widmet der Lehre vom moralischen Wahnsinn (auch sittliche Idiotie, moralisches Irresein oder moralischer Schwachsinn genannt) seine beständige Aufmerksamkeit.(4) Auch Cesare Lombroso (1836 - 1909) steht mit seinen Forschungen zum "homo delinquens" in dieser Tradition, deren Ergebnisse er mit der Pointe versieht, der moralische Wahnsinn dürfe, recht besehen, nicht als Krankheit eingestuft werden, sondern als Atavismus.(5) Der durch solchen Atavismus geprägte "geborene Verbrecher" weise, so Lombroso, ganz bestimmte körperliche und charakterliche Kennzeichen auf. Mit den Werken Krafft-Ebings und Lombrosos wird die wissenschaftliche Diskussion um die Möglichkeiten der Entartung des Menschen in breiteste Leserschichten hineingetragen. Hinter dem psychiatrischen und kriminologischen Interesse des 19. 107

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Jahrhunderts an der kriminellen Persönlichkeit steht das Ziel, hauptsächlich durch ein möglichst genaues Erfassen der menschlichen Erbanlagen dem Rätsel des Bösen auf die Spur zu kommen. Die beunruhigende anthropologische Frage, die sich in solchem Zusammenhang stellt, lautet: Kann man es einem Verbrecher ansehen, daß er ein Verbrecher ist, noch bevor er seine Tat begangen hat? Wenn ja, wie sehen die Kennzeichen der kriminellen Persönlichkeit aus?

Daß eine solche Frage für die dichterische Gestaltung des Verbrechers von besonderer Bedeutung ist, liegt auf der Hand. Dichtung macht auf verschiedenste Weise von den sich wandelnden Klischeevorstellungen Gebrauch, die sich vom Aussehen und vom Benehmen eines Verbrechers im allgemeinen Bewußtsein einer Zeit festgesetzt haben. Dostojewskijs Messerstecher Rogoshin hat stark hervortretende Backenknochen, fast schwarzes Kraushaar sowie eine breite und platte Nase und Pjotr Werchowenskij, der eiskalte Mörder aus den "Dämonen", einen nach hinten verlängerten Schädel, der aussieht, als sei er von beiden Seiten zusammengedrückt worden. Schon das Aussehen dieser beiden Gestalten soll sie dem Leser sofort verdächtig machen. Wie aber sind solche Kennzeichnungen auf dem Boden der anthropologischen Prämisse Dostojewskijs gemeint? Wenn man dem Täter bereits vor seiner Tat die kriminelle Disposition ansehen kann, wie ist es dann mit seiner Freiheit bestellt, auf die Dostojewskij so nachdrücklich pocht? Zweifellos will Dostojewskij letzten Endes eine Determinierung des Menschen durch Erbanlage und Milieu nicht gelten lassen. Auf den ersten Blick ist dies nicht ohne weiteres erkennbar, denn das äußere Erscheinungsbild seiner Mörder sowie ihre Lebenssituation lassen ihre Tat bereits ahnen. Was also ist zu beachten, um Dostojewskijs Täterpersönlichkeiten richtig einzuschätzen?

Die hier vorgelegten Überlegungen sind zentral der Zeichnung Smerdjakows gewidmet, der von allen Mördern, die uns Dostojewskij schildert, zweifellos der befremdlichste ist, denn sein teuflisches Planen stellt sogar den eigenen Selbstmord in Rechnung.(6) - Ehe die entsprechende Analyse Smerdjakows durchgeführt werde, seien einige grundsätzliche Überlegungen vorausgeschickt.

Dostojewskij charakterisiert seine Gestalten durch das, was sie sagen, durch das, was sie tun, und oft, aber nicht immer, durch ihr Aussehen. In der Welt, die Dostojewskij mit seinen fünf großen Romanen gestaltet, ist die Freiheit des Willens die nirgends aufgegebene Voraussetzung für die Bestimmung des Wesens des Menschen. Der Mensch ist frei in dem, was er sagt und tut. Allerdings erwerben die Gestalten Dostojewskijs das Bewußtsein ihrer Freiheit auf qualvollen Umwegen.

Wie aber steht es in solchem Zusammenhang mit der Charakterisierung des Menschen durch sein Aussehen? Hat der Mensch auch die Freiheit, darüber zu entscheiden, wie er aussieht? Offensichtlich nicht! Denn niemand kann für sein Aussehen.

Es muß nun aber genauer gesagt werden, was unter dem "Aussehen" eines Menschen verstanden werden soll. Mehrere Bedeutungen sind zu berücksichtigen: (1) die Physiognomie, (2)

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Mimik und Gestik, (3) die körperliche Verfassung und (4) die Kleidung.

Wenn Dostojewskij das Aussehen einer Gestalt ins Spiel bringt, arbeitet er meist mit allen vier Möglichkeiten, dieses Aussehen sprechend werden zu lassen. Diese vier Möglichkeiten seien zunächst im allgemeinen erläutert, ehe ihre spezielle Nutzung im Hinblick auf Smerdjakow untersucht werde.

Unter der Physiognomie eines Menschen sei, in Anlehnung an Karl Jaspers, die "dauernde körperliche Gestalt eines Menschen" verstanden.(7) Diese dauernde körperliche Gestalt stellt "seine besondere Artung" dar, "die mit ihm entstanden ist und nur eine langsame und begrenzte Variation innerhalb eines gewissen Spielraums im Laufe des Lebens erfährt, nachdem sie in der Pubertätszeit, manchmal auch etwas später, endgültig geworden ist. "(8) Jaspers stellt fest: "Sehen wir solche Physiognomien, so machen wir uns' sofort ein Bild eines dazugehörigen Seelenlebens, zwar unbestimmt, aber als eine dazugehörende gleichsam seelische Atmosphäre." Zwar sei Physiognomik bis heute nicht lehrbar, doch seien wir "dank der Leistungen der Künstler" voll von "physiognomischen Bildern, Typisierungen, Bedeutungen ohne Begriff." (9)

Physiognomik, so erläutert Jaspers weiter, betreffe die "feste Körperform" als Kennzeichen seelischen Wesens, Mimik hingegen die "leibliche Bewegung" als Erscheinung seelischen Lebens. Im Physiognomischen lassen sich die Zusammenhänge zwischen Seele und Leib nicht wissenschaftlich fassen, wohl aber im Mimischen. "Nur in der Mimik, nicht in der Physiognomik stehen wir auf dem Boden diskutierbarer Einsichten." (10)

Von der Mimik auszuschließen sind Erröten, Erblassen, Zittern ebenso wie Kopfschütteln, Nicken, Winken: also Begleitund Folgeerscheinungen seelischer Vorgänge sowie willkürliche Bewegungen, die einen gemeinten Zweck haben. Die eigentlichen mimischen Bewegungen aber wollen nichts mitteilen, sind unwillkürlich und ohne gemeinten Zweck: wie etwa der frohe, gespannte, vergrämte Ausdruck des Gesichts oder Lachen und Weinen. Es gibt eine Mimik des Gesicht, des Ganges und der Haltung.

