Die "Gerechten" und "Stillen im Lande": Zur Kirchenkritik des 19. Jahrhunderts bei Leskov und Dostoevskij.
Konrad Onasch, Martin-Luther-Universität Halle (DDR)
Im Rahmen dieses Symposiums soll nicht in extenso auf die religiösen Gestalten im Werk Leskovs eingegangen werden. Dazu liegen Arbeiten von L. Müller, M. L. Rössler, I. V. Soljarova, Zielinsky u.a. vor.(1) Wir wollen vielmehr aus einem Vergleich beider Dichter möglicherweise bestimmte Erkenntnisse über ihre poetischen Auffassungen und ihre Arbeitsweisen erhalten. Dabei stimmen wir mit E. M. Pul'chritudova darin überein, daß sich auf dem Felde ethischer Problematik tiefe Unterschiede in den Grundauffassungen und in der künstlerischen Darstellung bei Leskov und Dostoevskij ergeben, nur kommen wir von anderen Voraussetzungen auf anderen Wegen zu diesem Ergebnis.(2)
Der Typus des "Gerechten" mit seinem Vorbild in der Fürsprache Abrahams für Sodom (Genesis 18, 16-32) spielt bekanntlich bei Leskov eine herausragende Rolle. Wir wollen diesen literarischen Charakter mit dem der "Stillen im Lande" vergleichen. Sie erscheinen zwar weder bei Dostoevskij noch bei Leskov unter dieser Bezeichnung, aber doch ihrem Wesen nach. Hinzu kommt, daß sie der Spezifik des "Gerechten" ein schärferes gesellschaftliches und poetisches Profil geben. Wenn zunächst ein kleiner kirchengeschichtlicher Exkurs gestattet ist: Bei den "Stillen im Lande" handelt es sich um Gruppenbildungen innerhalb der Großkirche, die, zunächst aus Protest gegen diese entstanden, zunehmend in passive Frustration übergegangen sind.(3) In der Kirchengeschichte erscheinen sie als "Versammlungen", "Collegia Pietatis", "Ecclesiola in Ecclesia" u.a. Sie sind in allen voll institutionalisierten Religionen und Konfessionen anzutreffen. Man denke nur an die Chassidim im Ostjudentum, die Sufis im Islam oder die Hesychasten in der Ostkirche. Innerhalb der protestantischen Kirche hat sich das tschechische Taboritentum nach seiner Niederlage in den "Böhmischen Brüdern" eine echte "Ecclesiola in Ecclesia" geschaffen, während für den späteren Barockpietismus und die Erweckungsbewegung der soziale Typus der "Collegia pietatis" und der "Versammlungen" mit ihren Bibelstunden signifikant wurde.(4) In ihrem Mittelpunkt stand nicht die Interpretationsautorität der Kirche, sondern die "innere Autorität" (K. Barth) des frommen Individuums, das die sittlichen Postulate der Kirche verinnerlichte und in personal motivierte sozialethische Aktivitäten des Frommen umsetzte. Der "inneren Autorität" des Einzelnen entsprach die "innere Separation" solcher Gemeinschaften. Im Gegensatz zu Häretikern oder Abspaltungen wie die Altritualisten bewegte sich das Verhältnis der "Ecclesiola" zur Großkirche immer auf dem, wenn auch oft schmalen Konsens mit der letzteren. Daraus ergab sich eine innerkirchliche, oder wie man heute zu sagen pflegt: "systemimmanente" Kritik der "Ecclesiola" an der "Ecclesia". Sie fand ihren schärfsten Ausdruck in der "Abfalltheorie" wie sie Gottfried Arnold (1666-1744) in seiner
Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie von 1699 konsequent durchgeführt hat. Zugleich zeigt
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seine Darstellungstechnik des "point-de-vue", die Kirchengeschichte nicht von den Höhen ihrer hierarchischen Struktur zu sehen, sondern "von unten", aus der Sicht der Unterdrückten, Verspotteten und Verfolgten, jene im weitesten Sinne pikaresken Züge, wie wir sie im engeren Sinne aus zahlreichen Beispielen der Barockliteratur kennen, und wie sie für unsere Überlegungen von Bedeutung sind.
