Zu den Teufelsgestalten bei Thomas Mann und Fedor Dostoevskij
Michael Wegner, Jena
"Satan sum et nihil humanum a me alienum puto!
Immer wieder interessiert sich die internationale Forschung Fedor Dostoevskijs geistige Ausstrahlung im 20. Jahrhundert.(1) Offenbar hängt dies mit der Wirkung dieses Autors auf die geistigen und literarischen Prozesse in unserem Jahrhundert zusammen, einer Wirkung, die - wie namhafte Schriftsteller in den letzten Jahrzehnten wiederholt bezeugten(2) - nach wie vor ungewöhnlich stark ist. Es dürfte in der Tat nur wenige Autoren aus der Vergangenheit geben, die in diesem Sinne lebendig geblieben sind. Auch die Literaturgeschichte kennt ihre Fried - alles in allem - wohl immer größer
geworden. Dostoevskij gehört aber fraglos zu den schriftstellerischen Persönlichkeiten, die ihre Anziehungskraft nicht eingebüßt haben. Soviel wir jedoch über die Rezeption Dostoevskijs in unserem Jahrhundert auch schon wissen, über die Transformation seiner Ideen, seiner Figuren, seines Erzählstils im Schaffe anderer Autoren, so muß man doch sagen, daß insgesamt gesehen Erforschung des Dostoevskijschen Einflusses auf die
Literatur 20. Jahrhundert erst am Anfang steht. Diese Feststellung
vor allem dann, wenn es sich darum handelt, die tieferen Schichten der Wirkung Dostoevskijs sichtbar zu machen und den konkreten künstlerischen Niederschlag der Begegnung mit Dostoevskij im poetischen Werk des Rezipienten darzustellen. Hier beginnen namentlich für die vergleichende Literaturwissenschaft ihre originären Aufgaben, die freilich - wer wollte dies bestreiten – schwirig genug zu bewältigen sind.
Die Beziehung Thomas Manns zur russischen Literatur sind längerem ein bevorzugter Gegenstand vergleichender Studien.(3) Das kann nicht überraschen, ist doch Thomas Mann derjenige deutsche Romancier, der - wie kaum ein anderer aus seiner Generation - zeit seines ganzen Lebens mit der russischen Literatur. Diese inneren Beziehungen zur russischen bedeuteten Thomas Mann sehr viel, und er zögerte nicht, sein Verhältnis zur poetischen Welt der Russen bekennerhaft als "eine lebenswichtige Angelegenheit ... von geistig vitaler Bedeutung" zu bezeichnen.(4) So stellt sich denn auch Thomas Mann als eine Art von "Schlüsselfigur" in dem vielschichtigen Komplex der Beziehungen deutschsprachiger Autoren zur russischen Literatur im 20. Jahrhundert dar. Selbstverständlich ist manches an seiner Begegnung mit der russischen Literatur einmalig und unverwechselbar, doch kann wiederum vieles als durchaus charakteristisch für das Verhältnis auch anderer deutscher Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum schriftstellerischen Werk der Russen angesehen werden. Dieser Umstand erklärt sicher zu einem maßgeblichen Teil das starke Interesse der Forschung an der genannten Thematik, die jedoch in ihrer wissenschaftlichen Behandlung immer noch einige Desiderata aufweist. So lohnte es sich zum Beispiel den Beziehungen Thomas Manns zu Gonèarov und Leskov nachzugehen, von deren erzählerischem Werk Thomas Mann sehr viel hält und deren Lektüre
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in seinem Schaffen nachweisliche Spuren hinterlassen hat. Das gilt vor allem auch für Dmitrij Merežkovskij, von dem wir zwar wissen, daß seine Urteile über die russische Literatur Thomas Manns Bild von dieser Literatur sehr stark beeinflußt haben, dessen Ideen aber auch Eingang gefunden haben in das poetische Werk Thomas Manns, so etwa in den Romanzyklus der 30er Jahre "Joseph und seine Brüder", der unter diesem Aspekt noch nicht hinreichend untersucht worden ist.