Die Gestik gehört im Unterschied zur Mimik, so Jaspers, zu den willkürlichen Bewegungen, die konventionell sind, nämlich unter verschiedenen Völkern verschiedene Bedeutungen haben und immer etwas mitteilen wollen. Körperliche Bewegungen dieser Art seien der Sprache verwandt als ein "unvollkommenes Verständigungsmittel."(11)

Körperliche Gesundheit und körperliche Krankheit können das Aussehen eines Menschen entscheidend prägen. Ein körperliches Leiden kann das Ressentiment der Umwelt des Betroffenen auslösen und sich in einem verbitterten Gesichtsausdruck niederschlagen. Jaspers sagt: "Der Mensch modelt sich nach seinem Körper, verwächst dadurch seelisch mit ihm, so

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daß Körpergestalt und Seele zusammengehören", auch wenn dies ursprünglich gar nicht der Fall sei. Es müsse aber davor gewarnt werden, das körperliche Geschehen in solchen Fällen als Ausdruck eines Seelischen zu verstehen; vielmehr reagiere die Seele auf die Gestaltung des Körpers, so daß diese nicht als der Ausdruck jener aufgefaßt werden dürfe. Jaspers gibt zu bedenken, daß ja bei vielen Menschen ihre Körpergestalt und ihr Wesen nicht zueinander zu passen scheinen, weil eben die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen beiden überhaupt nicht zwingend ist.(12)

Die Kleidung eines Menschen schließlich (dies nun ohne Jaspers) gibt über seinen persönlichen Geschmack, seine finanziellen Mittel, seine soziale Stellung und die herrschende Mode Aufschluß, aber auch - in einer jeweils bestimmten Situation - über den gegenwärtigen Zustand ihres Trägers: Kleidung kann zerknittert sein, abgerissen oder auch allzu fein, wir sagen dann, jemand sei "overdressed". Auf der gleichen Bedeutungsebene wie die Kleidung liegt auch die Frisur, die ja auch Haartracht heißt, desgleichen die Art, wie sich jemand durch Schmuckstücke oder Parfüms herausputzt.

Mit einem Wort: Das Aussehen eines Menschen, das Bild seiner äußeren Erscheinung setzt sich zusammen aus seiner Physiognomie, seiner Mimik und Gestik, seiner körperlichen Verfassung und seiner Kleidung im weitesten Sinne. - Sehen wir uns auf Grund dieser Kriterien die Gestalt Smerdjakows an.

Zu Beginn des Romans wird uns Smerdjakow als ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren vorgestellt, "äußerst ungesellig und schweigsam" (страшно нелюдим и молчалив) . Nach dieser Kennzeichnung heißt es aber sofort: "Nicht daß er menschenscheu (дик) gewesen wäre oder sich wegen irgend etwas geschämt hätte, nein, im Gegenteil, seinem Charakter nach war er arrogant (надмен) und schien jedermann zu verachten" (как будто всех презирал, ix, 158). Es fällt auf, daß Dostojewskij seinen Erzähler eine explizit als solche gekennzeichnete physiognomische Beschreibung Smerdjakows geben läßt. Anlaß ist die Angewohnheit Smerdjakows, "manchmal irgendwo im Hause oder im Hof oder auf der Straße stehenzubleiben, in Nachdenken zu versinken und in dieser Haltung an die zehn Minuten zu verharren." Und in diesem Zusammenhang heißt es: "Hätte ein Physiognomiker (физиономист) ihn dabei beobachtet, er hätte gesagt, es handle sich hier weder um ein Sinnieren noch um ein Nachdenken, sondern um eine Art Kontemplation (что тут ни думы, ни мысли нет, а какое-то созерцание, IX, 161). Zur Veranschaulichung dieser Feststellung wird ein Bild Iwan Kramskojs (1837-1887) beschrieben, das uns einen Bauern im winterlichen Wald zeigt, der sich verlaufen hat, in tiefster Einsamkeit dasteht und regungslos vor sich hinblickt. Das Bild, ein Ölgemälde, stammt aus dem Jahre 1878 und trägt den Titel "Sozercatel'". Auf was es ankommt, ist, daß hier nicht über etwas Bestimmtes nachgedacht wird, wir sehen vielmehr einen Menschen, der gedankenverloren stehen bleibt. Die Eindrücke, so erläutert Dostojewskijs Erzähler, die in solchen Momenten der Kontemplation entstehen, werden heimlich in der Seele aufbewahrt, ohne daß der Betroffene sagen könnte, wozu und weswegen. Vielleicht wird solch ein Mensch, wenn er die

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Eindrücke vieler Jahre gesammelt hat, "nach Jerusalem gehen, um dort ein Pilgerdasein zu führen und sein Seelenheil zu finden, es kann aber auch sein, daß er plötzlich sein Heimatdorf in Brand steckt, und möglicherweise wird sowohl das eine als auch das andere geschehen"(IX,161). Mit einem Wort: als typisch für Smerdjakow wird das regelrecht mystische Innehalten vor der reinen Anschauung mitten im praktischen Leben herausgestellt. Eigenartig ist, daß Dostojewskij sich hier explizit auf den Blick des Physiognomikers beruft, obwohl wir ja von der äußeren Erscheinung Smerdjakows überhaupt nichts mitgeteilt bekommen. Wie die "dauernde körperliche Gestalt" Smerdjakows aussieht, erfahren wir nicht. Der physiognomische Blick richtet sich hier ganz auf die "seelische Atmosphäre", die vom Aussehen Smerdjakows ausgeht. Die seelische Atmosphäre erschließt nicht nur den Charakter, sondern auch das Schicksal eines Menschen. Es sei hervorgehoben, daß dieses Schicksal in der Möglichkeit freier Wahl steht: Smerdjakow kann Pilger oder Verbrecher werden.