Es ist nicht möglich, hier auf alle Erscheinungen dieser soeben charakterisierten Alternativkirche auch in der orthodoxen Kirche einzugehen. Der kurze Hinweis auf den Hesychasmus mag genügen. Dagegen wollen wir, wenn auch mit gebotener Kürze, auf jene "Stillen im Lande" eingehen, die Dostoevskij und Leskov unmittelbar bekannt geworden waren und, wenngleich in unterschiedlicher Weise, von ihnen dichterisch reflektiert worden sind. Gemeint sind die südrussischer! Duchoborzen, Molokanen und Stundisten.(5) Sie gehen mehr oder weniger direkt - am stärksten die Stundisten - auf die verschiedenen Gruppierungen der deutschen Erweckungsbewegung und des Wiedertäufertums zurück, wie sie sich unter den deutschen Kolonisten in Südrußland formiert hatten, und zeigen alle jene, von uns geschilderten Charakteristika. Dostoevskij hat die Stundisten abgelehnt, weniger aus religiösem, als aus nationalem Empfinden heraus. Anders Leskov in seiner Erzählung über den "Unsterblichen Golovan" von 1873. Er erweckt beim Leser zunächst den Eindruck, als ob der "Golovan" ein Molokane sei, um später zu sagen, daß dieser Eindruck täusche. Indem er seinen Helden dadurch einer konfessionellen Determination entzieht, verleiht er ihm jene Züge, die man als die unverwechselbare allgemeingültige, weil "humanitäre Hagiographie" Leskovs bezeichnen kann. Sie arbeitet auf der einen Seite mit deutlich traditionellen hagiographischen Topoi, so, wenn der Dichter sich wie in einer klassischen Vita, den Autor gleich am Anfang der Erzählung über den "Unsterblichen Golovan" mit dem Demuts- und Unzulänglichkeits-Topos vorstellt. Es fehlen auch nicht die Schemata der Versuchung eines Heiligen in Gestalt der Pavla als "Golovans Sünde" und die von ihm getanen Wunder. Aber alle diese rätselhaften Ereignisse werden auf einfache und menschliche Art erklärt, denn "die 'Heiligkeit' Golovans liegt nicht in seiner Unsterblichkeit, sondern in seiner irdischen Gerechtigkeit" (Bodo Zelynski). Das kommt u.a. auch dadurch zum Ausdruck, daß der natürlichen Qualität der humanitas die institutionalisierte und manipulierbare Heiligenverehrung der Kirche entgegengestellt wird.(6)
Wie viele andere religiös orientierte russische Intellektuelle des 19. Jahrhunderts durch ein starkes Unbehagen an der lehrmäßigen und sozialen Unbeweglichkeit der orthodoxen Kirche motiviert, war Leskov auf der Suche nach alternativen Möglichkeiten auch unter heterodoxen Gruppen. So z. B. in den Bibelversammlungen des Lord Radstock, den er bald einer scharfen, im übrigen durchaus auf dem Boden traditioneller orthodoxer Lehre sich bewegenden Kritik unterzog. Nicht unähnlich den Auffassungen des ihm wohl unbekannten Gottfried Arnold machte er zugleich die Kirche selbst für die Abspaltungen und Sekten verantwortlich. Mehr noch: Er fand in jenen Gruppierungen wichtige Elemente einer humanitären Religiosität. Die im Kern protestantisch-erweckliche Vorstellung von der "inneren Autorität" des frommen Individuums gegenüber der äußeren Autorität der Kirche erhielt bei Leskov eine bedeutsame anthropologische Qualität in der
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allen Menschen gemeinsamen, in den "Gerechten" am reinsten sich offenbarenden humanitas. Es bleibt festzuhalten, daß die Gestalt Christi als höchstes Ideal dieser humanitas dabei kaum eine Rolle spielte. Wie vielen anderen Gebildeten seiner Zeit waren auch Leskov solche Charaktere aus der kirchenkritischen westlichen Literatur, (Voltaire, Büchner, Proudhon, Feuerbach u.a.), bekannt. So finden sich im "Unsterblichen Golovan" Einflüsse aus Victor Hugo's