Auch die Teufelsproblematik bei Thomas Mann und Fedor Dostoevskij dürfte zu den Gegenständen gehören, denen sich die vergleichende Foschung intensiv zuwenden müßte. Ihre Relevanz für das tiefere Verständnis von Thomas Manns Spätwerk stand nie in Frage. Unmittelbar nach dem Erscheinen des "Doktor Faustus"-Romans Thomas Manns Ende 1947 wurden bereits die Teufelsgespräche im "Doktor Faustus" zu dem Teufels-Kapitel in Dostoevskijs "Brat1ja Karamazovy" in Beziehung gesetzt (gemeint ist das 9. Kapitel "Èert. Košmar Ivana Fedorovièa" im 11. Buch des Romans). In der Darstellung der Teufelsproblematik waren Korrespondenzen zwischen Thomas Mann und Dostoevskij in der Tat recht augenfällig, zumal sich Thomas Mann selber zu diesen Affinitäten ausdrücklich bekannte. Im Brief an Walter-Landau vom 7. 3. 1950, die in einer Studie über den "Doktor Faustus"-Roman gerade diesen Zusammenhängen nachgegangen war, schrieb er: "Ihre Parallelisierung des Teufelskapitels aus 'Dr. Faustus' mit Iwan Karamasows Vision ist interessant - nicht weniger, weil sie schon mancher Kritiker gezogen hat. Der Vergleich liegt ja nahe, und ich glaube, er wird
nie ganz zu meinen Ungunsten ausfallen, weil ja der 'Engel des Giftes1, der 'Versucher' und 'Enthemmer' in meinem Roman eine viel zentralere Rolle spielt und mehr Realität hat. Er sitzt ja nicht unversehens dort auf dem Sofa, sondern ist, sich immer deutlicher anmeldend, in dem Buch eigentlich von Anfang an gegenwärtig, ebenso wie das Motiv der Kälte, das dem armen Serenus durch den Charakter seines Freundes nur zu vertraut ist und erst in der Teufelsszene physisch wird. Auch führt dieses Gespräch weiter in moderne Probleme künstlerischer, kultureller, moralischer Art hinein. Ferner bleibt die Frage der Objektivität des Gesprächspartners zweifelhafter. Es kann sein, daß Adrians Gehirnzustand ihm seine Erscheinung vorspiegelt, kann aber auch sein, daß er es ihm
ermöglicht, ihn zu sehen ..."(5)
Es kann als erwiesen gelten - und das ist für vergleichende Studien nicht unwichtig -, daß Thomas Mann beim Abfassen des "Faustus"-Romans, der für ihn nichts Geringeres als der Roman seiner Epoche war,(6)
bewußt auf Dostoevskijs "Brat'ja Karamazovy" und hier insbesondere auf das Teufelskapitel - zurückgegriffen hat, wie übrigens auch auf den "Besy"-Roman.(7) "Brat1ja Karamazovy" gehörten zu den zahlreichen literarischen Quellen des "Faustus"-Romans.(8) Thomas Mann hat den Roman Dostoevskijs immer wieder gelesen. Seine Tagebücher aus den verschiedensten Schaffensperioden belegen dieses Lektüre. Besonders intensiv scheint die Lektüre Dostoevskijs wie auch anderer russischer Autoren (Tolstoj, Gogol', Leskov) in den ersten Jahren des Aufenthaltes in den USA gewesen zu sein, wohin Thomas Mann im September 1938 übersiedelte. Dem amerikanischen Exil ging eine Vortragsreise voran, die ihn vom Februar bis Juli 1938 in fünfzehn amerikanische Städte geführt hatte. Unter dem Datum 14. 2. 1938 vermerkt Thomas Mann, daß er die entsprechenden Dostojewski-Bände für die Reise ausgewählt habe.(9) In den Tage
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buchaufzeichnungen der Jahre 1938 bis 1943 ist immer wieder von Dostoevskij-Lektüre die Rede (mehrere Erzählungen, "Der Spieler", "Der Idiot", "Die Brüder Karamasow", "Die Dämonen", "Erniedrigte und Beleidigte", "Das Dorf Stepantschikowo", "Werdejahre" ['"Der Jüngling"] , "Schuld und Sühne") . Bei der Lektüre einzelner Werke Dostoevskijs erinnert sich Thomas Mann an frühere Leseeindrücke. Dies belegt die folgende Tagebuchnotiz, die unsere besondere Aufmerksamkeit findet, weil sie erkennen läßt, was Thomas Mann bei der Lektüre von Dostoevskijs "Brat'ja Karamazovy" speziell interessierte, unter dem Datum 14. 4. 