Smerdjakows Mimik und Gestik werden uns nicht durch eine zusammenfassende Momentaufnahme nahegebracht. Diesbezügliche Angaben sind über den ganzen Text verstreut. Smerdjakow spricht meist in einem unerhört hochmütigen Ton, er bewegt sich gezielt würdevoll, bricht aber sofort in Tränen aus, als ihn Iwan hart anfaßt. Mit seiner langsamen Gestik wehrt sich Smerdjakow dagegen, als "stinkender Lakai" zu gelten. Immer wieder wird sein hochmütiger Blick hervorgehoben, besonders auffallend ist sein "linkes, leicht zusammengekniffenes Auge", das "zwinkert und lacht" (IX, 336), wenn Smerdjakow ansonsten ganz ernsthaft dasitzt. Dieses Merkmal Steht genau auf der Grenze zwischen Mimik und Gestik im Sinne Jaspers'. Besonders sprechend ist in unserem Zusammenhang jene Szene, in der uns "Smerdjakow mit Gitarre" vor Augen geführt wird: würdevoll, aber durch und durch gekünstelt singt Smerdjakow mit süßer Fistelstimme Couplets vor Marja Kondratjewna. Mimik (Tränen) und Gestik (auf Würde bedacht) Smerdjakows zeigen an, daß hier eine Persönlichkeit gegeben ist, die durch den Verlust der Mitte gekennzeichnet ist. Das Gekünstelte ist die Form dieses mißglückten Daseins. .

Sehr viel detaillierter als der physiognomische Gesamteindruck und die mimische und gestische Eigenart Smerdjakows wird sein Gesundheitszustand, seine sich wandelnde körperliche Verfassung beschrieben. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß Dostojewskij die Zeit immer wieder dehnt, das heißt: seine großen Romane beschreiben trotz ihres beträchtlichen äußeren Umfangs immer nur sehr kurze Zeitabschnitte. Die in den "Brüdern Karamasow" geschilderten Ereignisse verteilen sich auf sechs Tage Ende August und Anfang November des Jahres 1866. Der Epilog beschreibt ein zusätzliches Tagesfragment.(13) Das bedeutet im vorliegenden Fall, daß uns Smerdjakow ständig als ein kranker Mensch vor Augen geführt wird.

Als er nach mehreren Jahren aus Moskau zurückkehrt, wo ihn Fjodor Karamasow zum Koch ausbilden ließ, hat sich sein Aussehen stark verändert:  "Irgendwie war er plötzlich unge-

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wohnlich gealtert, seine Haut hatte Runzeln bekommen, was seinem Alter völlig inadäquat war, er war ganz gelb geworden, ähnelte einem Kastraten (стал походить на скопца, IX, 160). Diese Veränderung seines Äußeren habe aber, so versichert der Erzähler sofort, keine Veränderung seines Wesens nach sich gezogen: er war "fast" der gleiche geblieben, der er vor seiner Abreise nach Moskau war: immer noch menschenscheu und ohne das "geringste Bedürfnis nach irgendwelcher Gesellschaft"(160). Obwohl sich Smerdjakow jetzt gekkenhaft kleidet, "scheint er das weibliche Geschlecht ebenso zu verachten wie das männliche"(160).

Des weiteren wird hervorgehoben, daß Smerdjakows epileptische Anfälle jetzt häufiger und heftiger auftreten.

Während der kurzen Zeitspanne, die Smerdjakow vor unseren Augen existiert, von Ende August bis Anfang November 1866, wird sein Gesundheitszustand immer schlechter. Von zentraler Bedeutung für Smerdjakows endgültigen gesundheitlichen Abstieg scheint jener epileptische Anfall zu sein, den er nach der Ermordung Fjodor Karamasows erleidet: ein besonders heftiger Anfall, der einige Tage gedauert und sich immer aufs neue wiederholt hat, so daß, nach Auskunft der beiden Ärzte, das Leben des Patienten entschieden in Gefahr gewesen sei. Als Iwan Smerdjakow das erstemal besucht, liegt dieser "sehr abgemagert und sehr gelb geworden" im Krankenhausbett, ist schwach, spricht langsam und hat irgendwie "Mühe, die Zunge zu bewegen" (IX, 122). Er klagt über Kopfschmerzen sowie über ein "Reißen in allen Gliedern" (лом во всех членах, X, 122). "Sein kastratenhaftes, vertrocknetes Gesicht schien ganz klein geworden zu sein"(122).

Während Iwans zweiten Besuchs bei Smerdjakow macht dieser überraschenderweise den Eindruck, daß er sich von seiner Krankheit vollkommen erholt habe (X, 132). Wie diese zwischenzeitliche Besserung zu deuten ist, dazu wird sogleich noch etwas zu sagen sein. Jetzt sei nur darauf abgehoben, daß Iwan während seines dritten und letzten Besuchs bei Smerdjakow diesen völlig verfallen antrifft. Es heißt: Smerdjakow "hatte sich im Gesicht sehr verändert, war sehr mager und gelb geworden. Die Augen waren eingefallen, die unteren Lider blau" (X, 143). Smerdjakow wirkt wie ein "Traum", wie ein "Gespenst". Nach dieser Begegnung mit Iwan begeht Smerdjakow Selbstmord. Man sieht: Smerdjakows sich wandelnde körperliche Verfassung parallelisiert den in ihm wachsenden Entschluß, sich das Leben zu nehmen, nachdem er selber ein Leben ausgelöscht hat.

Betrachten wir des weiteren Smerdjakows Kleidung sowie die ihm eigentümliche Haartracht, ehe wir das Fazit bezüglich seiner äußeren Erscheinung und ihrer Funktion im Ganzen des Romans ziehen.

Zu Beginn des Romans wird uns Smerdjakow, nachdem er aus Moskau zurückgekehrt ist, als "gut gekleidet" geschildert: "... er trug einen sauberen Rock und weiße Wäsche, bürstete seine Kleider zweimal am Tage sehr sorgfältig und liebte es sehr, seine eleganten kalbsledernen Stiefel mit einer be-

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sonderen englischen Schuhwichse so zu putzen, daß sie wie ein Spiegel blinkten" (IX, 160). Den Lohn, den er von Fjodor Karamasow für seine Dienste als Koch erhält, verwendet er "fast ausschließlich für Kleider, Pomade, Parfüms und so weiter" (IX, 160). Eigentümlicherweise lebt er dabei ungesellig, auch seine Beziehung zu Marja Kondratjewna hat offensichtlich einen rein narzißtischen Charakter. Der Hang, sich herauszuputzen, wurzelt in Smerdjakows obsessivem Bedürfnis nach Reinlichkeit und Würde. Bereits als junger Mann, so lesen wir, pflegte er während des Essens jeden Bissen "auf der Gabel ans Licht zu halten, ihn genau zu betrachten wie durch ein Mikroskop", bevor er ihn in den Mund beförderte.