Les travailleurs de la mer, in der Klerisei aus Goldsmith's The Vicar of Wakefield und Balzac's
Le curé de Tours möglicherweise auch Hugo's Gestalt des Bischofs Myriel in seinen
Les misérables, die auf Dostoevskij's
Brüder Karamazov eingewirkt hat.(7) Während die anthropologische Motivation in den "Gerechten" Leskovs u.a. durch die, auch Dostoevskij bekannten Arbeiten Buslaevs starke Anregungen erhielt,(8) wird man die des damaligen französischen Modeschriftstellers Ernest Renan und seiner
Vie de Jésus nur gering veranschlagen dürfen. Jedenfalls gibt die künstlerische und sittliche Ernsthaftigkeit der Gestalten Leskovs für einen tiefer gehenden Einfluß des Franzosen keine Veranlassung. Das gilt auch für die Anwendung der erwähnten pikaresken Perspektive. Der Blick von unten in die erstarrten Strukturen hierarchisierter Institutionen, wie sie Leskov im
Kadetskij monastyr' und in den Soborjane von den Standpunkten seiner "Gerechten" in ihnen den Leser tun läßt, geht weit hinaus über die manierierten religiösen Attitüden der Gestalten in Renans Roman, - über dessen kultur- und theologiegeschichtliche Bedeutung im übrigen keine Zweifel bestehen.
Vergleicht man Leskov mit Dostoevskij, dann lassen sich Gemeinsamkeiten relativ schnell feststellen und auf einen kurzen Nenner bringen: Im Sinne des orthodoxen Bildungschristentums des 19. Jahrhunderts und motiviert durch Enttäuschungen an der eigenen Kirche entwerfen beide in ihren Dichtungen die Vision einer Alternativkirche, die Chomjakov - wie Leskov und Dostoevskij auch ein "Stiller im Lande!" - als "communion d'amour" beschrieben hat.(9) Die
Unterschiede zwischen beiden Dichtern lassen sich wie folgt aufzeigen: Im Werk Leskovs ist die orthodoxe Kirche als Institution konkret gegenwärtig. Ohne diese, ihre "Realpräsenz", bliebe die Dichtung Leskovs, mit dem von ihm geschaffenen literarischen Typ des russischen orthodoxen Priesters, undenkbar. Im Gegensatz dazu spielt die orthodoxe Kirche als Institution in der Dichtung Dostoevskij's keine Rolle. Der Priester, der dem sterbenden Marmeladov die Sakrament reicht, gibt weder zu positiven noch negativen Deutungen Anlaß. Die Kirche, in der Aleša Karamazov die Pannychide für
Iljušenka hält, kann kaum als typisch orthodoxer Kirchenbau gehalten werden. Eigentümlich unkonkret - jedenfalls wenn man damit die oft derben Schilderungen des Klosterlebens in Leskovs
Oèarovannyj strannik vergleicht - bleiben auch die Einblicke in das Klosterleben in den
Brüdern Karamazov, so daß man eher von der Idee der russischen orthodoxen Kirche und ihrer Klöster sprechen kann, als von ihrer konkreten Situation im 19. Jahrhundert. Den Grund für diesen bedeutsamen Unterschied zwischen Dostoevskij und Leskov wird man darin zu sehen haben, daß für den ersteren anders als für Leskov die gedankliche (noetische) Wirklichkeit im Verhältnis zur gegenständlichen eine größere Bedeutung besaß.(1O) Daraus ergeben sich Konsequenzen im Hinblick auf die unterschiedliche
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Darstellungstechnik. Die Verbindung von hagiographischen Prototypen mit der hohen Begabung für die Wiedergabe ausgeprägter Charaktere im täglichen Leben durch Leskov führte bei ihm zum Typus geschlossener Personenfiktionen, deren intensive Individuation produktive Figurenfiliationen nicht mehr ermöglichte ("Heiliger als heilig kann niemand sein"). Für den Leser bedeutet das im Ergebnis, daß er vor den "Gerechten" Leskovs großen Respekt empfindet. Aber sie sind "starye ljudi", Menschen aus "Stargorod". In diesem Sinne bleiben sie unvergeßlich.