1939 notiert Thomas Mann: "Die Karamasows zu Ende gelesen. Unbegreifliches Fehlen der Begegnung Iwans mit dem Teufel im 24. Band der Werk-Ausgabe. Auch die Stelle nicht zu finden, wo die Wiederkunftslehre antizipiert." (10) So macht schon diese Tagebuchaufzeichnung deutlich, daß Thomas Mann seine Lektüre des Dostoevskijschen Romans unter besonderen Gesichtspunkten betrieb. Der Roman war für ihn entschieden mehr als nur eine willkommene Begegnung mit einem Buch, das man aus Gründen der Belesenheit einfach kennen mußte. Vielmehr reaktivierte Thomas Mann mit der erneuten Lektüre von "Brat'ja Karamazovy" seine früheren Leseeindrücke, um sie für seine Schaffensabsichten produktiv zu machen. Im konkreten Falle interessierten ihn ganz bestimmte ideelle und strukturelle Elemente der "Brat1ja Karamazovy" für die Abfassung des "Doktor Faustus"-Romans, den er im Mai 1943 niederzuschreiben beginnt. Indirekt läßt sich das mit Selbstzeugnissen des Schriftstellers belegen, so vor allem mit dem im Jahre 1949 geschriebenen autobiographischen Essay "Die Entstehung des Doktor Faustus", den Thomas Mann den "Roman eines Romans" nennt.(11) In diesem Essay werden an mehreren Stellen die literarischen Quellen reflektiert, die der Autor im Entstehungsprozeß des "Doktor Faustus"-Romans rezipierte. Mehrfach kommt Thomas Mann auf Dostoevskij zu sprechen und die folgende Aussage läßt erkennen, wie nahe der russische Erzähler Thomas Mann gerade in den vier Jahren gestanden hat als er am "Doktor Faustus" arbeitete (Mai 1943 bis Januar 1947): "Die im Zeichen des Faustus stehende Lebensepoche zeitigte ein entschiedenes Vorwiegen des Interesses an Dostojewskijs apokalyptisch-grotesker Leidenswelt vor der sonst tieferen Neigung zu Tolstois homerischer Urkraft."(12) Ist in dem Selbstbericht Thomas Manns über die Entstehung des "Faustus"-Romans von Dostoevskij im allgemeinen Sinne die Rede, so belebt der in den Jahren 1945/46 geschriebene Essay "Dostojewski - mit Maßen. Einleitung zu einem amerikanischen Auswahlband Dostojewskischer Erzählungen", den Thomas Mann also parallel zur abschließenden Genesis des Romans abfaßt, die unmittelbare geistige Auseinandersetzung des Schriftstellers mit Dostojewskis bilanzziehenden Romanwerk und speziell mit seinem Teufelskapitel. Die Idee der "ewigen Wiederkehr" aufgreifend, verweist Thomas Mann auf Ivan Karamazovs Gespräch mit dem Teufel und zitiert die folgende bekannte Stelle aus diesem Gespräch: "Ja, du denkst immer an unsere jetzige Erde!" sagt der Teufel. "Aber unsere jetzige Erde hat sich vielleicht selbst
billionenfach wiederholt; nun, sie ward altersschwach, sie vereiste, sprang entzwei, fiel auseinander, zersetzte sich in ihre Elemente, wiederum war das Wasser 'über dem Festen', darauf wiederum der Komet, wiederum aus der Sonne die Erde - diese Entwicklung wiederholt sich ja vielleicht schon unendlich oft,
und alles auf eine und dieselbe Weise bis zum kleinsten Stückelchen... das ist ja die allerunanständigste Langeweile!"(13)
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Lassen schon die genannten Selbstzeugnisse Thomas Manns den Schluß zu, daß er sein Wissen aus den gelesenen "Brat1ja Karamazovy" für die Arbeit am "Faustus"-Roman ganz gezielt reaktivierte, so kann man diesen Vorgang völlig verifizieren, wenn man sich die Dostoevskij-Texte genauer betrachtet, die Thomas Mann für die Abfassung seines epischen Spätwerkes und des Essays über Dostoevskij verwendete. Die Texte sind glücklicherweise vorhanden und befinden sich im Thomas-Mann Archiv in Zürich. Dort wird die persönliche Bibliothek Thomas Manns mit ihren beträchtlichen Beständen an russischer Literatur aufbewahrt.(14) Darunter befindet sich die große Dostoevskij-Edition des Insel-Verlages, die Thomas Mann nachweislich für seine schriftstellerische Arbeit nutzte.(15)