Immer wieder erwähnt der Erzähler neben der "kastratenhaft vertrockneten Physiognomie" Smerdjakows dessen "zurückgekämmtes Schläfenhaar und den hochgewellten kleinen Schöpf" (скопческая испитая Физиономия Смердякова с зачесанными гребешком височками и со взбитым маленьким хохолком, IX, 336), der anfangs so wirkt, als habe sich Smerdjakow Locken gebrannt. Der fortschreitende körperliche Verfall Smerdjakows wird von einem entsprechenden Verfall der Kleidung und der Frisur begleitet. Im Krankenhaus sind seine Schläfenhaare zerzaust, und statt der früheren Tolle ragt nur ein "schütteres Haarbüschel" empor (X, 122). Später, in seiner Wohnstube, sehen wir Smerdjakow in einem bunten wattierten Schlafrock, der abgetragen und schon ganz schäbig ist (X, 132). Von seinem geckenhaften Aufputz ist nichts mehr übrig. Der Erzähler registriert jetzt ein "baumwollenes, blaukariertes und völlig verschneuztes Taschentuch", das Smerdjakow hervorzieht (X, 134).

Zusammenfassend läßt sich nun sagen, daß das Aussehen Smerdjakows, wie es uns von Dostojewskij vor Augen geführt wird, in dessen körperlichem Verfall sein Zentrum hat. Smerdjakow ist krank und dies bereits zu Beginn des Romans, als er seinen Mord noch gar nicht begangen hat.

Ist also der Mord die Folge seiner Krankheit, die Folge seines mißglückten Daseins? Wird uns Smerdjakow als geborener Verbrecher geschildert, dessen hereditäre Disposition, verstärkt durch äußerst ungünstige Umwelteinflüsse, schließlich zum Mord führt und führen mußte? So könnte es tatsächlich scheinen, denn Herkunft und Milieu sind von Dostojewskij im Falle Smerdjakows so ungünstig wie nur möglich konzipiert worden.

Smerdjakows Mutter ist Lisawjeta, die Stinkende. Ihr Porträt übertrifft das ihres Sohnes noch an Absonderlichkeit: "Ihr zwanzigjähriges Gesicht, gesund, breit und rotwangig, war völlig das einer Idiotin; der Blick ihrer Augen war starr und unangenehm, wenn auch sanft. Sie ging ihr ganzes Leben lang, sommers wie winters barfuß und trug nur ein hänfenes Hemd. Ihr fast schwarzes, außergewöhnlich dichtes Haar, das gekräuselt war wie die Wolle eines Schafsbocks, saß gleichsam wie eine riesengroße Kappe auf ihrem Kopf. Außerdem war es stets mit Erde und Unrat beschmutzt und voller kleiner Blätter, Holzsplitter und Hobelspäne, weil sie immer auf der

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Erde und im Schmutz schlief" (IX, 125). Ihr Vater, ein starker Trinker, wird als obdachlos, heruntergekommen und kränklich geschildert(125). Auch sei nicht vergessen, daß ja Fjodor Karamasow, der exzessivem Alkoholabusus frönt, der leibliche Vater Smerdjakows ist. Mit einem Wort: Smerdjakows Eltern sind durch Idiotie und Alkoholismus gekennzeichnet.

Das Milieu, in dem er aufwächst, ist ihm feindlich gesonnen. Sein Pflegevater, der Diener Grigorij, verachtet ihn: "Du bist gar kein Mensch, der Feuchtigkeit einer Badestube bist du entsprossen" (ты из банной мокроты завелся, IX, 158). So wächst Smerdjakov im Hause seines leiblichen Vaters, der ihn nicht als Sohn anerkennt, als scheues Kind heran, das "die Welt aus einem Winkel betrachtet" (смотря на свет из угла, IX, 158). Haß staut sich in ihm auf. "Ich hasse ganz Rußland," gesteht er Marja Kondratjewna. Er bedauert, daß es Napoleon nicht gelungen sei, Rußland zu unterwerfen, und träumt davon, in Moskau ein Café-Restaurant zu eröffnen, sobald er nur genug Geld in der Tasche habe (IX, 283). Um sich dies zu verschaffen, ermordet er schließlich, wie er meint, Fjodor Karamasow. In Wahrheit aber bejaht er mit diesem Mord das Böse um seiner selbst willen jenseits aller auf Nutzen bedachten Zielsetzung.(14) Der angestaute Haß bricht sich zunächst in Tierquälereien Bahn. Es heißt: "In seiner Kindheit liebte er es sehr, Katzen aufzuhängen und sie dann feierlich zu begraben. Zu diesem Zweck legte er sich ein Bettlaken um, das so etwas wie einen Priesterornat vorstellen sollte, und sang und schwenkte irgend etwas über der toten Katze, als weihräuchere er" (IX, 158). Bezeichnenderweise hat Smerdjakow seinen ersten epileptischen Anfall im Alter von zwölf Jahren, nachdem er vom Diener Grigorij, seinem Pflegevater, eine Ohrfeige bekommen hat. Es heißt: "Der Knabe nahm die Ohrfeige hin, ohne ein Wort zu sagen, verkroch sich aber wieder für ein paar Tage in seinen Winkel. Der Zufall wollte es, daß bei ihm eine Woche später zum erstenmal die Epilepsie zum Ausbruch kam, an der er dann bis an sein Lebensende litt" (IX, 158/159).

Man sieht: Die soziale Umwelt erweist sich für Smerdjakow als eine einzige Beleidigung, auf die er willkürlich mit Tierquälereien reagiert, unwillkürlich mit epileptischen Anfällen und schließlich - unter dem Deckmantel der vorausgesetzten Billigung durch seine Brüder Iwan und Dmitrij - mit der Ermordung seines leiblichen Vaters.

Und so scheint Dostojewskij die Konzeption des Mörders Smerdjakow ganz und gar darauf angelegt zu haben, diesen als Resultat ungünstiger Erbanlagen zu verstehen, denen auf Grund ungünstiger Milieuverhältnisse alle Schleusen geöffnet worden sind. Zweifellos wurden beide Einflußbereiche derart auffällig gestaltet, daß sie mit Händen zu greifen sind. Es kommt nun aber darauf an, einzusehen, daß Erbanlagen und Milieu nur deshalb so auffällig gestaltet wurden, um zu zeigen, daß sie nicht ausreichen, um die Wirklichkeit des Bösen, hier gefaßt als die Ermordung des Fjodor Karamasow, herzustellen. Es muß noch etwas hinzukommen, das, so Dostojewskij, nicht als automatischer Ablauf erklärt werden kann, sondern ganz und gar der Freiheit des Willens untersteht.