Völlig anders bei Dostoevskij. Der Leser hat bei seinen Gestalten den Eindruck, daß ihre Probleme auch seine sind, jedenfalls in entschieden unmittelbarerer Weise als bei denen Leskovs. Hierfür sind zwei, miteinander zusammenhängende Gründe anzugeben: 1. Dostoevskij's erwähnte Einstellung zum Verhältnis der konkreten Realität zur gedanklichen Wirklichkeit. Daraus folgt 2., daß bei Dostoevskij biblische und hagiographische Vorbilder, einschließlich der Person Christi, auf seiner Suche nach literarisch effektiven Typen einem komplizierten Prozeß gedanklicher Problematisierung unterworfen wurden. Die dadurch ermöglichte Überwindung konfessioneller, dogmatischer und hagiographischer Determinationen,(11) die Auflösung unmittelbarer Identitäten zugunsten mittelbarer Analogien versetzte Dostoevskij in den Stand, geschlossene Charaktere von Innen her in Frage zu stellen und sie in offene zu transformieren.(12) Aus der Fülle von Ideen und Gestaltenfiliationen können hier nur zwei erwähnt werden. Eine Vertreterin dessen, was wir die "Stillen im Lande" genannt haben, ist Sonja Marmeladova. Raskolnikov nennt sie in der Lazarus-szene zusammen mit der auch von ihm ermordeten Schwester der Pfandleiherin, Lizaveta, "jurodivye". Er weiß, daß beide "tainstvennye schodki" besuchen, wo Bibelstunden gehalten werden. (13) Aus einer der dort verteilten Bibeln liest Raskolnikov die Lazarusgeschichte vor. Dostoevskij reflektiert hier auf die Bibelstunden Paškovs, der unter dem Einfluß des bereits erwähnten Lord Radstock stand.(14) Indessen: Dostoevskij hat neben den Gestaltenreihen, die in Sonja und Myškin ihre dichterische Vollendung fanden, vom "Kleinen Helden" von 1857 an einen zweiten alternativen Typus in harter Arbeit entwickelt, den jungen Menschen, den "podrostok". über ihn schreibt der Dichter in einem Brief vom 21. Juli 1878: Die russische Jugend "sucht die Pravda mit der Kühnheit des russischen Herzens und Verstandes, sie hat nur ihre Führer verloren."(14a) Mit diesem Typus löste sich Dostoevskij von den pikaresken Schemata, die er in den "jurodivye" Sonja und Myškin, aber auch in Arkadij Dolgorukij(15) noch einmal exemplarisch durchgespielt hatte, und findet "per viam affirmationis" zu einer, bewußt der Zukunft zugewandten Gestaltengruppe, die sich bezeichnenderweise um die Nachfolgegestalt Myškins, Aleša Karamazov, sammelt.(16)
Blieb Leskov gewissermaßen auch als Dichter ein "Spezialist und Experte in Fragen der Orthodoxie" (Leskov. Specialist i ekspert v pravoslavii)(17) - wie ihn Dostoevskij einmal respektvoll-ironisch nennt, - so wurde die orthodoxe Kirche beim letzteren Gegenstand problematisierenden Nachdenkens im Hinblick auf das für ihn einzig existierende Ideal Christus. Ganz anders als Leskov konnte Dostoevskij diesen Christus als vollendeten "Stillen im Lande" dem Repräsentanten einer voll insti-
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tutionalisierten Kirche, gleich welcher Konfession, dem Großinquisitor gegenüberstellen. Dieser Christus aus dem "Poem" (78) ist dann auch der "kamen", auf den, nach der freien Interpretation von Matth. 16, 18 durch den Dichter,(19) Aleša Karamazov die alternative Kirche der "podrostki", der Zukunft, gründet, die sich von der der "starye ljudi" unterscheidet. Oder wie es Dostoevskij Vladimir Solovev gegenüber 1878 auf der gemeinsamen Reise nach Optina Pustyh' zum Ausdruck gebracht hat: "Die Kirche als ein positives gesellschaftliches Ideal (položitel'nyj obšèestvennyj ideal) soll als Zentralidee eines neuen Romans, oder einer neuen Romanreihe erscheinen, von welcher die Brüder Karamazov nur der zuerst geschriebene ist." (20)
ANMERKUNGEN
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14a. Pis'ma IV, 34.
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