Thomas Mann hat die Lektüre anderer Autoren häufig so betrieben -und das nimmt der Forscher selbstverständlich dankbar zur Kenntnis -, daß er die gelesenen Werke mit Anmerkungen und Anstreichungen versah. Eine Lektüre "mit dem Bleistift", so hat Thomas Mann diese für ihn charakteristische Art des Lesens bezeichnet. Sehr viele Werke aus der Nachlaßbibliothek Thomas Manns im Züricher Archiv tragen Spuren einer gründlichen Lektüre des Schriftstellers. So kann auf diese Weise nicht nur ermittelt werden, welche Quellen literarischer und anderer Herkunft Thomas Mann benutzte, nachvollziehbar ist auch - freilich nur bis zum gewissen Grade - der Prozeß seiner geistigen Auseinandersetzung mit den benutzten Quellen, was für ein tieferes Verständnis seiner Werke nicht ohne Bedeutung sein dürfte.
Die große Dostojewski-Ausgabe des Insel-Verlages, andere Dostojewski-Editionen sowie auch Veröffentlichungen über Dostojewski, die sich in seiner Bibliothek befinden, hat Thomas Mann "mit dem Bleistift" gelesen. Sie enthalten zahlreiche Anmerkungen und Anstreichungen des Schriftstellers. Anhand dieser Notizen ist nachweisbar, daß Thomas Mann insbesondere die "Karamazov"- wie auch die "Besy"-Bände der Insel-Ausgabe für seinen "Faustus" - Roman verwendete. Es ist auch evident, daß insbesondere das Teufelskapitel der "Karamazovs" das starke Interesse Thomas Manns gefunden hat. Mehrere Passagen dieses Dostoevskijsehen Textes sind angestrichen, einige von ihnen versah Thomas Mann mit Anmerkungen, so etwa die folgende Passage, an deren Rand er den Namen Goethes notierte: "Als Mephistopheles bei Faust erschien, bezeugte er von sich, daß er das Böse wolle, aber nur das Gute tue. Nun, wie er das will, mit mir ist das aber durchaus umgekehrt. Ich bin vielleicht der einzige Mensch in der ganzen Natur, der die Wahrheit liebt und aufrichtig das Gute will. Ich war dabei, als das am Kreuze verschiedene 'Wort' zum Himmel auffuhr, in seinen Armen haltend die Seele des ihm zur Rechten gekreuzigten Räubers."(16)
Von diesem empirischen Material her läßt sich mit großer Sicherheit darauf schließen, daß Thomas Mann das Teufelsgespräch aus den "Karamazovs" bewußt und ganz gezielt für seine Teufelsgespräche, namentlich für das Zwiegespräch Adrian Leverkühns mit dem Teufel im 25. Kapitel des "Faustus"-Romans herangezogen hat. Daß er Dostoevskijs Text aufmerksam studierte, steht außer Zweifel. In dem autobiographischen Essay "Die Entstehung des Doktor Faustus" ist davon die Rede, "Iwan Karamasows Teufelsvision gehörte auch zu meiner Lektüre von damals", erinnert sich Thomas Mann. "Ich las die Szene mit der distanzierten Aufmerksamkeit nach, mit der ich Salammbo wieder durchgegangen war, bevor ich den Joseph zu schreiben begann."(17) Freilich war Dostoevskij nicht der
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einzige Autor, von dem sich Thomas Mann für die Darstellung seiner Teufelsszenen anregen ließ. Im Autobiographischen Selbstbericht erwähnt Thomas Mann Flauberts "Saint Antoine" und Stevensons "Dr. Jekyll und Mr. Hyde", die er gelesen habe, seine Gedanken bereits auf dem Faust-Mephisto-Stoff richtend.(18) Doch scheint die Wirkung Dostoevskijs besonders stark gewesen zu sein, blickt man auf die deutlichen Spuren, die die geistige Begegnung Thomas Manns mit Dostoevskijs "Karamazovs" in seinem Romantext hinterlassen hat. Dabei wird freilich immer daran zu denken sein, daß schöpferische Auseinandersetzung bedeutender Autoren mit vorgefundenem literarischen Material in den seltensten Fällen bloße Übernahme, als vielmehr Transformation dieses Materials im Sinne des Einschmelzens des "Fremden" in das "Eigene" bedeutet. So steht denn auch bei Thomas Mann am Ende seines Rückgriffes auf das Teufelsgespräch in den "Brat"ja Karamazovy" weniger das Gemeinsame in der literarischen Bewältigung dieser Thematik als vielmehr das Unterschiedliche, in dem sich seine künstlerischen Individualität auf unverwechselbare Weise manifestiert. Freilich sind bestimmte Gemeinsamkeiten nicht zu übersehen. Es ist Georgij Fridlender beizupflichten, der zu Recht feststellt: "Iz vsech d'javol'skich obrazov mirovoj literatury èert Ivana bliže vsego k èertu Adriana."