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Auf den ersten Blick aber scheint Smerdjakow ganz dem Klischee des epileptischen Verbrechers zu entsprechen, dessen moralisches Irresein ihn als einen "geborenen Verbrecher" im Sinne Lombrosos ausweist.(15)

Gegeben ist die degenerative Grundlage: Mutter Idiotin, Vater Alkoholiker, Smerdjakow selbst Epileptiker, der bereits in früher Jugend Ritualmorde an Katzen durchführt, an Reinlichkeitssucht leidet und deutliche Anzeichen von Stiefelfetischismus erkennen läßt. Menschenscheu, gemütskalt, Neigung zu argumentativen Spitzfindigkeiten. Keine sexuellen Beziehungen. Gesicht des Vierundzwanzigjährigen bereits mit Runzeln überzogen, so daß es wie eingeschrumpft wirkt. Gelbliche Färbung. Kastratenhafter Eindruck. Ermordet kaltblütig seinen Vater unter der Voraussetzung, daß sein Bruder Dmitrij der Tat für schuldig befunden wird. Tod durch Selbstmord (Erhängen). Iwan empfindet Smerdjakow ganz offensichtlich als einen wandelnden Atavismus: "Solch eine Kreatur, und noch dazu mit Brille!" (Этакая тварь, да еще в очках!, X, 132)

Vergleichen wir diese, hier absichtlich aus dem Zusammenhang genommene Kurzcharakteristik Smerdjakows mit jener Darstellung, die uns Richard von Krafft-Ebing von Personen gibt, die an moralischem Irresein (moral insanity) leiden. (16)

Es gibt Individuen, die, obwohl sie mitten in dem Kulturleben eines hochzivilisierten Volkes aufgewachsen sind (...), dennoch nicht (...) dazu gelangten, ethische (mit Inbegriff religiöser und ästhetischer) Vorstellungen zu erwerben, dieselben zur Bildung moralischer Urteile und Begriffe zu benutzen und als Motive und Gegenmotive des Handelns zu verwerten.
Ein Gehirn, dem diese auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe zivilisierte Menschen integrierende Fähigkeit mangelt, erweist sich als ein ab origine inferior angelegtes, defektives, und diese Anschauung gewinnt eine mächtige Stütze damit, daß alle Erziehungsbemühungen, wie sie Familie und Schule anstrengen, gleichwie die trüben Erfahrungen, die ein so organisiertes Individuum im späteren Leben macht, ein ethisches Fühlen und Verhalten in keiner Weise günstig zu beeinflussen vermögen.
Die Ursache ist eben eine organische und für diese angeborenen Defektzustände in meist hereditären Bedingungen zu suchen, unter welchen Irrsinn, Trunksucht, Epilepsie der Aszendenz die hauptsächlichsten sind.
Das moralische Irresein trifft den innersten Kern der Individualität, ihre gemütlichen, ethischen und moralischen Beziehungen. Da es den formalen Ablauf des Vorstellens, die Bildung intellektueller Urteile des Nützlichen und Schädlichen fast unversehrt läßt, ermöglicht es ein logisches Urteilen und Schließen, das dem Unkundigen den Defekt aller moralischen Urteile und ethi-

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sehen Gefühle verhüllt und den moralischen Irren zwar klinisch, wenn auch nicht ethisch in der Rolle des unmoralischen, selbst verbrecherischen Menschen erscheinen läßt.

Versuchen wir es, die klinischen Merkmale dieses eigentümlichen Defektzustandes zu skizzieren, so tritt als grellste Erscheinung, und für ihn die Signatur abgebend, eine mehr oder weniger vollkommene moralische Insensibilität, ein Fehlen der moralischen Urteile und ethischen Begriffe zu Tage, an deren Stelle die rein aus logischen Prozessen hervorgehenden Urteile des Nützlichen und Schädlichen treten. (...)
Dieser 'sittlichen Farbenblindheit', diesem 'Irresein der altruistischen Gefühle' (Schule) erscheint die ganze Kultur, die ganze sittliche und staatliche Ordnung nur als eine hemmende Schranke für das egoistische Fühlen und Streben, das notwendig zur Negation der Rechtssphäre anderer, und zu Eingriffen in diese führen muß.
Interesselos für alles Edle und Schöne, stumpf für alle Regungen des Herzens, befremden diese unglücklichen Defektmenschen früh schon durch Mangel an Kindes- und Verwandtenliebe, Fehlen aller sozialen geselligen Triebe, Herzenskälte, Gleichgültigkeit gegen das Wohl und Wehe ihrer nächsten Angehörigen, durch Interesselosigkeit für alle Fragen des sozialen Lebens. Natürlich fehlt auch jegliche Empfänglichkeit für sittliche Wertschätzung oder Mißbilligung seitens anderer, jegliche Gewissensregung und Reue. Die Sitte verstehen sie nicht, das Gesetz hat für sie nur die Bedeutung einer polizeilichen Vorschrift, und das schwerste Verbrechen erscheint ihnen von ihrem eigenartigen inferioren Standpunkt nicht anders, als einem ethisch vollsinnigen Menschen die einfache Übertretung einer polizeilichen Verordnung. Geraten sie in Konflikt mit dem einzelnen oder der Gesellschaft, so treten an Stelle der einfachen Herzenskälte und Negation Haß, Neid, Rachsucht, und bei ihrer sittlichen Idiotie kennt dann ihre Brutalität und Rücksichtslosigkeit keine Schranken.

Krafft-Ebing beschließt solche Charakteristik mit der Feststellung: "Auf intellektuellem Gebiet erscheint der Kranke für den, welcher formell logisches Denken, Besonnenheit, planmäßiges Handeln als entscheidend ansieht, unversehrt." Ja, die moralisch Irrsinnigen seien durch "Schlauheit und Energie" gekennzeichnet, "wenn es sich um die Verwirklichung ihrer unsittlichen Bestrebungen" handle, dabei aber "verschroben in ihrem Ideengang".(17)

Zusammenfassend macht Krafft-Ebing drei Kriterien für das moralische Irresein geltend: "(1) die Abstammung von irrsinnigen, trunksüchtigen, epileptischen Erzeugern, (2) den Nachweis von anatomischen und funktioneilen Degenerationszeichen, mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse des Geschlechtslebens als der für die Entwicklung des moralischen Sinnes wichtigsten organischen Grundlage, (3) den

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Nachweis von Erscheinungen krankhaften Verhaltens vasomotorischer (Intoleranz gegen Alkohol etc.) und motorischer Funktionen (speziell der hier häufigen epileptoiden Symptome)." (18)

Aufschlußreich ist in solchem Zusammenhang zudem Cesare Lombrosos Feststellung, angeborenes Verbrechertum und moralisches Irresein seien "nichts weiter als Varianten der Epilepsie", denn "so wie die 'Moral Insanity' mit ihrer höhern Potenz, der angeborenen Kriminalität, verschmilzt, zeigt der epileptische Verbrecher in seinen chronisch gewordenen Ausbrüchen akuter oder larvierter Anfälle die höhere Potenz der 'Moral Insanity'". (19) Lombroso vermerkt des weiteren, daß "das Gesicht bei manchen Verbrechern eine so außerordentliche Masse von Runzeln zeigt, als wäre es sozusagen ein Gitter".(20)

Derartige Ausführungen scheinen wie geschaffen für. eine Anwendung auf Smerdjakow, und doch haben die - isoliert gesehen - identischen Kennzeichen und Symptome bei Dostojewskij eine völlig andere Funktion als im Kontext der Theorien Krafft-Ebings und Lombrosos, die wissenschaftlich zusammenfassen, was Dostojewskij dichterisch bekämpft.

Wie aber ist die Gestalt des gemütskalten Mörders Smerdjakow im Kontext der "Brüder Karamasow" tatsächlich gemeint? - Dostojewskij unterlegt dem Klischee vom typischen Verbrecher, dem man auf Grund bestimmter Merkmale seine Untat ansehen kann, noch ehe er sie begangen hat, einen regelrecht kontradiktorischen Gehalt. Erst die freiheitlich vorgenommene Bejahung des Bösen löst jene körperliche Verfassung aus, die wie eine Erscheinungsform der Entartung aussieht. Kurz gesagt: Nicht die Entartung gebiert das Verbrechen, sondern die Gier nach dem Bösen gebiert die Erscheinungsform der Entartung. In der Welt Dostojewskijs ist der Körper, genauer: der Leib, Organ der Sittlichkeit, Organ der Seele. Der sittliche Abstieg eines Menschen hat seinen unmittelbaren körperlichen Verfall zur Folge. Krankheit ist Indiz für falsches, unmoralisches Bewußtsein.(21)

Dostojewskij konzipiert den Mörder Smerdjakow in einem ganz speziellen Sinne als psychosomatische Ganzheit. Die zunehmende Krankheit Smerdjakows ist kein irgendwie hereinbrechendes Übel, ist nicht Resultat einer negativen hereditären Disposition, sondern unmittelbare Folge verletzter Sittlichkeit. Der Welt Dostojewskijs als der Welt seiner fünf großen Romane liegt eine Metaphysik der Krankheit zugrunde. Die Seele kommuniziert in dieser Welt direkt mit dem Körper, ohne daß das Bewußtsein, das Ich, dazwischengeschaltet werden müßte. Verstößt das Ich gegen das Sittengesetz, sei es in Gedanken oder in Taten, dann erkrankt die Seele im Medium des Körpers - und dies auch dann, wenn sich das Ich gegen die Erkenntnis dieses Sachverhalts abzuriegeln sucht, wie etwa im Falle Smerdjakows.

Diese Überlegung sei an einem Beispiel erläutert: am Beispiel jenes schweren epileptischen Anfalls, den Smerdjakow erleidet, nachdem er Fjodor Karamasow mit einem gußeisernen

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Briefbeschwerer den Schädel eingeschlagen hat. Es sei daran erinnert, daß Smerdjakow ja zunächst einen epileptischen Anfall simuliert, um sich ein Alibi zu verschaffen. Nach vollzogener Tat aber geht der simulierte epileptische Anfall in einen echten über. Smerdjakows Ich, das sich psychologische Rechtfertigungen ausdenkt, hat zwar die Tat ausgehalten, nicht aber seine Seele, die sich im somatischen Geschehen dieses schwersten all seiner Anfälle meldet. Smerdjakow stirbt fast an diesem Anfall auf Grund der unmittelbaren, durch nichts gehemmten Kommunikation der Seele mit dem Körper.

Der körperliche Verfall scheint nun unaufhaltsam zu sein. Und doch heißt es während des zweiten Besuchs Iwans bei Smerdjakow, dieser habe sich von seiner Krankheit vollkommen erholt, sein Gesicht sei plötzlich "frischer" und "voller" (X, 132). Warum? Die Antwort kann nur lauten: Weil Smerdjakow, nachdem er den Mord verübt hat, vor die Möglichkeit gestellt ist, seine Tat zu bekennen und durch Annahme der Strafe in die menschliche Gemeinschaft zurückzukehren, die er durch sein Verbrechen verlassen hat. Für einen Augenblick steht Smerdjakow in der Freiheit, die Gerechtigkeit herzustellen oder nicht. Die Situation dieser Freiheit zieht unverzüglich die körperliche Gesundung nach sich, die aber sofort aufhört und sich zu wachsender Krankheit verändert, nachdem Smerdjakow sich entschlossen hat, seinen teuflischen Plan durchzuführen, der den eigenen Selbstmord einschließt, um Dmitrij ins Unglück zu stürzen und Iwan seinem Gewissen auszuliefern. Durch die soldatische Erschütterung, die auf den Mord folgt, gelangt Smerdjakow, wie mir scheint, zu höchster sittlicher Bewußtheit, deren Imperativ er aber nicht befolgt, weil er des Teufels ist. Smerdjakows sittliche Einsicht führt nur dazu, daß er jetzt auf vollendete Weise böse ist und noch die psychosomatische Unmöglichkeit, weiterzuleben, in den Dienst seiner Bosheit stellt.

Daß Smerdjakow bereits zu Anfang des Romans ein runzliges Gesicht von gelblicher Hautfarbe hat und von epileptischen Anfällen heimgesucht wird, zeigt an, daß er sich immer wieder dem Bösen, das sich in ihm aufstaut, ausliefert. Zwar ist es psychologisch verständlich, daß Smerdjakow auf Grund der Verächtlichkeit, mit der ihn seine Umwelt behandelt, selber böse Reaktionen zeigen möchte; Dostojewskij mutet ihm jedoch zu, solchem Mechanismus zu widerstehen und sich in Gedanken und Taten sittlich zu verhalten, was gleichbedeutend mit seiner körperlichen Gesundung wäre. Es sei nicht vergessen, daß uns Dostojewskij in den "Brüdern Karamasow" ja demonstriert, wie Freiheit angesichts der offenen Bejahung des bösen Wunsches positiv aussieht: Dmitrij hat seine Mordwaffe, einen Mörserstößel, bereits erhoben, um seinem Vater den Schädel einzuschlagen, läßt sie aber plötzlich wieder sinken und läuft davon! Anders Smerdjakow: er überläßt sich seinen bösen Reaktionen, ja, steigert diese schließlich bis zum Mord. Mit einem Wort: Smerdjakows Aussehen ist das objektive Korrelat eines inneren, von der Idee der Sittlichkeit bestimmten Geschehens.