(19) Tatsächlich vermag der Teufel, der Adrian Leverkühn besucht, seine Herkunft aus der russischen Provinz nie ganz abzustreifen, selbst wenn er noch so viele altdeutsche Brocken in seine Rede mischt. "Jemand sitzt im Dämmer auf dem Roßhaarsofa"(20), so registriert Adrian die Präsenz des Teufels, und Iwan nimmt ihn so wahr: "Und so saß er denn ... und er starrte hartnäckig auf irgendeinen Gegenstand auf dem Sofa an der gegenüberliegenden Wand. Es schien ihm plötzlich, als sitze da irgendwer..."(21) Auch im äußeren Aussehen stehen sich die beiden Teufel ziemlich nahe. So beschreibt Dostoevskij den Gesprächspartner Ivans: "Er hatte eine braune Jacke an, die augenscheinlich von dem besten Schneider stammte, aber vertragen war, etwa vor zwei Jahren angefertigt und schon völlig aus der Mode gekommen. Zwei Jahre trug kein Weltmann mehr solche Kleidung ... Mit einem Worte, er hatte den Anschein, ein ordentlicher Mensch zu sein bei geringen Mitteln." (22) Adrians Teufel trägt eine karierte Jacke mit zu kurzen Ärmeln, "röhrig knapp sitzende Hose und gelbe, vertragene Schuhe, die man nicht länger putzen kann. Ein Strirzi. Ein Ludewig."(23) Beide Teufel sind eklige Pseudo-Gentleman-Figuren, frei von jeglicher Größe und mit ausgesprochenen Alltagszügen, völlig verweltlicht und ganz integriert in die soziale Umwelt, in der die eigentlichen literarischen Helden - Ivan und Adrian - agieren. Ihre naturgemäß zeugenlosen Unterhaltungen mit dem Teufel werden von einem erfundenen Dritten berichtet. Den ganzen "Karamazov"-Roman erzählt ein Mitbewohner der Kleinstadt, in der die Ereignisse vor sich gehen; das Leben des Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt sein Freund Serewus Zeitblom. Das Dazwischenschalten eines Mediums (des Freundes, des Chronisten), eines Dritten, der die Ereignisse erzählt, verlagert das Dämonische ins Indirekte, was der Intention beider Autoren entgegenkommt, die Teufelserscheinungen, die ja irrational und legendär sind, nach einem gewissen Zögern vernunftgemäß zu erklären. Dostoevskij wie Thomas Mann begründen ihre Teufelsgestalten rational, sogar pathologisch. Von Dostoevskij ist bekannt, daß er zu dem Romankapitel, in dem der Teufel Iwan besucht, die Meinung der Ärzte eingeholt hat. Nicht uninteressant ist deshalb in diesem Zusammenhang, daß Thomas Mann Dostoevskijs Brief vom 19. 12. 1880 an den Arzt
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A.F. Blagonravov, in dem er um genaue Auskünfte über psychische Krankheiten nachsucht, sehr genau studiert hat. Dies belegen die Anstreichungen Thomas Manns zu diesem Brief, der in dem Briefband Dostoevskijs zu finden ist, den Thomas Mann persönlich besaß.(24)
Gemeinsames wie Unterschiedliches in der künstlerischen Gestaltung des Dämonischen bei Dostoevskij und bei Thomas Mann tritt vielleicht noch deutlicher zutage, wenn wir es aus literaturtheoretischer Sicht zu fassen suchen. Setzt man die Teufelserscheinungen bei beiden Dichtern zueinander in Beziehung, so stellt sich zwangsläufig die
Doppelgängerproblematik im epischen Werk unserer Autoren. In kaum einem anderen Erzählwerk Dostoevskijs oder Thomas Manns manifestiert sich das Doppelgängermotiv so deutlich wie in den "Brat'ja Karamazovy" oder im "Doktor Faustus"-Roman. Aus der seelischen Zwiespältigkeit Iwans beziehungsweise Adrians erwachsen ihre Doppelgänger, in der Auseinandersetzung mit ihnen findet das Doppelgängermotiv seinen sinnfälligen Ausdruck. Es wird von beiden Autoren dazu genutzt, innere, unsichtbare Kräfte und Antriebe im Menschen sichtbar zu machen. So bietet gerade dieser motivtheoretische Ansatz gute Möglichkeiten, Affinität und Unterschiedlichkeit der beiden Teufelserscheinungen bei Dostoevskij und Thomas Mann aufzuhellen.