Vom Aussehen Smerdjakows waren wir ausgegangen. Aussehen überhaupt hatten wir bestimmt als Physiognomie, Mimik und

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Gestik, körperliche Verfassung und Kleidung. Es läßt sich nun sagen, warum uns Dostojewskij über die Physiognomie Smerdjakows nichts Konkretes mitteilt, denn sie ist ja die "dauernde körperliche Gestalt eines Menschen" (Jaspers) und damit angeboren. Smerdjakows Aussehen setzt sich nur aus solchen Merkmalen zusammen, die frei gewählt werden können, was auf dem Boden der Metaphysik der Krankheit, wie sie uns Dostojewskij dichterisch veranschaulicht hat, auch für die körperliche Verfassung gilt.

Das Fehlen von Angaben zur Physiognomie als der dauernden körperlichen Gestalt eines Menschen ist nicht typisch für die Zeichnung der anderen drei Mörder in Dostojewskijs fünf großen Romanen: Raskolnikow, Rogoshin und Pjotr Werchowenskij .

Raskolnikow ist von allen Mördern Dostojewskijs der schönste. Gleich zu Anfang von "Schuld und Sühne" heißt es: "Ein Ausdruck tiefsten Ekels huschte für einen Augenblick über die feinen Züge (в тонких чертах ) des jungen Mannes. Übrigens war er bemerkenswert hübsch (замечательно хорош собою), hatte schöne dunkle Augen, war dunkelblond, übermittelgroß, zart und schlank" (тонок и строен, v, 6). Zwar lenkt seine zerlumpte Kleidung von seiner angenehmen Physiognomie ab, doch läßt diese bereits seine Fähigkeit erkennen, durch Annahme der Strafe in die menschliche Gemeinschaft zurückzukehren, die er durch sein Verbrechen verlassen wird.

Rogoshin im "Idioten" ist "klein von Wuchs" mit "gekräuseltem und fast schwarzem Haar" und "grauen, kleinen, doch feurigen Augen". "Seine Nase", so heißt es, "war breit und platt, die Backenknochen traten stark hervor" (лицо скулистое), aber "seine Stirn war hoch und wohlgeformt und verschönte die unedle Bildung des unteren Teils seines Gesichts" (и скрашивал неблагородно развитую нижнюю часть лица, VI, 6). Aus solcher Physiognomie spricht bereits der Mord aus Leidenschaft, aber auch die Annahme der Strafe.

Von Pjotr Werchowenskij in den "Dämonen" heißt es: "Sein Kopf ist nach hinten verlängert (удлинена к затылку) und wie von beiden Seiten zusammengedrückt (как бы сплюснута с боков), so daß sein Gesicht spitz (вострым) erscheint. Seine Stirn hoch und schmal, die Gesichtszüge aber unbedeutend (но черты лица мелки) ; der Blick stechend, die Nase klein und spitz, der Mund breit mit schmalen Lippen. Das Gesicht trägt den Ausdruck der Krankheit, aber der Schein trügt. Eine harte Falte auf den Wangen und neben den Backenknochen verleiht ihm das Aussehen eines Menschen, der eine schwere Krankheit durchgemacht hat. Und doch ist er vollkommen gesund, kräftig und sogar niemals krank gewesen" (VII, 191). Der somatische Ausdruck der Unsittlichkeit wird hier zum puren Schein und zeigt an, daß Pjotr Werchowenskij gegen die Botschaften seiner Seele immun ist.(22)

Wie man sieht, wird die Physiognomie dieser drei Mörder als deren "dauernde körperliche Gestalt" in wesentlichen Punkten genau bezeichnet. Dadurch aber stellt Dostojewskij angeborene körperliche Merkmale in den Dienst des sittlichen

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Geschehens. Die Metaphysik der Krankheit wird so zugunsten einer sofort einleuchtenden Anschaulichkeit der Darstellung, streng genommen, überzogen. Erst die Zeichnung Smerdjakows ist hier vollkommen konsequent, denn was wir über sein Aussehen erfahren, betrifft Charakteristika, die veränderlich sind. Das heißt: Dostojewskij legt den Mörder Smerdjakow in seinem äußeren Erscheinungsbild nicht auf Qualitäten fest, für die dieser nicht selbst verantwortlich gemacht werden könnte. Damit wird dem Gedanken der Freiheit, in der sich nach Auffassung Dostojewskijs jeder Täter unter allen Umständen befindet, auf besondere Weise Rechnung getragen.

Fazit

Dostojewskijs Typologie der kriminellen Persönlichkeit basiert nicht auf deren Determination durch Erbanlage, erworbene Eigenschaften oder Milieu, sondern einzig auf der Fähigkeit oder Unfähigkeit des Täters, seine Tat auszuhalten. Der Vollzug der Tat zieht Krankheit nach sich, die sich bereits vor der Tat, ausgelöst vom Gedanken an die Tat, ankündigt. Man könnte sagen: durch den Vollzug der Tat kommt die Krankheit, die der Gedanke an die Tat selber schon ist, zum Ausbruch. Dostojewskijs Typologie der kriminellen Persönlichkeit hat die Auswirkungen dieser unausbleiblichen Folge des begangenen Verbrechens auf den Täter zur Grundlage. Sie ist eine Typologie post festum im Unterschied zu den Typologien ante festum, wie sie sein Jahrhundert aufstellte. In der Welt Dostojewskijs hat der Täter nach vollzogener Tat drei Möglichkeiten, sich zu verhalten: entweder (1) er kehrt durch Annahme der gesetzlich vorgesehenen Strafe in die menschliche Gemeinschaft zurück oder (2) er verläßt Rußland, den Ort der Sittlichkeit, und geht ins Ausland oder (3) er scheidet durch Selbstmord aus der Welt aus. Jeder dieser drei Möglichkeiten ist ein Tätertypus zuzuordnen. Raskolnikow gehört zum ersten Typus (wie auch Rogoshin), Pjotr Werchowenskij gehört zum zweiten Typus und Smerdjakow zum dritten. Jeder der drei Typen ist durch ein bestimmtes Verhältnis zur Krankheit gekennzeichnet. Raskolnikow gesundet, Pjotr Werchowenskij ist immun gegen Krankheit, Smerdjakow provoziert seine Krankheit und begeht Selbstmord.

ANMERKUNGEN

  1.  Sämtliche Hinweise auf das Werk Dostojewskijs beziehen sich auf die Ausgabe: Dostoevskij, Sobr. soè. v 10 tt. , Moskau 1956-1958.
  2.  Vgl. B. A. Morel: Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l'espèce humaine et des causes, qui produisent ces variétés maladives, Paris 1857.
  3.  Prichard selbst beruft sich auf Pinel sowie auf Reil und Hoffbauer. Vgl. J. C. Prichard: A Treatise on Insanity and Other Disorders Affecting the Mind, London 1835. Zur Biographie vgl. "James Cowles Prichard", in: Richard Hunter and Ida Macalpine (eds.): Three Hundred Years of Psychiatry, 1535-1860. A History Presented in Selected
     


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    English Texts, Hartsdale, New York 1982. Zum größeren Zusammenhang vgl. Dietrich von Engelhardt: "Sittlichkeitsdelinquenz in Wissenschaft und Literatur der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts", in: Sexualität und soziale Kontrolle. Beiträge zur Sexualkriminologie, hrsg. von E. Hess, H. U. Störzer und F. Streng, Heidelberg 1978, S. 141-168. Des weiteren: Werner Leibbrand und Annemarie Wettley: Der Wahnsinn, Geschichte der abendländischen Psychopathologie, München 1961. Speziell zu Dostojewskij jetzt: James L. Rice: Dostoevsky and the Healing Art. An Essay in Literary and Medical History, Ann Arbor 1985.
  4.  Vgl. R. von Krafft-Ebing: Die Lehre vom moralischen Wahnsinn, 1871; ders.: Grundzüge der Kriminalpsychologie, Erlangen 1872; ders.: Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studierende, 3 Bde., Stuttgart 1879; ders.: Psychopathia Sexualis mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung, Stuttgart 1886. Zur Einordnung der Forschungen Krafft-Ebings aus heutiger Sicht vgl. Wolfram Schmitt: "Das Modell der Naturwissenschaft in der Psychiatrie im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert", in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 6 (1983), S 89-101.
  5.  Vgl. C. Lombroso: L'Uomo delinquente in rapporto all'antropologia, giurisprudenza e alle discipline carcerarie, Turin 1876. Des weiteren vgl. Hans Kurella: Cesare Lombroso als Mensch und Forscher, Wiesbaden 1910.
  6.  Vgl. hierzu H.-J. Gerigk: "Die zweifache Pointe der 'Brüder Karamasow'. Eine Deutung mit Rücksicht auf Kants 'Metaphysik der Sitten'", in: Euphorion, 69 (1975), S. 333-349.
  7.  Vgl. K. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 9. Aufl., Berlin, Heidelberg, New York 1973, S. 219.
  8.  Vgl. K. Jaspers, op. cit., S. 219.
  9.  Vgl. K. Jaspers, op. cit., S. 221.
  10.  Vgl. K. Jaspers, op. cit., S. 226.
  11.  Vgl. K. Jaspers, op. cit., S. 226.
  12.  Vgl. K. Jaspers, op. cit., S. 219.
  13.  Genauer gesagt: Die ersten neun Bücher der Brüder Karamasow schildern nach einer expositionsartigen Einführung dreieinhalb aufeinanderfolgende Tage Ende August des Jahres 1866. Die Geschehnisse des zehnten und elften Buches fallen auf einen Sonntag Anfang November desselben Jahres. Das zwölfte Buch beschreibt die Gerichtsverhandlung am nachfolgenden Montag. Der Epilog skizziert den fünften Tag nach Dmitrijs Verurteilung. Vgl. dazu H.-J. Gerigk: "Text und Wahrheit. Vorbemerkungen zu einer kritischen Deutung der 'Brüder Karamazov'", in: Slavistische Studien zum VI. Internationalen Slavistenkongreß in Prag 1968, hrsg. von E. Koschmieder
     
     

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      und M. Braun, München 1968, S. 331-348.
  14.  Die "Gier" nach dem Bösen, die dieses um seiner selbst willen will, wird zum zentralen Begriff während des dritten Gesprächs zwischen Iwan und Smerdjakow (жажда эта меня всего захватила, X, 151).
  15.  Vgl. Vladimir F. Èiž, der in Smerdjakow, dem Mörder, einen "geborenen Verbrecher" sieht, der aus Habgierseine Tat begehe, in Smerdjakow, dem Selbstmörder, aber den Epileptiker, der dem Leben nichts mehr abgewinnen kann. Vgl. V. F. Èiž": "Dostoevskij kak kriminolog", in: Vestnik prava, 31 (1901), Nr. 1, S. 1-43. Zu Smerdjakow insbesondere S. 34.
  16.  Vgl. R. von Krafft-Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studierende, 3 Bde., Stuttgart 1879, Bd. II: Die spezielle Pathologie und Therapie des Irreseins, S. 63-66.
  17.  Vgl. R. von Krafft-Ebing, op. cit., Bd.II, S. 66.
  18.  Vgl. R. von Krafft-Ebing, op. cit., Bd.II, S. 68-69.
  19.  Vgl. C. Lombroso: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. In deutscher Bearbeitung von Dr. M. 0. Fraenkel, Hamburg 1887, s.521
  20.  Vgl. C. Lombroso: Der Verbrecher, Bd. II, Hamburg 1890, S. 386.
  21.  Zur Funktion der Krankheit in Dostojewskijs fünf großen Romanen vgl. H.-J. Gerigk: "Die Gründe für die Wirkung Dostojewskijs", in: Dostoevsky Studies, 2 (1981), S. 10-13.
  22.  Vgl. hier die Feststellung Lombrosos (Der Verbrecher, Bd. II, Hamburg 1890, S. 384): "Jochbeinfalte nennen wir eine doppelte oder dreifache Falte auf der Mitte der Wange über dem Jochbein, die, 3 - 5 cm lang, von oben nach unten verläuft, gegen den Mund zu ein wenig konkav und sich nach unten in die Kinnrunzeln verliert. (...) Wir halten sie (...) für die den Verbrecher am schärfsten bezeichnende Falte." Lombroso selbst fügt hinzu, diese Jochbeinfalte werde bereits von Lavater (La Physiognomie, Paris 1841) als negatives Charakteristikum kenntlich gemacht. Hans Kurella (Cesare Lombroso als Mensch und Forscher, Wiesbaden 1910, S. 37) macht darauf aufmerksam, daß Lombroso diese für den Verbrecher typische Falte als "ride du vice" bezeichnet habe.
University of Toronto