Bei der theoretischen Erörterung des Doppelgängerbegriffs wird seit einiger Zeit mit dem Blick auf typologische Strukturen von Doppelgängergestalten immer stärker zwischen dem
adversativen und kopulativen Darstellungsprinzip unterschieden.(25) Meint das erstere literarische Figuren, die dadurch entstehen, daß sich eine Persönlichkeit spaltet und danach in zwei entgegengesetzten, einander wiedersprechenden Typen fortexistiert, ist das zweite Prinzip damit beschrieben, daß sich eine literarische Gestalt verdoppelt, beziehungsweise vervielfältigt. Das geschieht zum Beispiel häufig in Spiegelbildern. Die zentrale Gestalt setzt sich mit der Welt und mit sich selbst nicht mehr nur im Bereich des seelischen Innenlebens auseinander, der innere Zwiespalt dieser Persönlichkeit manifestiert sich nunmehr auch in einer selbständig handelnden Figur, die als eine Bezugfigur zum Helden existiert und diesen im Rahmen der epischen Handlung in reale Auseinandersetzungen verwickelt. Weltliterarisch bedeutsame Doppelgängertypen machen sinnfällig, daß diese Figuren von ihren Schöpfern sehr oft in einer bestimmten Absicht angelegt werden: sie steigern die verschiedenen inneren Entwicklungsmöglichkeiten des literarischen Helden bis ins Extreme.
Dostoevskij gestaltet bekanntlich das Phänomen des Doppelgängertums ("dvojnièestvo") sowohl nach dem adversativen als auch nach dem kopulativen Prinzip. Schon die Figur des Goljadkin aus der Erzählung "Dvojnik" (1846) , in der Dostoevskij erstmals in seinem Schaffen das Doppelgängermotiv in einer einfachen Variante objektivierte, verdeutlicht die wirkungsstrategische Absicht des Autors. Er führt parallele Doppelgängerfiguren in das epische Geschehen ein, um an ihnen - und das ist für Dostoevskijs Schaffensmethode sehr charakteristisch - philosophische Ideen, theoretisches und praktisches Lebensverhalten zu überprüfen. Doppelgängertypen sind konstitutive Momente der polyphonen Welt des Dostoevskijsehen Erzählens, und es versteht sich fast von selbst, daß Dostoevskij seine Doppelgängergestalten an solche
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Begebenheiten im Leben seiner literarischen Helden bindet, die für deren Verhalten wesentlich sind.(26)
Die innere Welt von Ivan Karamazov wie auch von Adrian Leverkühn erschließt sich in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit am deutlichsten im Dialog mit ihren "teuflischen" Gesprächspartnern. In den "Brat'ja Karamazovy" tritt der Teufel erst am Ende des Romans auf. Vorher ist sein Erscheinen auch nicht notwendig, da sich Charaktere und Ereignisse im epischen Geschehen ganz in seinem Sinne entwickeln. Der Teufel greift also erst in der letzten Phase des inneren Ringens Ivans in die Handlung ein, just zu dem Zeitpunkt, als Ivan von seiner Lebensphilosophie abrücken will. Voller Entsetzen beginnt dieser nämlich zu ahnen, daß er mit seiner Theorie des "Alles ist erlaubt" den Mörder seines Vaters Smerdjakov, zur Tat ermuntert hat. Ivans Worte "Du wirst mich nicht in Ekstase versetzen, wie das letztemal ... Ich sehe dich bisweilen gar nicht und höre sogar nicht einmal deine Stimme, wie auch das letztemal ..."(27) deuten aber darauf hin, daß sein "Gast" ihm bekannt ist und daß sie sich nicht zum ersten Mal sehen. Ivans innere Verfassung ist seit längerem für die teuflischen Inspirationen prädestiniert. Seine progressierende Krankheit, das Nervenfieber, rechtfertigt äußerlich diese Teufelshalluzinationen.
Der Teufel Ivans ist sein "domašnyj èert", sein "Hausteufel", der im Prinzip Ivan nichts Neues zu sagen hat und selbst zugeben muß, daß er nur gibt, "was er kann". "Du bist meine Halluzination", so charakterisiert Ivan seinen Gesprächspartner. "Du bist die Verkörperung meiner selbst, von mir selber, übrigens nur einer Seite von mir ... von meinen Gedanken und Gefühlen, freilich nur von den allerekligsten und dümmsten."(28) Der Teufel als ein Teil Ivans kann im Gespräch keine neuen, bedeutenden Positionen setzen. Der Disput Ivans mit dem Teufel gestaltet sich zu einem intellektuellen Duell, bei dem der Teufel zwar die geistige Existenz Ivans vernichtet, aber nicht verhindern kann, daß Ivan kurz vor seinem erschütternden Zusammenbruch noch einmal argumentativ alles das gegen den Teufel ins Feld führt, was das ganze Ausmaß seiner menschenfeindlichen Ideologie offenbart.
An diese dichterische Lösung, in die geistigen Kämpfe einer intellektuellen Persönlichkeit einzuführen,.so wie sie Dostoevskij in den "Brat" ja Karamazovy" anbot, knüpft Thomas Mann im "Faustus"-Roman an. In der Teufelsvision ähnlich der Ivan Karamazovs schließt Adrian Leverkühn den Pakt mit dem Teufel. Die syphilitische Ansteckung und deren Krankheitsverlauf markieren dabei nur die Merkmale und Etappen des Teufelspaktes, der schon durch Adrians Wesen und seine Entwicklung vorherbestimmt war. Bei Abschluß des Paktes erscheint der Teufel Adrian Leverkühn als solcher, ohne sich wie früher hinter der Maske zu verstecken oder in einer anderen, sein Wesen verschleiernden Erscheinungsform aufzutreten.
In dem Gespräch Adrians mit dem Teufel verrät dessen Äußeres nichts, was ihn als "Herrn der Hölle" von vornherein ausgeben würde. Aber das ist auch gar nicht erforderlich, denn der Besucher Adrians ist ein sehr moderner Teufel, eine Schöpfung
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des 20. Jahrhunderts. Er ist nicht daran interessiert, seinen Paktpartner auf den Geist der Kritik, des Zweifels und der Negation zu verweisen, sondern er setzt ihm ein fertiges Ideal vor, das sich auf der Absage an die Kritik, an die Vernunft gründet. Auch dieser Teufel ist, wie bei Ivan Karamazov, ein Teil Adrian Leverkühns, aber auch zugleich eine metaphorische Umschreibung von gesellschaftlichen Kräften und ideologischen Tendenzen - etwa des Faschismus -, die außerhalb der geistigen und sozialen Welt des Helden liegen. Der Teufel versinnbildlicht eine innere Stimme Adrians, die ihn in eine bestimmte Richtung lenken will. Im Disput mit dem Teufel tritt gewissermaßen diese Stimme aus Leverkühn heraus, sie objektiviert eine Möglichkeit seines Wesens, die schon lange in ihm schlummert und nunmehr ausbrechen kann, eine Stimme, der er, freilich mit innerem Widerstand, folgen wird, gegen die er sich auflehnt, mit der er sich immer auseinandersetzen wird.
Der grundsätzliche Unterschied zum Teufel Ivan Karamazovs liegt bei Thomas Mann vor allem darin, daß der Autor ihn mit einer viel zentraleren Aufgabe betraut. Wir erinnern an den bereits ztierten Brief Thomas Manns an Walter-Landau vom 7. 3. 1950, in dem vom Teufel des "Doktor-Faustus"-Romans als von einem "Engel des 'Giftes'", als von einem "Versucher" und "Enthemmer" die Rede ist. In der Tat sieht Thomas Mann im Teufelspakt eine "enthemmende, beschwingende, erhöhende, genialisierende Wirkung".(29) Damit erhält das teuflische Werk eine positive Tendenz, und es symbolisiert die produktiven Kräfte, die möglicherweise den Menschen zu höchsten Leistungen auf allen Gebieten des Lebens befähigen.
Die Aufwertung des Teufels in Thomas Manns Roman kommt auch darin zum Ausdruck, daß der Teufel als "Musikintelligenzler" Adrian Leverkühn auf die Notwendigkeit hinweist, er müsse sich als Komponist seiner musikalischen Ausdrucksmittel bedienen, um in der Entwicklung der Kunst weiterzukommen. Hatten wir bei Dostoevskijs Teufel konstatiert, daß er Ivan nichts Neues zu sagen hatte, so ist es bei Thomas Mann eben anders. Wenn es um konkrete Paktbedingungen geht, so läßt der Teufel nicht mit sich handeln. Adrian Leverkühn hat keine Wahl, keine Entscheidungsfreiheit mehr, er muß die Bedingungen des Teufelsbündnisses akzeptieren. So erreicht der Teufel, dieses zweite "Ich" Adrians, zwar die Zurücknahme der 9. Symphonie, womit Adrian den Teufel einen entscheidenden Dienst erweist, aber der Teufel kann die Leverkühnsche Katharsis nicht verhindern. Im Unterschied zu Ivan Karamasov, der in der Stunde seines Falls keine Gedanken nach vorn zu formulieren vermag, findet Adrian in seiner Abschiedsrede die Kraft, aus der radikalen Verwerfung seines eigenen Lebens und Wirkens metaphorisch auf einen möglichen Ausweg aus der Krise der Kunst und die dazu erforderlichen Bedingungen hinzuweisen: "Wem also der Durchbruch gelänge aus eisiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls, ihn sollte man wohl den Erlöser der Kunst nennen ... die Kunst (wird) bald völlig allein sein, zum Absterben allein sein, es sei denn, sie fände den Weg zum 'Volk1, das heißt, um es unromantisch zu sagen: zu den Menschen."(30) So erfüllt im Unterschied zu Dotoevskijs Teufel Thomas Manns Teufelsfigur eine dialektische Funktion. Die teuflische Erscheinung des "Doktor Faustus" brigt sowohl Positives wie Negatives in sich, die nicht voneinander
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zu trennen sind. Dadurch erhält das Teufelsgespräch im Roman eine Dimension, die es Thomas Mann erlaubt, den faszinierenden geistigen Reichtum in seiner Gebundenheit und Unerschöpflichkeit ins Bewußtsein zu heben.
Wenn auch das Fazit dieser kurzen Betrachtungen darin zu sehen sein dürfte, daß beim Vergleich der Teufelsgestalten in den beiden Spätwerken Dostoevskijs und Thomas Manns das Unterschiedliche eindeutig dominiert, daß sich der Teufel Thomas Manns entsprechend seiner Punktion in der Ideensyntax des "Doktor Faustus"-Romans wesentlich vom Teufel Dostoevskijs unterscheidet, so ist er doch ohne den Prototyp aus den "Brat'ja Karamazovy" nicht zu denken. Zwar besitzen die jeweiligen Teufel für die Entwicklung der literarischen Haupthelden, deren Teil sie darstellen, eine differenzierte Bedeutung, und doch manifestiert sich in ihnen augenfällig ein innerliterarischer Zusammenhang, das "Gesetz der literarischen Vererbung", dem - wie Maksim Gor'kij seinerzeit formulierte - alle Schriftsteller unterworfen seien.(31)
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